VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 23.01.2013 - 15 K 188.12 - asyl.net: M20547
https://www.asyl.net/rsdb/M20547
Leitsatz:

Das für die rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erforderliche schutzwürdige Interesse liegt schon dann vor, wenn es für die weitere aufenthaltsrechtliche Stellung erheblich sein kann, von welchem Zeitpunkt an der Ausländer den Aufenthaltstitel besitzt; ein konkretes Erteilungsinteresse ist nicht notwendig.

Schlagwörter: rückwirkende Erteilung, schutzwürdiges Interesse, Aufenthaltstitel, Aufenthaltserlaubnis, Erteilungsinteresse, Rechtsschutzinteresse,
Normen: AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. nur Urteil vom 9. Juni 2009 - 1 C 7.08 - und Beschluss vom 2. September 2010 - 1 B 18.10 -, beide juris) kann die Erteilung eines Aufenthaltstitels für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum nach der Antragstellung beansprucht werden, wenn der Ausländer daran ein schutzwürdiges Interesse hat. Dies gilt unabhängig davon, ob der Aufenthaltstitel für einen späteren Zeitraum bereits erteilt worden ist oder nicht. Ein schutzwürdiges Interesse liegt vor, wenn es für die weitere aufenthaltsrechtliche Stellung erheblich sein kann, von welchem Zeitpunkt an der Ausländer den begehrten Aufenthaltstitel besitzt.

Die auf eine Entscheidung des OVG Bautzen (Beschluss vom 10. März 2011 – 3 D 196/10 –, juris) gestützte Ansicht des Beklagten, die rein theoretische Möglichkeit, dass die Besitzdauer irgendwann einmal Bedeutung erlangen könnte, sei insoweit nicht ausreichend; ein schutzwürdiges Rechtsschutzinteresse sei vielmehr erst dann anzuerkennen, wenn sich die Bedeutung der Frage nach der Besitzdauer so konkretisiert haben, dass deren Klärung für eine anstehende Entscheidung über das weitere aufenthaltsrechtliche Schicksal des Klägers maßgeblich sei, teilt das Gericht nicht. Sie findet in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts keine Stütze. Vielmehr hat es das Bundesverwaltungsgericht zur Bejahung des stets betonten Erfordernisses, dass die Entscheidung über die rückwirkende Erteilung des Aufenthaltstitels für die weitere aufenthaltsrechtliche Rechtsstellung erheblich sein kann und nicht "ist", wie das OVG Bautzen in der benannten Entscheidung fälschlich zitiert, konsequenterweise verschiedentlich dabei belassen, die in Betracht kommende "Verfestigungsnorm" schlicht zu zitieren (vgl. etwa BVerwG, Urteile vom 15. Juli 1997 – 1 C 15/96 – und vom 29. September 1998 – 1 C 14/97 –, beide juris), ohne es für nötig befunden zu haben, zur Frage des Rechtsschutzinteresses darüber hinausgehende einzelfallbezogene Umstände überhaupt nur zu erwähnen. Entsprechend hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf ein Äußerungsersuchen des Bundesverfassungsgerichts in der den Beteiligten bekannten Stellungnahme vom 19. März 2012 (1 St 1. 12) ausdrücklich bestätigt, in seiner Rechtsprechung zum schutzwürdigen Interesse an der Erteilung von Aufenthaltstiteln für die Vergangenheit nicht verlangt zu haben, dass die begehrte Entscheidung für bereits konkret anstehende weitere aufenthaltsrechtliche Entscheidungen von Bedeutung sein müsse. Dieser Befund lässt keinen Raum für die vom Beklagten postulierten strengeren Anforderungen. Bezeichnenderweise finden sich auch in dem hierzu herangezogenen – vom Bundesverfassungsgericht kassierten (BVerwG, Beschluss vom 22. Mai 2012 – 2 BvR 820/11 –, juris) – Beschluss des OVG Bautzen weder Rechtsprechungszitate noch inhaltliche Argumente für die These einer erforderlichen Konkretisierung des Erteilungsinteresses. Im Gegenteil könnte sogar eher fraglich sein, ob ein Rechtsschutzinteresse insoweit auch dann noch besteht, wenn die Entscheidung über die Aufenthaltsverfestigung konkret ansteht. Denn in diesem Zusammenhang vertritt das Bundesverwaltungsgericht die Auffassung, es genüge in diesem Verfahrensstadium inzident festzustellen, dass auf der Grundlage eines früheren Antrages für den damaligen Zeitraum ein Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bestanden habe; einer ausdrücklichen Erteilung einer befristeten Erlaubnis für die fragliche Zeit bedürfe es zur Annahme der erforderlichen Verfestigungsdauer indes nicht, weil dies auf eine reine Förmlichkeit hinauslaufen würde (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. September 1998, a.a.O.). Wenn die höchstrichterliche Rechtsprechung trotz dieser Möglichkeit, im Ergebnis auch ohne ausdrückliche rückwirkende Erteilung der Aufenthaltserlaubnis Anspruchszeiten bei der Entscheidung über die Verfestigung des Aufenthalts gutgeschrieben zu bekommen, Rechtsschutz für eine rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis eröffnet, so erkennt sie damit ersichtlich das nahe liegende Interesse des betroffenen Ausländers an, bereits frühzeitig Klarheit darüber zu gewinnen, wann die erforderliche Aufenthaltszeit für eine weitere Verfestigung seines Aufenthalts erreicht sein wird, und damit nicht möglicherweise jahrelang auf Spekulationen angewiesen zu sein.

Schließlich ist auch nicht erkennbar, dass diesem schützenswerten Interesse erhebliche verwaltungstechnische Belange entgegenstehen könnten. Vielmehr erscheint es aus Behördensicht deutlich effizienter, in engem zeitlichen Zusammenhang mit einer letztlich erfolgreichen Beantragung der Aufenthaltserlaubnis verbindlich den Zeitpunkt des Gültigkeitsbeginns festzulegen, statt dies später unter Begutachtung gegebenenfalls Jahre zurückliegender Umstände nachholen zu müssen. Dass damit ein deutlicher Zusatzaufwand verbunden wäre, ist ebenfalls nicht erkennbar oder vorgebracht. Demgegenüber fällt nicht durchgreifend ins Gewicht, dass die vergangenheitsbezogene Erteilung des fraglichen Aufenthaltstitels schlussendlich nur in einem Teil der Fälle von Bedeutung sein wird. [...]