OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.01.2013 - 19 A 364/10 (= ASYLMAGAZIN 6/2013, S. 218 ff.) - asyl.net: M20417
https://www.asyl.net/rsdb/M20417
Leitsatz:

Von den Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 und 7 StAG wird nach § 10 Abs. 6 StAG schon dann abgesehen, wenn der Ausländer sie im Einbürgerungszeitpunkt wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung oder altersbedingt nicht erfüllen kann. Ob er in der Vergangenheit liegende Versäumnisse beim Spracherwerb zu vertreten hat, ist unerheblich.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Behinderung, Krankheit, chronische Erkrankung, Schwerbehinderung, Spracherwerb, Deutschkenntnisse, Einbürgerung, ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache, Vertretenmüssen,
Normen: StAG § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 6, StAG § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 7, StAG § 10 Abs. 6,
Auszüge:

[...]

Die Klägerin hat einen Anspruch auf die Einbürgerung, weil sie die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG erfüllt bzw. soweit sie sie nicht erfüllt von den Voraussetzungen abzusehen ist. Sie hat seit mehr als acht Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland und ist handlungsfähig im Sinne von § 80 AufenthG. Mit der Niederlassungserlaubnis besitzt sie einen unbefristeten Aufenthaltstitel im Sinne des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StAG (vgl. § 9 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Die Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB XII hat sie auch nach Auffassung der Beklagten nicht zu vertreten (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG). Von der Voraussetzung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StAG (Aufgabe oder Verlust der bisherigen Staatsangehörigkeit) ist im Fall der Klägerin, der als Asylberechtigte ein entsprechender Reiseausweis ausgestellt wurde, gemäß § 12 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 6 StAG abzusehen. Dass die Klägerin zudem die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 5 StAG erfüllt, ist zwischen den Beteiligten ebenfalls nicht streitig.

Dass die Klägerin nicht über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache im Sinne von § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 StAG verfügt, ist unschädlich. Denn nach § 10 Abs. 6 StAG wird von den Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 und 7 StAG abgesehen, wenn der Ausländer sie wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung oder altersbedingt nicht erfüllen kann. Hierfür ist allein entscheidend, ob die Hinderungsgründe im Zeitpunkt der Einbürgerung vorliegen. Versäumnisse hinsichtlich des Erwerbs der maßgeblichen Kenntnisse in der Vergangenheit werden nicht berücksichtigt (vgl. VG Stuttgart, Urteil vom 2. Dezember 2011 11 K 839/11 , InfAuslR 2012, 135 ff., juris Rdn. 31; Berlit, in: GK-StAR, Bd. 1, Stand: Juli 2012, § 10 StAG Rdn. 406 und 409; Geyer, in: HK-AuslR, 2008, § 10 StAG Rdn. 23; Sachsenmaier, HTK-StAR/§ 10 StAG/zu Abs. 6, 05/2012).

Dafür sprechen der Wortlaut des § 10 Abs. 6 StAG (1.), die historische und genetische (2.) sowie die systematische Auslegung (3.). Der Sinn und Zweck der Einbürgerung steht dieser Auslegung nicht entgegen (4.).

1. Nach dem Wortlaut des § 10 Abs. 6 StAG kommt es hinsichtlich der Frage, ob der Ausländer die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 und 7 StAG wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung oder altersbedingt nicht erfüllen kann, nur auf den Zeitpunkt der Einbürgerung an. Der maßgebliche zweite Halbsatz des § 10 Abs. 6 StAG steht im Präsens. Dies zeigt auf, dass die gegenwärtige Situation entscheidend ist. Hätte der Gesetzgeber darüber hinaus auch berücksichtigt wissen wollen, ob der Ausländer es in der Vergangenheit versäumt hat, sich die entsprechenden Kenntnisse anzueignen, hätte eine dahingehende ausdrückliche Regelung nahe gelegen.

2. Für die Annahme, dass im Rahmen des § 10 Abs. 6 StAG frühere Versäumnisse hinsichtlich des Erwerbs der entsprechenden Kenntnisse unbeachtlich sind, sprechen des Weiteren die genetische und historische Auslegung. § 10 Abs. 6 StAG wurde durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I, S. 1970 ff.) eingefügt. In der Begründung des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung ist dazu ausgeführt:

"Der neue Absatz 6 enthält Ausnahmeregelungen im Hinblick auf die Sprachkenntnisse und die Kenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in Deutschland zugunsten von kranken, behinderten Personen und Personen, die diese Anforderungen aufgrund ihres Alters nicht mehr erfüllen können" (BT-Drucks. 16/5065, S. 229).

Diese Begründung macht deutlich, dass der Gesetzgeber im Hinblick auf § 10 Abs. 6 StAG (nur) die gegenwärtigen und zukünftigen Möglichkeiten der die Einbürgerung beantragenden Ausländer in den Blick genommen hat ("nicht mehr erfüllen können" – Hervorhebung durch den Senat). Auf frühere Versäumnisse der Ausländer hinsichtlich des Erwerbs der in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 und 7 StAG genannten Kenntnisse hat er dagegen nicht abgestellt.

Bestätigt wird dies durch die Stellungnahme der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes des Bundesrates vom 25. April 2007 (BT-Drucks. 16/5107). In dieser Stellungnahme wird die vom Bundesrat vorgeschlagene Ermessensregelung in § 10 Abs. 6 StAG ausdrücklich abgelehnt, da bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen kein Raum mehr für ein Ermessen der Staatsangehörigkeitsbehörde bleibe. Aus der weiteren Begründung dieser Ablehnung wird deutlich, dass ausschließlich die gegenwärtige Fähigkeit des Einbürgerungsbewerbers, die entsprechenden Kenntnisse nachzuweisen, als maßgeblich angesehen wurde:

"Wenn der Einbürgerungsbewerber aufgrund seiner Behinderung oder seiner altersbedingten Beeinträchtigung den Nachweis ausreichender Sprachkenntnisse oder der staatsbürgerlichen Kenntnisse nicht erbringen kann, muss zwingend von diesen Voraussetzungen abgesehen werden" (BTDrucks. 16/5107, S. 13 f.).

Für die Frage, ob sich ein Ausländer Versäumnisse beim Erwerb der deutschen Sprache in der Vergangenheit im Rahmen des § 10 Abs. 6 StAG entgegen halten lassen muss, lässt sich entgegen der Auffassung der Beklagten aus der Vorgängerregelung nichts herleiten. Die Auffassung der Beklagten, mit der Überführung des Tatbestandsmerkmals der Sprachkenntnisse in § 11 StAG in der ab dem 1. Januar 2005 geltenden Fassung des Art. 5 des Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl. I, S. 1950 ff.) im Folgenden: StAG a. F. in § 10 StAG habe keine (materielle) Änderung der bis dahin geltenden Rechtslage vorgenommen werden sollen, trifft nicht zu. Es sind vielmehr verschiedene Änderungen erfolgt. Insbesondere sind die Anforderungen an ausreichende Sprachkenntnisse in § 10 Abs. 4 StAG strenger als die vom Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 20. Oktober 2005 5 C 8.05 (BVerwGE 124, 268 ff, juris Rdn. 15) aufgestellten Anforderungen definiert. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erforderten "angemessene Kenntnisse der deutschen Sprache" keine aktiven Kenntnisse der deutschen Schriftsprache. Nunmehr werden nicht nur Sprachkenntnisse in mündlicher Form und Lese-, sondern in gewissem Maße auch Schreibkenntnisse verlangt. Eine Ausnahmevorschrift wie die des § 10 Abs. 6 StAG sah das StAG a. F. nicht vor. Lediglich nach Nr. 86.1.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Staatsangehörigkeitsrecht vom 13. Dezember 2000 (BAnz. 2001, S. 1418 ff.), auf die auch nach dem 1. Januar 2005 im Hinblick auf die Sprachanforderungen in § 11 StAG a. F. zurückgegriffen wurde (vgl. Hailbronner, in: Hailbronner/Renner, Staatsangehörigkeitsrecht, 4. Auflage 2005, § 11 StAG Rdn. 4), war auf Behinderungen, die dem Einbürgerungsbewerber das Lesen oder Sprechen nachhaltig erschwerten, Rücksicht zu nehmen. Damit ist die nunmehr geltende Regelung in Bezug auf die in § 10 Abs. 6 StAG geregelten Ausnahmen von den Sprachanforderungen günstiger als das frühere Recht (vgl. Berlit, in: GK-StAR, Bd. 1, Stand: Juli 2012, § 10 StAG Rdn. 323).

Dies zeigt, dass § 10 StAG einerseits gegenüber den früheren Anforderungen ein höheres Niveau hinsichtlich der erforderlichen deutschen Sprachkenntnisse verlangt, andererseits aber nunmehr eine Ausnahme im Hinblick auf diese Sprachkenntnisse vorsieht. Im Regelungssystem des § 10 StAG kompensiert die Ausnahme für den begünstigten Personenkreis die von den Einbürgerungsbewerbern verlangten höheren Sprachanforderungen. Auch dies spricht dagegen, an die Auslegung des § 10 Abs. 6 StAG strenge, seinen Anwendungsbereich einschränkende Maßstäbe anzulegen. [...]

3. Bei der Betrachtung der Systematik des Gesetzes zeigt insbesondere der Vergleich mit § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG, dass der Gesetzgeber es im Wortlaut des Gesetzestexts ausdrücklich kenntlich macht, wenn hinsichtlich der Einbürgerungsvoraussetzungen zu berücksichtigen ist, ob der Ausländer deren Fehlen (nicht) zu vertreten hat. Gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG ist eine Voraussetzung für die Einbürgerung, dass der Ausländer den Lebensunterhalt für sich und seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen ohne Inanspruchnahme von Leistungen nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch bestreiten kann oder deren Inanspruchnahme nicht zu vertreten hat. Auf eine entsprechende Klarstellung oder Ergänzung des § 10 Abs. 6 StAG hinsichtlich früherer Versäumnisse des Erwerbs von Kenntnissen der deutschen Sprache sowie der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in Deutschland hat der Gesetzgeber verzichtet. Daraus ist zu schließen, dass insofern ausschließlich zugrunde zu legen ist, ob der Ausländer im Zeitpunkt der Einbürgerung aus den in § 10 Abs. 6 StAG genannten Gründen die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 und 7 StAG nicht erfüllen kann.

Eine Regelung wie in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG ist nicht wie die Beklagte meint deshalb entbehrlich, weil eine körperliche, geistige oder seelische Krankheit oder Behinderung oder das Alter in den seltensten Fällen zu vertreten sind. Denn es geht nicht um die Frage, ob einer der in § 10 Abs. 6 StAG genannten Gründe zu vertreten ist, sondern darum, ob der frühere Nichterwerb der deutschen Sprachkenntnisse und der staatsbürgerlichen Kenntnisse vom Einbürgerungsbewerber zu vertreten ist. Dass die Unfähigkeit zum Erwerb dieser Kenntnisse etwa durch eine plötzlich auftretende Krankheit, eine unfallbedingte Behinderung oder dem Nachlassen der körperlichen und geistigen Fähigkeiten aufgrund fortschreitenden Alters nach längerem Aufenthalt im Bundesgebiet eintreten kann, war dem Gesetzgeber als selbstverständlich bekannt. Gleichwohl hat er darauf verzichtet, im Rahmen der Ausnahme des § 10 Abs. 6 StAG ähnlich wie in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG auf ein Vertretenmüssen des Ausländers abzustellen. [...]