1. Auslandsaufenthalte führen nicht zum Erlöschen des Aufenthaltstitels nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG, wenn sie nach ihrem Zweck typischerweise zeitlich begrenzt sind und keine wesentliche Änderung der gewöhnlichen Lebensumstände in Deutschland mit sich bringen; maßgeblich sind die objektiven Umstände des Falles.
2. Ein Ausländer, der außerhalb Deutschlands nicht nur einen begrenzten Teil seiner Ausbildung absolviert, sondern ein vollständiges Hochschulstudium, verlässt das Land aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund (§ 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG).
(Amtliche Leitsätze)
[...]
2.1 Die Klage auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ist zulässig; insbesondere fehlt dem Kläger nicht das Rechtsschutzinteresse an der gerichtlichen Geltendmachung seines Begehrens. Denn die ihm zuvor erteilten Aufenthaltstitel vom 13. Oktober 2003 und 26. September 2005 sind erloschen.
Die unbefristete Aufenthaltserlaubnis vom 13. Oktober 2003, die gemäß § 101 Abs. 1 Satz 2 AufenthG als Niederlassungserlaubnis fortgegolten hat, ist im Jahre 2005 gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG - zuvor § 44 Abs. 1 Nr. 3 AuslG - erloschen. Der Kläger hat die ihm von der Ausländerbehörde auf Antrag eingeräumte Rückkehrfrist (25. April 2005) nicht eingehalten, sondern um fünf Monate überschritten.
Auch die Niederlassungserlaubnis vom 26. September 2005 entfaltet keine Rechtswirkungen mehr. Nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG erlischt ein Aufenthaltstitel, wenn der Ausländer aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund ausreist. Unschädlich im Hinblick auf diese Vorschrift sind lediglich Auslandsaufenthalte, die nach ihrem Zweck typischerweise zeitlich begrenzt sind und die keine wesentliche Änderung der gewöhnlichen Lebensumstände in Deutschland mit sich bringen. Fehlt es an einem dieser Erfordernisse, liegt ein seiner Natur nach nicht vorübergehender Grund vor. Neben der Dauer und dem Zweck des Auslandsaufenthalts sind alle objektiven Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, während es auf den inneren Willen des Ausländers - insbesondere auf seine Planung der späteren Rückkehr nach Deutschland - nicht allein ankommen kann. Als ihrer Natur nach vorübergehende Gründe für Auslandsaufenthalte können danach etwa Urlaubsreisen oder beruflich veranlasste Aufenthalte von ähnlicher Dauer anzusehen sein, ebenso Aufenthalte zur vorübergehenden Pflege von Angehörigen, zur Ableistung der Wehrpflicht oder Aufenthalte während der Schul- oder Berufsausbildung, die nur zeitlich begrenzte Ausbildungsabschnitte, nicht aber die Ausbildung insgesamt ins Ausland verlagern ( Urteil vom 30. April 2009 - BVerwG 1 C 6.08 - BVerwGE 134, 27 Rn. 21; Beschluss vom 30. Dezember 1988 - BVerwG 1 B 135.88 - InfAuslR 1989, 114 m.w.N.; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28. September 2010 - 11 B 14.10 - OVGE BE 31, 156; abweichend zum Schulaufenthalt VGH München, Beschluss vom 2. November 2010 - 10 B 09.1771). Demgegenüber lässt sich eine feste Zeitspanne, bei deren Überschreitung stets von einem nicht mehr vorübergehenden Grund auszugehen wäre, nicht abstrakt benennen. Je weiter sich die Aufenthaltsdauer im Ausland über die Zeiten hinaus ausdehnt, die mit den o.g. begrenzten Aufenthaltszwecken typischerweise verbunden sind, desto eher liegt die Annahme eines nicht nur vorübergehenden Grundes im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG nahe. Jedenfalls erlischt der Aufenthaltstitel nach dieser Vorschrift, wenn sich aus den Gesamtumständen ergibt, dass der Betreffende seinen Lebensmittelpunkt ins Ausland verlagert hat.
Im vorliegenden Fall hat der Kläger in der Zeit von August 2006 bis Mai 2009, also während eines Zeitraums von drei akademischen Jahren, in den USA studiert. Dort hat er nicht lediglich einzelne Abschnitte einer in Deutschland begonnenen oder abgeschlossenen Ausbildung absolviert, sondern ein vollständiges Studium in zwei Fächern durchgeführt, während er in Deutschland lediglich ein kleines Büro für eine gewerbliche Tätigkeit geringen Umfangs vorgehalten hat. Zwar hat er sich während der vorlesungsfreien Zeit immer wieder auch in Deutschland aufgehalten, doch fand etwa seine in denselben Zeitraum fallende Eheschließung in Dänemark statt; seine Ehefrau lebt und arbeitet in Russland. Auch hat er sich während des dreijährigen Auslandsaufenthalts geschäftlich in weiteren Staaten aufgehalten. Diese Umstände bieten keine Grundlage mehr für die Annahme, sein Lebensmittelpunkt habe sich während der gesamten Zeit des Auslandsstudiums noch in Deutschland befunden. Auf die Frage, ob er stets eine dauerhafte Rückkehr nach Deutschland geplant hat - wofür der im Oktober 2009 gestellte Einbürgerungsantrag sprechen mag -, kommt es angesichts des Gewichts der geschilderten objektiven Umstände nicht an.
Das beim Berufungsgericht unter dem Aktenzeichen 19 B 12.265 anhängige Verfahren der - nach Abschluss der Berufungsinstanz erneut eingelegten - Anschlussberufung, mit der sich der Kläger gegen die behördliche Feststellung des Erlöschens der Niederlassungserlaubnis vom 25. September 2005 wendet, ist für den vorliegenden Revisionsrechtsstreit nicht vorgreiflich. Denn selbst wenn man unterstellt, dass dieses Berufungsverfahren zu einer rechtskräftigen Aufhebung von Ziffer 1 des angegriffenen Bescheids führen würde, wäre die Revision insoweit ebenfalls begründet, weil es in diesem Fall an der Zulässigkeit der zu Grunde liegenden Verpflichtungsklage fehlen würde.
2.2 Die Klage auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ist jedoch unbegründet, da der Kläger keinen Anspruch auf diesen Aufenthaltstitel hat.
Ein solcher Anspruch ergibt sich nicht aus § 1 Abs. 1 HumHAG in unmittelbarer Anwendung, weil der Kläger diesen Status nicht erworben hat. Denn jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion wurden auf Grund des Beschlusses der Ministerpräsidentenkonferenz (Besprechung des Bundeskanzlers mit den Regierungschefs der Länder) vom 9. Januar 1991 nicht als verfolgte oder durch ein Flüchtlingsschicksal gekennzeichnete Gruppe aufgenommen. Dies hat der Senat in seinen den Beteiligten bekannten Urteilen vom 22. März 2012 - BVerwG 1 C 3.11 - (a.a.O. Rn. 17 ff.) und vom 4. Oktober 2012 - BVerwG 1 C 12.11 (Rn. 12) - näher ausgeführt; hierauf wird Bezug genommen.
Ein Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ergibt sich auch nicht aus einer Rechtsstellung in entsprechender Anwendung des § 1 Abs. 1 HumHAG. Diese Rechtsstellung hat der Kläger durch seine Einreise auf der Grundlage einer Aufnahmezusage zwar zunächst erworben, doch ist sie mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 erloschen. Aus den Übergangsregelungen des Aufenthaltsgesetzes ergibt sich, dass der Gesetzgeber mit der Neuregelung des § 23 Abs. 2 AufenthG die Rechtsstellung auch der vor dem 1. Januar 2005 aufgenommenen jüdischen Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion abschließend neu ausgestalten und ausschließlich diesem Gesetz unterstellen wollte. Die in dieser Einwirkung auf einen noch fortdauernden und damit nicht abgeschlossenen Sachverhalt liegende unechte Rückwirkung ist nicht zu beanstanden, da sie u.a. der Beseitigung der aus der entsprechenden Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes sich ergebenden Rechtsunsicherheit diente (Urteile vom 22. März 2012 a.a.O. Rn. 17 ff., und vom 4. Oktober 2012 a.a.O. Rn. 13 f.). Ein schutzwürdiges Vertrauen in die Beibehaltung eines etwaigen Anspruchs auf jederzeitige Neuerteilung eines Aufenthaltstitels nach Wiedereinreise im Anschluss an Auslandsaufenthalte beliebiger Dauer oder Zweckrichtung wurde weder durch die entsprechende Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes vermittelt noch lässt es sich auf verfassungsrechtliche Gründe stützen. Denn den betroffenen Immigranten steht die aufenthaltsrechtliche Möglichkeit einer vorübergehenden Ausreise mit der Option der Verlängerung über sechs Monate hinaus (§ 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG) offen, so dass sie es selbst in der Hand haben, das ihnen eingeräumte Recht auf Daueraufenthalt zu erhalten. Zusätzlich besteht - was für den Kläger freilich ohne Bedeutung ist - die Möglichkeit, bei Furcht vor Verfolgung um Asyl nachzusuchen.
Schließlich kann der Kläger den geltend gemachten Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis auch nicht auf § 9 Abs. 2 AufenthG stützen. Denn weder besitzt er seit fünf Jahren eine Aufenthaltserlaubnis (§ 9 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG), da - wie ausgeführt - die ihm erteilten Aufenthaltstitel erloschen sind, noch ist er nach dem Erlöschen dieser Titel mit dem erforderlichen Visum eingereist (§ 5 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG), ohne dass Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ihm dies unzumutbar gewesen wäre.
2.3 Die Abschiebungsandrohung ist rechtmäßig. Der Kläger ist ausreisepflichtig (§ 50 Abs. 1 AufenthG), da die ihm erteilten Aufenthaltstitel erloschen sind. Die Ausreisepflicht ist auch vollziehbar (§ 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Der Kläger ist nach Abschluss seines Studiums in den USA unerlaubt eingereist, d.h. ohne den gemäß § 4 AufenthG erforderlichen Aufenthaltstitel zu besitzen (§ 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). Dafür ist unerheblich, ob er sich dieses Umstands bewusst war oder nicht. Auf das Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG i.V.m. § 1 Abs. 1 HumHAG kann sich der Kläger nicht berufen, da er, wie ausgeführt, kein Flüchtling ist. Ob der Status entsprechend § 1 HumHAG dem Kläger das in Art. 33 Abs. 1 GFK enthaltene Refoulement-Verbot zunächst vermittelt hat, kann demgegenüber offenbleiben, weil sein Status mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes umfassend und abschließend neu geregelt worden ist (Urteil vom 22. März 2012 a.a.O. Rn. 26 ff.). Andere Abschiebungshindernisse sind nicht ersichtlich. Insbesondere steht Art. 8 EMRK einer Abschiebung des Klägers nicht entgegen. Dieser ist erst mit 21 Jahren nach Deutschland gekommen und beherrscht die russische Sprache. Zudem lebt seine Ehefrau in Moskau, und er ist in Russland regelmäßig geschäftlich tätig. Demgegenüber war seine Aufenthaltsdauer in Deutschland auf Grund zahlreicher geschäftlicher Auslandsaufenthalte und während der Dauer seines dreijährigen Auslandsstudiums in erheblichem Umfang reduziert.
Die Frage, ob die Abschiebungsandrohung an der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 - Rückführungsrichtlinie (ABl EU Nr. L 348 vom 24. Dezember 2008 S. 98) zu messen ist, kann offenbleiben (vgl. dazu Urteil vom 10. Juli 2012 - BVerwG 1 C 19.11 - juris Rn. 45 - zur Veröffentlichung in der Sammlung BVerwGE vorgesehen). Selbst wenn man unterstellt, dass die darin enthaltenen materiellrechtliche Vorgaben für eine Rückkehrentscheidung intertemporal auch für eine vor Ablauf der Umsetzungsfrist (24. Dezember 2010, vgl. Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie) erlassene Abschiebungsandrohung Geltung beanspruchen - im vorliegenden Fall ist die Abschiebungsandrohung am 26. Oktober 2010 ausgesprochen worden -, verhilft das der Revision nicht zum Erfolg. Denn eine Abschiebungsandrohung löst nach den Regelungen des Aufenthaltsgesetzes kein Einreiseverbot aus, so dass im Zeitpunkt ihres Erlasses kein Bedürfnis für eine Festsetzung der zeitlichen Dauer eines solchen Verbots besteht. [...]