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VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 18.12.2012 - 2 K 1175/10.A - asyl.net: M20316
https://www.asyl.net/rsdb/M20316
Leitsatz:

Eine Person, die seit ihrer Geburt wegen ihres angeborenen Albinismus in Familie und Gesellschaft ständiger Diskriminierung, Ausgrenzung und Ächtung ausgesetzt ist, hat Anspruch auf Flüchtlingsschutz, wenn die erlittenen Verfolgungshandlungen so gravierend sind, dass sie jedenfalls kumulativ gesehen die Person massiv in ihren Menschenrechten verletzen.

Schlagwörter: Kamerun, Flüchtlingsanerkennung, Albinismus, Albino, kumulativ, kumulative Verfolgungshandlungen, stichhaltige Gründe,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 3, RL 2004/83/EG Art. 9 ABs. 1 Bst. b, RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Ausgehend von diesen rechtlichen Maßstäben sind die Voraussetzungen für eine Flüchtlingszuerkennung nach § 3 AsylVfG erfüllt. Das Gericht ist zu der Erkenntnis gelangt, dass der Klägerin im Falle einer - freiwilligen oder zwangsweisen - Rückkehr den Schutzbereich des § 60 Abs. 1 AufenthG unterfallende Rechtsverletzungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass die Klägerin ihr Heimatland wegen einer bereits eingetretenen oder unmittelbar drohenden politischen Verfolgung verlassen hat. Dabei geht die Kammer im Wesentlichen von folgendem Sachverhalt aus:

Die Klägerin lebte in Kamerun seit ihrer Geburt wegen ihres angeborenen Albinismus in ständiger Diskriminierung, Ausgrenzung und Ächtung in der Großfamilie und Gesellschaft. Ihre Geburt und der anschließende Druck der Großfamilie haben bereits ihre Eltern zu einem Umzug in einen anderen Landesteil Kameruns veranlasst, da die Klägerin als "Schande" und außereheliches Kind angesehen wurde. Während ihrer Schulzeit hat die Klägerin vielfach sowohl innerhalb der Schule als auch außerhalb der Schule körperliche Angriffe/Misshandlungen und Demütigungen wegen ihres Albinismus durch ihre Mitschüler und Bewohner des Dorfes erlitten. Sie konnte sich in der Öffentlichkeit nicht frei bewegen und ihre Anwesenheit wurde in der Regel von fremden Personen und Familienangehörigen - auch im elterlichen Haus - nicht geduldet. Die Klägerin lebte in Kamerun weitgehend sozial isoliert im elterlichen Haus und wurde dadurch und durch ihre Eltern vor weiteren Angriffen und Demütigungen geschützt. Nach dem Tod des letzten Elternteils im August 2007 lebte die Klägerin weiter mit ihrer Schwester, die ihr Vormund wurde, und ihrem - allerdings häufig abwesenden - Bruder im elterlichen Haus. Sie konnte - auch wegen der finanziellen Situation - die Schule nicht weiter besuchen und musste wegen der fehlenden Akzeptanz in der Öffentlichkeit im Haus bleiben. Im Sommer 2009 entging die Klägerin einer versuchten Vergewaltigung durch ihren Hautarzt und wurde von ihrem Onkel - einem Bruder ihres Vaters - unter Todesandrohung aufgefordert, das elterliche Haus zu verlassen. Schließlich teilte ihr ihre Schwester angesichts ihrer im September 2009 eintretenden Volljährigkeit mit, dass sie ein eigenes Leben führen wolle und das weitere Zusammenleben beenden werde, da sie heiraten und zu ihrem Verlobten ziehen wolle. Die Schwester lehnte es ab, die Klägerin mitzunehmen, da diese von ihrem Verlobten nicht akzeptiert wurde.

Dieser Sachverhalt steht zur Überzeugung des Gerichts auf Grund des Akteninhalts und der Anhörung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung fest. Das Gericht hat keine Zweifel an der Glaubhaftigkeit des Vorbringens der Klägerin. Die Klägerin hat sowohl schriftlich als auch persönlich in der mündlichen Verhandlung ihr Verfolgungsschicksal anschaulich, nachvollziehbar und widerspruchsfrei dargelegt. Sie konnte ihre Verfolgungsgründe in der mündlichen Verhandlung nicht nur erneut umfassend, zusammenhängend und überzeugend vortragen, sondern darüber hinaus auf Nachfragen des Gerichts diese nachvollziehbar ohne Steigerungen erläutern und vertiefen.

Danach geht das Gericht entgegen der Auffassung des Bundesamtes davon aus, dass die von der Klägerin dargelegten erlittenen und drohenden Verfolgungshandlungen Dritter Rechtsverletzungen von asylrechtlicher Relevanz und mit asylrechtlicher Intensität sind, die über eine bloße Beeinträchtigung hinausgehen und die Voraussetzungen des Art. 60 Abs. 1 AufenthG erfüllen. Die dargelegten Verfolgungshandlungen knüpfen an das angeborene und für die Klägerin unverfügbare Merkmal der fehlenden Hautpigmentierung an, welches die soziale Gruppe der Menschen mit Albinismus kennzeichnet und sie von der sie umgebenden - farbigen - Gesellschaft deutlich erkennbar abgrenzt, die die Gruppe der Menschen mit Albinismus deswegen als andersartig betrachtet, vgl. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 10 Abs. 1 lit. d RL 2004/83/EG. Die erlittenen und drohenden Verfolgungshandlungen betreffen die geschützten Rechtsgüter von Leib und Leben der Klägerin und verletzen darüber hinaus ihre Menschenrecht auf Nichtdiskriminierung in erheblicher Weise. Zwar mag nicht jede in der Vergangenheit erlittene Verfolgungshandlung für sich genommen bereits die Schwelle einer gravierenden Menschenrechtsverletzung überschritten haben. In einer Gesamtschau betrachtet waren jedoch bereits die in der Vergangenheit erlittenen Verfolgungshandlungen so gravierend, dass sie jedenfalls kumulativ gesehen die Klägerin massiv in ihren Menschenrechten verletzt haben, vgl. Art. 9 Abs. 1 lit. b RL 2004/83/EG, Die Klägerin war neben Eingriffen in ihre körperliche Unversehrtheit von einer andauernde Diskriminierung, Ausgrenzung, Benachteiligung und Schikanen betroffen. Auch wenn die Klägerin nicht gänzlich von der Gesellschaft abgeschnitten lebte, da sie auf Grund der Finanzierung und Unterstützung durch ihre Eltern eine Schule besuchen konnte, war sie im Übrigen von Kindheit an zum einem isolierten Leben im elterlichen Haus gezwungen. Allein auf Grund der Anwesenheit ihrer Eltern war die Klägerin vor weiteren Angriffen geschützt. Diese Situation spitze sich im Sommer 2009 für die Klägerin weiter zu, da sie auf Grund der Todesdrohung ihres Onkels absehbar gezwungen war, das elterliche Haus zu verlassen. Gleichzeitig nahmen auch die Übergriffe Dritter auf Grund der Abwesenheit der schutzbereiten Eltern in ihrer Intensität weiter zu, wie etwa die versuchte Vergewaltigung durch den Hautarzt verdeutlicht. Die Klägerin konnte auch nicht mehr auf Unterstützung aus dem engeren Familienkreis zurückgreifen, da ihre Schwester ebenfalls das elterliche Haus verlassen wollte, um zu heiraten und der Bruder überwiegend nicht anwesend war. Die Klägerin befand sich zum damaligen Zeitpunkt in einer ausweglosen Lage, da ihr allein ohne - familiären - Schutz und Unterstützung gegen Übergriffe Dritter ein Weiterleben und Überleben in Kamerun nicht möglich war.

Die Ausführungen der Klägerin korrespondieren auch mit den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen zu Menschen mit Albinismus in Afrika und Kamerun. Danach werden in Afrika Menschen mit Albinismus gesellschaftlich stigmatisiert und sind häufig Gewalt bis hin zur Tötung ausgesetzt. Wegen ihrer hellen Hautfarbe fallen sie in Afrika besonders auf und werden oft verfolgt. Teilweise besteht der Aberglaube, dass Menschen mit Albinismus übernatürliche Kräfte hätten. Sie werden getötet, um mit ihren Leichenteilen "Zaubertränke" herzustellen, vgl. etwa bedrohte Völker-progrom (Zeitschrift der Gesellschaft für bedrohte Völker), 2010 S. 82-83; Süddeutsche.de vom 17. Mai 2010, "Albinos abgeschlachtet/Aberglaube in Afrika", www.sueddeutsche.de/panorama/2.220; Zeit online vom 31. Juli 2009, "Verfolgt und getötet", www.zeit.de/campus/2009/04; Stern.de vom 28. Oktober 2007, "Das Schattendasein der weißen Schwarzen", www.stern.de/wissen/mensch/albinismus; Der Spiegel, "Spuck auf den Boden", 1993 S. 202-208.

Nach den bisher vorliegenden Erkenntnissen sind derartige Tötungen zwar vor allem in den Ländern Tansania, Kenia, Burundi, der Demokratischen Republik Kongo und Uganda verbreitet. Dennoch kommen sie auch in Kamerun vor. Menschen mit Albinismus werden in der kamerunischen Gesellschaft diskriminiert, sind Aberglauben und Vorurteilen ausgesetzt und werden als "Schande" für die Familie angesehen. So machen nach Medienberichten in Kamerun viele Menschen einen großen Bogen um Menschen mit Albinismus, drehen sich angewidert weg, schütteln den Kopf oder bekreuzigen sich. Mütter von Kindern mit Albinismus weigern sich, ihre Kinder zu stillen, und Eltern schicken diese Kinder nicht zur Schule, weil sie wie "Ausgestoßene" behandelt werden. Oftmals sind Kinder mit Albinismus Waisen, weil sie von ihren Eltern verlassen wurden, vgl. dazu insgesamt: etwa Deutsche Welle vom 23. April 2010, "Kameruns Behinderte kämpfen um ihr Recht", www.dw.de; Les Observateurs vom 13. April 2009, "The hunt for Albinos is still on", observers.france24.com, u.a. auch mit einem Bericht eines Betroffenen über die Tötung seines ebenfalls betroffenen Bruders; V.E.A.C. (Village d'Enfants Albinos du Cameroun) - Pourquoi V.E.A.C?, http:// www.veac-cm.com/veac/maison/pourquoi-veac.

Das Gericht verkennt insoweit nicht, dass es Angehörigen der Gruppe von Menschen mit Albinismus in Einzelfällen gelungen ist, etwa in Kamerun ein Amt in der Regierung bzw. ein Staatsamt zu bekleiden oder Popstar zu werden (so etwa Salif Keita aus Mali), im Jahr 2010 in Kamerun ein Gesetz zum Schutz und zur Förderung von Menschen mit Behinderungen verabschiedet worden ist und auch in Kamerun Vereinigungen wie etwa V.E.A.C. (Village d'Enfants Albinos du Cameroun) sich seit 2009 vermehrt um den Schutz und Förderung von Menschen Albinismus (hier: der minderjährigen Kinder) bemüht, vgl. AA, Lagebericht Kamerun vom 14. Juni 2011, S. 10; US Departement of State, Cameroon - Human Rights and Labor vom 24. Mai 2012, S. 31-32; V.E.A.C.- www.veac-cm.com; Deutsche Welle vom 23. April 2010, "Kameruns Behinderte kämpfen um ihr Recht", www.dw.de.

Nach Einschätzung des Gerichts handelt es sich jedoch insoweit zunächst lediglich um positive Ansätze, deren Umsetzung und Auswirkung auf die in der kamerunischen Gesellschaft verbreiteten Vorurteile und den Aberglauben abzuwarten ist. Diese Ansätze sind jedenfalls nicht als stichhaltige Gründe i.S. von Art. 4 Abs. 4 2004/83/EG anzusehen, die gegen eine erneutes Auftreten oder Drohen von Verfolgungshandlung im Falle einer Rückkehr der Klägerin in ihr Heimatland sprechen.

Das Gericht geht ferner davon aus, dass es der Klägerin nicht möglich war und ist, gegenüber den von nicht staatlichen Akteuren erfolgten und drohenden Verfolgungsmaßnahmen Schutz durch staatliche Sicherheitsbehörden zu erlangen, vgl. § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c AufenthG i.V.m. Art. 7 RL 2004/83/EG. Dabei geht das Gericht davon aus, dass es im vorliegenden Einzelfall an der staatlichen Schutzbereitschaft mangelt. Zwar hat Kamerun die wichtigsten Menschenrechtsabkommen ratifiziert und garantiert die Verfassung aus dem Jahr 1996 etwa die Grundrechte im Sinne der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948. Ferner stellt das kamerunische Strafrecht etwa Körperverletzung unter Strafe und ist in Kamerun wie bereits oben ausgeführt im Jahr 2010 ein Gesetz zum Schutz und zur Förderung von Menschen mit Behinderungen verabschiedet. Allerdings weist das kamerunische Rechtssystem gravierende Schwächen auf und ist vor allem durch Korruption, mangelhafte Aus- und Fortbildung, schlechte Bezahlung sowie Überlastung gekennzeichnet. Die Bevölkerung hat nur wenig Vertrauen in die Sicherheitskräfte und das Justizwesen, da auch die Sicherheitskräfte mitunter willkürlich und unverhältnismäßig Gewalt anwenden. Angehörige der Sicherheitskräfte missbrauchen in vielen Fällen ihre Machtposition zum persönlichen Vorteil. Das Bewusstsein für Menschenrechtsverletzungen ist in der kamerunischen Gesellschaft und auch innerhalb der Sicherheitskräfte nur eingeschränkt ausgeprägt. Ebenso sind auch die Angehörigen der Sicherheitskräfte von traditionellen Vorurteilen belastet. Die kamerunische Justiz gilt insoweit als schwerfällig und zeigt nur wenig Einsatzbereitschaft, vgl. dazu insgesamt etwa: AA, Lagebericht Kamerun vom 14. Juni 2011, S. 7, 8, 10 und 14; SFH, Kamerun, Update Oktober 2006, S. 3, 4. [...]