OLG München

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Zitieren als:
OLG München, Beschluss vom 21.11.2012 - 4 StRR 133/12 - asyl.net: M20247
https://www.asyl.net/rsdb/M20247
Leitsatz:

Die Richtlinie 2008/115/EG verbietet nicht die Strafbarkeit eines Angeklagten nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3 Abs. 1 AufenthG, denn die Strafvorschrift beeinträchtigt den ordnungsgemäßen Ablauf des Rückführungsverfahrens nicht. Die Verhängung einer Strafe beeinträchtigt in einem solchen Fall nicht das Rückführungsverfahren und gefährdet auch nicht die Verwirklichung der mit der genannten Richtlinie verfolgten Ziele. Infolge der Passlosigkeit kann ein Rückführungsverfahren im Sinne der Richtlinie 2008/115/EG nicht betrieben werden, eine Ausreise des Drittstaatenangehörigen bzw. dessen Abschiebung wird dadurch dauerhaft verhindert. Dies gilt insbesondere, wenn der Angeklagte die Beschaffung des Passes durch falsche Personalien hintertreibt.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Rückführungverfahren, Täuschung über Identität, Falschangaben, falsche Personalien, Unterlassungsdelikt, echtes Unterlassungsdelikt, Passbeschaffung, Rückführungsrichtlinie, Rückkehrverfahren, Drittstaatsangehörige, Strafbarkeit,
Normen: AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

1. Die Nachprüfung des Urteils aufgrund des Revisionsvorbringens hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten erbracht (§ 349 Abs. 2 StPO). Zur Begründung wird auf die sehr sorgfältige Stellungnahme der Staatsanwaltschaft bei dem Revisionsgericht in ihrer Antragsschrift vom 21.8.2012, die auch durch die Erwiderung der Verteidigung nicht entkräftet wird, Bezug genommen.

2. Der Senat sieht sich zu folgenden ergänzenden Bemerkungen veranlasst:

a) Der Tatbestand des § 95 Abs. 1 Ziffer 1 Aufenthaltsgesetz beinhaltet ein echtes Unterlassungsdelikt (Renner Ausländerrecht 9. Aufl. § 95 Rdn. 13). (Echte) Unterlassungsdelikte können nur verwirklicht werden, wenn den Täter eine Rechtspflicht zum Handeln trifft und er entgegen dieser Rechtspflicht ihm zumutbare Handlungen unterlässt, er so den rechtswidrigen Zustand in Gang setzt und fortdauern lässt (Renner § 94 Rdn. 16). Dies wäre dann nicht der Fall, wenn dem Täter eine Pass- oder Ausweisersatzbeschaffung nach § 48 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz unzumutbar gewesen wäre (Senat, Beschluss vom 8.6.2012, Gz.: 4 StRR 92/12).

aa) Grundsätzlich kommt ein Ausländer seiner Verpflichtung, sich einen Reisepass zu beschaffen, nur dann nach, wenn er zumindest einen entsprechenden Antrag bei der diplomatischen Vertretung seines Heimatstaates stellt; denn im Regelfall ist es jedem Ausländer zuzumuten, bei dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er vor der Einreise in das Bundesgebiet seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, einen Pass zu beantragen, sofern er keinen Anspruch auf Erteilung eines deutschen Passersatzes hat (Senat, Urteil vom 9.3.2010, Gz.: 4 StRR102/09). Generell kann ein Ausländer einen Pass nur dann nicht in zumutbarer Weise erlangen, wenn ihm von seinen Heimatbehörden ein Pass verweigert wird oder wenn er einen solchen nicht in angemessener Zeit oder nur unter schwierigen Umständen erhalten kann. Das Zumutbarkeitskriterium soll lediglich der Nachlässigkeit oder der Bequemlichkeit des Ausländers Einhalt gebieten. (Senat, Urteil vom 9.3.2010 aaO; BayObLG Urteil vom 8.3.2005 4 St RR 211/04 zitiert nach juris dort Rn 30 und 31 m.w.N.).

bb) Aus dem von der Kammer festgestellten Verhalten der Angeklagten ergibt sich, dass sie die Passbeschaffung torpediert hat. Ein Ausländer hat dann nicht in zumutbarer Weise auf die Ausstellung eines Passes seines Heimatlandes hingewirkt, wenn er zu seiner Person falsche oder unvollständige Angaben gemacht hat, mithin über seine Identität täuscht bzw. diese verschleiert (OLG Frankfurt, Beschluss vom 22.8.2012 – Gz.: 1 Ss 210/12 zitiert nach juris, dort Rdn.13 m.w.N.). Ihrer Verpflichtung, sich bei der zuständigen Auslandsvertretung der Volksrepublik China einen Reisepass zu beschaffen, ist die Angeklagte nach den Urteilsfeststellungen nicht nachgekommen, obwohl ihr das zumutbar gewesen wäre, denn sie hat falsche Personalien, insbesondere falsche Adressdaten angegeben, so dass von dort aus Passdokumente nicht beschafft werden konnten. Sie hat nach den vom Landgericht zugrunde gelegten Angaben des Zeugen von der Ausländerbehörde auch keinen Antrag auf Ausstellung von Ersatzpapieren gestellt. Nachdem die Angeklagte von sich aus die Passbeschaffung verhindert, spielt die Zumutbarkeit schon deshalb keine Rolle. Dies gilt auch für die Beschaffung von Ersatzpapieren.

b) Die Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) sowie die hierzu vom Europäischen Gerichtshof ergangenen Entscheidungen, die die Grundsätze der Rückführungsrichtlinie konkretisiert haben (für alle: Urteile vom 28.4.2011 – Gz.: C-61/11 PPU "El Dridi" und vom 6.12.2011 – Gz.: C-329/11 "Achughbabian"), stehen einer Bestrafung der Angeklagten wegen eines unerlaubten Aufenthalts ohne Reisepass nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nicht entgegen.

aa) Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 28.4.2011 ist die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, insbesondere ihre Art. 15 und 16, dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, die vorsieht, dass gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen allein deshalb eine Haftstrafe verhängt werden kann, weil er entgegen einer Anordnung, das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats innerhalb einer bestimmten Frist zu verlassen, ohne berechtigten Grund in dessen Hoheitsgebiet bleibt (Tenor, zitiert nach juris).

bb) Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 6.12.2011 ist die Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen, "dass sie

• der Regelung eines Mitgliedstaats, die den illegalen Aufenthalt mit strafrechtlichen Sanktionen ahndet eines Mitgliedstaats, die den illegalen Aufenthalt mit strafrechtlichen Sanktionen ahndet, entgegensteht, soweit diese Regelung die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Strafvollstreckung zulässt, der sich zwar illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält und nicht bereit ist, dieses Hoheitsgebiet freiwillig zu verlassen, gegen den aber keine Zwangsmaßnahmen im Sinne von Art. 8 dieser Richtlinie verhängt wurden und dessen Haft im Fall einer Inhaftnahme zur Vorbereitung und Durchführung seiner Abschiebung die höchstzulässige Dauer noch nicht erreicht hat,

• einer solchen Regelung aber nicht entgegensteht, soweit diese die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Strafvollstreckung zulässt, auf den das mit dieser Richtlinie geschaffene Rückkehrverfahren angewandt wurde und der sich ohne einen Rechtfertigungsgrund für seine Nichtrückkehr illegal in dem genannten Hoheitsgebiet aufhält" (zitiert nach juris, dort Rdn. 51).

Nach diesen Entscheidungen fallen das Strafrecht und das Strafprozessrecht zwar grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, gleichwohl kann aber dieser Rechtsbereich vom Unionsrecht berührt werden. "Daher müssen die Mitgliedstaaten ungeachtet dessen, dass weder Art. 63 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b EG, der in Art. 79 Abs. 2 Buchst. c AEUV übernommen wurde, noch die Richtlinie 2008/115, die u. a. auf der Grundlage der erwähnten Bestimmung des EG-Vertrags ergangen ist, die strafrechtliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich der illegalen Einwanderung und des illegalen Aufenthalts ausschließen, ihre Rechtsvorschriften in diesem Bereich so ausgestalten, dass die Wahrung des Unionsrechts gewährleistet ist. Die Mitgliedstaaten dürfen keine strafrechtliche Regelung anwenden, die die Verwirklichung der mit der genannten Richtlinie verfolgten Ziele gefährden und sie damit ihrer praktischen Wirksamkeit berauben könnte" (EuGH Urteil vom 6.12.2011 zitiert nach juris, dort Rdn. 33 m.w.N.).

Die bedeutet, dass gegen einen sich illegal im Bereich der Europäischen Union ohne Aufenthaltstitel aufhaltenden Angehörigen eines Drittstaates keine strafrechtliche Sanktionen verhängt werden, wenn er einer Anordnung im nach den Vorgaben der Rückführungsrichtlinie durchgeführten Rückkehrverfahren nicht nachkommt, denn die Verhängung und Vollstreckung einer Freiheitsstrafe während des von der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Rückkehrverfahrens trägt nicht zur Verwirklichung der mit diesem Verfahren verfolgten Abschiebung bei, d. h. zur tatsächlichen Verbringung des Betroffenen aus dem entsprechenden Mitgliedstaat. Eine derartige Strafe stellt somit keine "Maßnahme" oder "Zwangsmaßnahme" im Sinne von Art. 8 der Richtlinie 2008/115 dar (EuGH aaO Rdn. 37).

cc) Allerdings schließt diese Rechtsprechung die strafrechtliche Verfolgung eines sich illegal in einem Staat der Europäischen Union aufhaltenden Angehörigen eines Drittstaates außerhalb des Rückkehrverfahrens nicht generell aus. Falls ein Angehöriger eines Drittstaates sich außerhalb des Rückkehrverfahrens gestellt hat, verbietet die Rückkehrrichtlinie nicht eine Bestrafung nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (KG Beschluss vom 26.3.2012 – Gz.: (4) 1 Ss 393/11 (2012) NStZ-RR 2012, 347 f.).

Es verbleiben die Fälle, in denen ein Drittstaatenangehöriger sich weigert, freiwillig auszureisen bzw. an der Ermöglichung der Ausreise mitzuwirken und durch sein Verhalten (kausal) bewirkt, dass eine Aufenthaltsbeendigung nicht mehr (auch nicht zwangsweise) durchgeführt werden kann (Carsten Hörich/Marcus Bergmann NJW 2012, S.3339 ff, 3342).

dd) Auf die in § 95 Abs. 1 Nr. 1 i.V. § 3 Abs. 1 AufenthG, getroffene Regelung wonach der unerlaubte Aufenthalt eines Angehörigen eines Drittstaates wegen Passlosigkeit bestraft wird, findet die oben dargestellte Rechtsprechung keine Anwendung, denn die Strafvorschrift beeinträchtigt den ordnungsgemäßen Ablauf des Rückkehrverfahrens nicht. Durch die Passlosigkeit kann ein Rückkehrverfahren im Sinne der Richtlinie 2008/115/EG nicht betrieben werden, eine Ausreise des Drittstaatenangehörigen bzw. dessen Abschiebung wird dadurch dauerhaft verhindert.

Die Angeklagte torpediert die Beschaffung von Passdokumenten, ohne diese kann sie aber weder freiwillig ausreisen noch kann sie zwangsweise im Rahmen eines Rückkehrverfahrens abgeschoben werden. Der Verhängung einer Geldstrafe, die im Falle der Nichtbeitreibbarkeit letztlich auch die Inhaftierung der Angeklagten zur Strafvollstreckung zulassen wird, steht die Regelung der Richtlinie 2008/115/EG nicht entgegen. Denn die Strafe beeinträchtigt gerade nicht das Rückkehrverfahren nach der Richtlinie und könnte nicht die Verwirklichung der mit der genannten Richtlinie verfolgten Ziele gefährden und sie damit ihrer praktischen Wirksamkeit berauben (EuGH Urteil vom 6.12.2011 aaO). Das Rückkehrverfahren kann infolge des Verhaltens der Angeklagten überhaupt nicht betrieben werden. [...]