OLG Dresden

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Zitieren als:
OLG Dresden, Beschluss vom 14.01.2011 - OLG Ausl 179/10 - asyl.net: M20238
https://www.asyl.net/rsdb/M20238
Leitsatz:

1. Im Auslieferungsverkehr mit den Vereinigten Staaten von Amerika zum Zwecke der Strafverfolgung ist es unschädlich, wenn der dem Auslieferungsersuchen zugrundeliegende US amerikanische Haftbefehl entgegen Art. 14 Abs. 3 Buchst. a US-AuslV nicht von einem Richter, sondern von einem Urkundsbeamten unterzeichnet ist. Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht gehindert, ihr innerstaatliches Auslieferungsrecht (§ 10 IRG) dann anzuwenden, wenn und soweit es zu Gunsten des ausländischen Verfahrens über den Vertrag hinausgeht.

2. Es steht der Auslieferung nicht entgegen, dass dem Auslieferungsersuchen keine Beweismittel gemäß Art. 14 Abs. 3 Buchst. a US-AuslV beigefügt sind.

3. Die in den Vereinigten Staaten von Amerika drohende Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe ohne die Möglichkeit einer Strafaussetzung zur Bewährung verstößt nicht gegen unabdingbare Grundsätze der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung, wenn für den Verfolgten die Möglichkeit eines Gnadengesuches besteht. Das Oberlandgericht ist im Rahmen der Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung nicht verpflichtet, die nähere Ausgestaltung des zur Anwendung kommenden Gnadenrechts aufzuklären.

4. Die Haftbedingungen in den Vereinigten Staaten von Amerika bieten keine begründeten Anhaltspunkte für die Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung des Verfolgten.

5. Die Auslieferung eines Verfolgten wegen des Vorwurfs der Begehung erheblicher Straftaten mit schwersten Rechtsgutverletzungen verstößt weder gegen Art. 6 GG noch Art. 8 EMRK.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Auslieferung, Auslieferungsverkehr, USA, Vereinigte Staaten von Amerika, innerstaatliches Auslieferungsrecht, Auslieferungsrecht, Gnadengesuch, Auslieferungsersuchen, Haftbedingungen, menschenrechtswidrige Behandlung, unmenschliche Behandlung, Begnadigung, lebenslange Haftstrafe,
Normen: IRG § 10, GG Art. 6, EMRK Art. 8,
Auszüge:

[...]

3. Die Auslieferung verstößt auch nicht gegen weitere unabdingbare Grundsätze der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung. Eine Unzulässigkeit der Auslieferung erwächst nicht aus den durch § 73 IRG gesetzten Grenzen.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind die deutschen Gerichte bei der Prüfung der Zulässigkeit der Auslieferung von Verfassungs wegen gehalten zu überprüfen, ob die Auslieferung und die ihr zugrundeliegenden Akte mit dem nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen ihrer öffentlichen Ordnung vereinbar sind. Auf der Ebene des einfachen Rechts nimmt § 73 IRG dieses verfassungsrechtliche Gebot auf, in dem dort die Leistung von Rechtshilfe und damit auch die Auslieferung für unzulässig erklärt wird, wenn sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde (vgl. BVerfG NVwZ 2008, 71 m.w.N. der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung).

Hierzu zählt auch der Kernbereich der Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips. Dieser ist jedoch nicht schon dann betroffen, wenn eine Strafe, die dem Verfolgten im ersuchenden Staat erwartet, unter Anlegung der Maßstäbe der deutschen Rechtsordnung von maß- und sinnvollen Strafen als zu hart angesehen wird. Die Auslieferung wird vielmehr erst durch eine Strafe gehindert, die unerträglich hart ist und unter jedem denkbaren Gesichtspunkt als unangemessen erscheint, oder die als solche grausam, unmenschlich oder erniedrigend ist (BVerfGE 75, 1 (16); NJW 1994, 2884).

Die Auslieferung ist hingegen dann zulässig, wenn die zu vollstreckende Strafe lediglich als in hohem Maße hart anzusehen ist und bei einer strengen Beurteilung anhand deutschen Verfassungsrechts nicht mehr als angemessen erachtet werden könnte. Das Grundgesetz geht nämlich von der Eingliederung des von ihm verfassten Staates in die Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft aus (vgl. Präambel, Art. 1 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2, Art. 23 bis 26 GG). Es gebietet damit zugleich, insbesondere im Rechtshilfeverkehr Strukturen und Inhalte fremder Rechtsordnungen und -anschauungen grundsätzlich zu achten, auch wenn sie im Einzelnen nicht mit den deutschen innerstaatlichen Auffassungen übereinstimmen. Soll der im gegenseitigem Interesse bestehende zwischenstaatliche Auslieferungsverkehr erhalten und auch die außenpolitische Handlungsfreiheit der Bundesregierung unangetastet bleiben, so dürfen die Gerichte nur die Verletzung der unabdingbaren Grundsätze der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung als unüberwindbares Hindernis für eine Auslieferung zugrundelegen (BVerfG NJW 2005, 3483 f.).

a) Vor diesem verfassungsrechtlichen Hintergrund begegnet es zunächst keinen Bedenken, dass die dem Verfolgten vorgeworfenen Taten in den Vereinigten Staaten von Amerika mit lebenslanger Freiheitsstrafe geahndet werden können.

Diese Strafe hätte der Verfolgte auch in der Bundesrepublik Deutschland bei einer Verurteilung wegen Mordes zu erwarten. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Androhung lebenslanger Freiheitsstrafe für schwerste Tötungsdelikte bestehen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht. Die lebenslange Freiheitsstrafe für solche schwerste Rechtsgutsverletzungen ist mit dem verfassungsrechtlichen Gebot des sinn- und maßvollen Strafen grundsätzlich vereinbar (BVerfGE 45, 187 (254 ff.); 64, 261 (271)).

b) Auch die Auslieferung bei drohender Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe ohne - wie von dem Verfolgten behauptet - die Möglichkeit einer Strafaussetzung zur Bewährung ("lifelong imprisonment without the possibility of parole") und die darauf beruhenden Vollziehung der Strafe verstößt nicht gegen unabdingbare Grundsätze der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gehört es zu den Voraussetzungen eines menschenwürdigen Strafvollzugs, dass dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten grundsätzlich eine Chance verbleibt, je wieder der Freiheit teilhaftig zu werden. Es wäre mit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) unvereinbar, wenn der Verurteilte ungeachtet der Entwicklung seiner Persönlichkeit jegliche Hoffnung, seine Freiheit wiederzuerlangen, aufgeben müsste. Dies gilt auch im Falle einer Verurteilung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe unter Feststellung der besonderen Schwere der Schuld, wobei im Einzelfall - verfassungsrechtlich unbedenklich - die lebenslange Freiheitsstrafe tatsächlich auch bis zum Lebensende vollstreckt werden kann. Fallgestaltungen, die es auch dem innerlich gewandelten, für die Allgemeinheit ungefährlich gewordenen Gefangenen strikt verwehrten, auch nach sehr langer Strafverbüßung, selbst im hohen Lebensalter, die Freiheit wieder zu gewinnen, und ihn damit auch von vornherein zum Versterben in der Haft verurteilen, sind im Strafvollzug unter der Herrschaft des Grundgesetzes allerdings grundsätzlich fremd (BVerfG NJW 2005, 3483 (3484)).

Vor diesem Hintergrund hat der Senat eine Erklärung der US-amerikanischen Behörden veranlasst. Der US-Bundesstaatsanwalt für den Gerichtsbezirk Florida-Mitte hat mit Schreiben vom 28. November 2010 mitgeteilt, dass der Verfolgte in einem Berufungsverfahren eine Prüfung seines Strafmaßes anstreben und er anschließend in Form einer Petition um Straferlass oder Umwandlung in ein geringeres Strafmaß eine Ermäßigung seines Strafmaßes ("petition for a pardon or commutation to a lesser sentence") anstreben kann. Diese Auskunft erachtet der Senat als ausreichend, wobei er bei der Formulierung "petition for a pardon" davon ausgeht, dass für den Verfolgten die Möglichkeit besteht, ein Gnadengesuch zu stellen.

Zwar genügt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für den Strafvollzug im Geltungsbereich des Grundgesetzes das Institut der Begnadigung allein nicht. Vielmehr gebietet das Rechtsstaatsprinzip für die Strafvollstreckung in Deutschland eine Entlassungspraxis, die gerichtlicher Kontrolle offensteht. Die Voraussetzungen, unter denen die Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe ausgesetzt werden kann, und das dabei anzuwendende Verfahren sind gesetzlich zu regeln. Verfahrensrechtliche Einzelheiten, mit denen die praktische Chance auf Wiedererlangung der Freiheit in Deutschland verstärkt und gesichert wird, gehören indes nicht zu den unabdingbaren Grundsätzen der deutschen Verfassungsordnung, die im Auslieferungsverkehr auch vom ersuchenden Staat erfüllt werden müssen. Hier kommt es nur darauf an, dass in einem anderen Rechtssystem jedenfalls eine praktische Chance auf Wiedererlangung der Freiheit besteht (BVerfG NJW 2005, 3483).

So liegt der Fall hier. Mit der Mitteilung des US-Bundesstaatsanwalts, dass die Möglichkeit einer Begnadigung ("pardon") oder einer Umwandlung der lebenslangen Strafe ("commutation") eröffnet sei, besteht für den Verfolgten eine - wenn auch gemessen an der deutschen Rechtslage möglicherweise geringere - Chance darauf, eine gegen ihn verhängte lebenslange Freiheitsstrafe tatsächlich nicht bis zum Lebensende verbüßen zu müssen.

Der Senat hat sich indes nicht - wie über den Beistand des Verfolgten angeregt - veranlasst gesehen, die nähere Ausgestaltung des Begnadigungsrechtes im konkreten Einzelfall weiter aufzuklären. Denn es lässt sich nicht allgemein feststellen, unter welchen tatsächlichen und rechtlichen Bedingungen die Hoffnung des Verfolgten, seine Freiheit wieder zu erlangen, in realistischer Weise erhalten bleibt. In dem bisherigen Auslieferungsverkehr zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika, der seit nunmehr mehr als 30 Jahren auf vertraglicher Grundlage durchgeführt wird, sind bisher keine Erkenntnisse zu Tage getreten, dass die Möglichkeit einer Begnadigung in der Rechtspraxis leerliefe. Vielmehr kann sich die Hoffnung des Verfolgten, jemals wieder ein Leben in Freiheit zu führen, auf eine in das Rechtssystem der Vereinigten Staaten von Amerika eingebettete Gnadenpraxis stützen, auch wenn es an einer nach deutschem Verfassungsrecht gebotenen Justizförmigkeit fehlt (vgl. BVerfG NJW 2005, 3483 (3485)).

An dieser Bewertung sieht sich der Senat auch nicht durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Januar 2010, Az.: 2 BvR 2299/09 - juris, gehindert. Denn in dem dieser Entscheidung zugrundeliegende Auslieferungsfall (Auslieferung an die Türkei) war nicht auszuschließen, dass der Ausübung des Gnadenrechts in jedem Fall ein unumkehrbarer physischer Verfallsprozess des Verfolgten vorauszugehen hat. Das in jenem Fall in Rede stehende Gnadenrecht eröffnete keine wenigstens vage Aussicht auf ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit, die den Vollzug der lebenslangen Strafe nach dem Verständnis der Würde der Person überhaupt erst erträglich macht, mithin unabdingbaren Grundsätzen der deutschen Verfassungsordnung genügt. Eine vergleichbare Gnadenpraxis in den Vereinigten Staaten von Amerika ist bislang nicht bekannt geworden und wird auch von dem Verfolgten nicht behauptet.

c) Einer Auslieferung stehen auch nicht die von dem Verfolgten behaupteten Haftbedingungen in den Vereinigten Staaten von Amerika entgegen. Denn es bestehen keine begründeten Anhaltspunkte für die Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung des Verfolgten (vgl. BVerfGE 108, 129 m.w.N. der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung als auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte). Eine Gefahr in diesem Sinne kann nur angenommen werden, wenn stichhaltige Gründe vorgetragen sind, nach denen gerade in dem konkreten Fall eine "beachtliche Wahrscheinlichkeit" besteht, in dem ersuchenden Staat das Opfer von Folter oder anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu werden. Auf konkrete Anhaltspunkte kommt es in der Regel nur dann nicht an, wenn in dem ersuchenden Staat eine ständige Praxis grober, offenkundiger oder massenhafter Verletzungen der Menschenrechte herrscht (vgl. Art. 3 des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 (BGBl. 1990 II S. 246). Davon kann bei den Vereinigten Staaten von Amerika nicht die Rede sein.

Eine konkrete Gefahr von Folter oder anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung droht dem Verfolgten nicht. Zwar bezweifelt der Senat nicht die von dem Verfolgten in seiner Stellungnahme abgegebenen Behauptungen. Allerdings zeigt gerade der von dem Verfolgten in seiner Stellungnahme genannte Bericht der vom US-amerikanischen Senat eingesetzten "Commission on Safety and Abuse in Americas Prisons" - www.prisoncommission.org/report.asp - gerade, dass die geschilderten Zustände auf staatlicher Seite Anlass zu erhöhter Aufmerksamkeit gegeben haben. Im Übrigen lässt sich der Senat von der Erwägung leiten, dass der Auslieferungsverkehr mit den Vereinigten Staaten von Amerika bereits seit Juli 1978 vertraglich geregelt ist und dieser Auslieferungsvertrag durch zwei Zusatzverträge auch in jüngerer Zeit fortgeschrieben worden ist. Auch die Europäische Union hat mit dem EU-US-Abkommen den Auslieferungsverkehr mit den Vereinigten Staaten von Amerika vertraglich geregelt, ohne dass von deutscher oder euopäischer Seite Bedenken erhoben worden sind, Auslieferungen an die Vereinigten Staaten von Amerika könnten der deutschen verfassungsmäßigen Ordnung oder den in Art. 6 des EU-Vertrages enthaltenen Grundsätzen widersprechen. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass die Auslieferungsverträge und ihre Ergänzungsverträge bei einer systematischen menschenrechtswidrigen Praxis im US-amerikanischen Strafvollzug gar nicht erst geschlossen worden wären. Schließlich kann auch angenommen werden, dass die Bundesregierung das weitere Verfahren in den Vereinigten Staaten von Amerika von sich aus beobachten wird, eine menschenrechtswidrige Behandlung des Verfolgten entdeckt und damit das aus den völkerrechtlichen Verträgen erwachsene gegenseitige Vertrauen als unabdingbare Grundlage des Auslieferungsverkehrs nachhaltig enttäuscht würde. [...]