Seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes genießen jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion keine Rechtsstellung in entsprechender Anwendung des § 1 Abs. 1 HumHAG (wie Urteil vom 22. März 2012 - BVerwG 1 C 3.11 - InfAuslR 2012, 261).
(Amtlicher Leitsatz)
[...]
Die zulässige Revision der Beklagten, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), hat Erfolg. Das Berufungsurteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Jedenfalls seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes genießt die Klägerin keine Rechtsstellung in entsprechender Anwendung des § 1 Abs. 1 HumHAG mehr (1.). Die ihr gegenüber verfügte Abschiebungsandrohung ist rechtmäßig (2.).
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der begehrten Statusfeststellung und der noch nicht vollzogenen Abschiebungsandrohung ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts, hier also des Berufungsgerichts am 13. Juli 2011 (Urteil vom 22. März 2012 - BVerwG 1 C 3.11 - InfAuslR 2012, 261 Rn. 13 - zur Veröffentlichung in der Sammlung BVerwGE vorgesehen). Rechtsänderungen während des Revisionsverfahrens sind allerdings zu beachten, wenn das Berufungsgericht - entschiede es anstelle des Bundesverwaltungsgerichts - sie zu berücksichtigen hätte (Urteil vom 11. Januar 2011 - BVerwG 1 C 1.10 - BVerwGE 138, 371 Rn. 10 m.w.N.). Maßgeblich sind deshalb die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes i.d.F. der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162), zuletzt geändert durch Gesetz vom 1. Juni 2012 (BGBl I S. 1224). Damit sind insbesondere auch die Änderungen durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22. November 2011 (BGBl I S. 2258) - im Folgenden: Richtlinienumsetzungsgesetz 2011 - zu beachten.
1. Die zulässige Feststellungsklage ist unbegründet. Die Klägerin genießt keine Rechtsstellung gemäß § 1 Abs. 1 des Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge vom 22. Juli 1980 (BGBl I S. 1057 - Kontingentflüchtlingsgesetz - HumHAG), weder in direkter noch in entsprechender Anwendung der Vorschrift.
1.1 Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die Klägerin kein Kontingentflüchtling ist. Gemäß § 1 Abs. 1 HumHAG genießt im Bundesgebiet die Rechtsstellung nach den Art. 2 bis 34 GFK, wer als Ausländer im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen der Bundesrepublik Deutschland aufgrund der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vor der Einreise in der Form des Sichtvermerks oder aufgrund einer Übernahmeerklärung nach § 33 Abs. 1 AuslG 1990 im Geltungsbereich dieses Gesetzes aufgenommen worden ist. Zwar stünde der Fortgeltung eines gesetzlich erworbenen Kontingentflüchtlingsstatus nicht entgegen, dass das Kontingentflüchtlingsgesetz durch Art. 15 Abs. 3 Nr. 3 des Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl I S. 1950) mit Wirkung zum 1. Januar 2005 aufgehoben worden ist. Denn aus der Übergangsvorschrift des § 103 AufenthG, nach der für Kontingentflüchtlinge die Erlöschens- und die Widerrufsregelung des Kontingentflüchtlingsgesetzes (§§ 2a und 2b HumHAG) weiter Anwendung finden, ergibt sich, dass ein unmittelbar aufgrund dieses Gesetzes entstandener Kontingentflüchtlingsstatus fortbesteht. Der Verwaltungsgerichtshof hat aber bei der Klägerin die Voraussetzungen für einen gesetzlichen Statuserwerb nach § 1 Abs. 1 HumHAG zu Recht verneint. Denn jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion wurden aufgrund des Beschlusses der Ministerpräsidentenkonferenz (Besprechung des Bundeskanzlers mit den Regierungschefs der Länder) vom 9. Januar 1991 nicht als verfolgte oder durch ein Flüchtlingsschicksal gekennzeichnete Gruppe aufgenommen. Das hat der Senat in seinem Urteil vom 22. März 2012 - BVerwG 1 C 3.11 - (a.a.O. Rn. 18 ff.) näher ausgeführt; darauf wird Bezug genommen.
1.2 Die Rechtsstellung in entsprechender Anwendung des § 1 Abs. 1 HumHAG, die die Klägerin als jüdische Emigrantin aus der ehemaligen Sowjetunion durch die Aufnahmezusage und die daraufhin mit einem Visum erfolgte Einreise in das Bundesgebiet erlangt hat (vgl. Urteil vom 22. März 2012 a.a.O. Rn. 22 ff.), ist mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 erloschen. Aus den Übergangsregelungen des Aufenthaltsgesetzes ergibt sich, dass der Gesetzgeber mit der Neuregelung des § 23 Abs. 2 AufenthG die zukünftige Rechtsstellung auch der vor dem 1. Januar 2005 aufgenommenen jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion abschließend neu ausgestaltet hat.
Der Senat hat sich in seinem Urteil vom 22. März 2012 (a.a.O. Rn. 29 ff.) bereits mit der Auffassung des Berufungsgerichts auseinandergesetzt und unter Rückgriff auf die Gesetzesmaterialien ausgeführt, dass der Gesetzgeber speziell im Hinblick auf die Aufnahme jüdischer Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion angesichts der bisher praktizierten entsprechenden Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes ein Bedürfnis für die Schaffung einer „sicheren Rechtsgrundlage“ gesehen hat. Des Weiteren sollte die Rechtsstellung dieser Personen von den sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention ergebenden Rechtsfolgen, die als nicht erforderlich und zum Teil als nicht angemessen erschienen, abgekoppelt und in Zukunft rein aufenthaltsrechtlich ausgestaltet werden. Dass die Neuregelung auch die vor dem 1. Januar 2005 aufgenommenen jüdischen Emigranten erfassen und der Gesetzgeber damit zukünftig eine einheitliche, nicht länger mit rechtlichen Unsicherheiten behaftete Rechtsstellung schaffen wollte, ergibt sich hinreichend deutlich aus den Übergangsregelungen des Aufenthaltsgesetzes. Darin wird zwischen Personen differenziert, die den Kontingentflüchtlingsstatus gesetzlich erworben haben (§ 103 AufenthG) und solchen, auf die das Kontingentflüchtlingsgesetz nur entsprechend angewendet worden ist (§ 101 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Aufenthaltsrechtlich werden beide Gruppen gleich behandelt, aber aus der Zusammenschau der Regelungen und der Auswertung der Gesetzesmaterialien wird deutlich, dass nur ein gesetzlich erworbener Kontingentflüchtlingsstatus über den 1. Januar 2005 hinaus fortbesteht. Diesem systematischen und historischen Auslegungsbefund lässt sich der hinreichend deutliche Wille des Gesetzgebers entnehmen, mit der abschließenden aufenthaltsrechtlichen Neuregelung in § 23 Abs. 2 AufenthG auch die Fälle der vor dem 1. Januar 2005 aufgenommenen jüdischen Emigranten zu erfassen. Die darin liegende unechte Rückwirkung der Neuregelung ist mit Blick auf die bisherigen rechtlichen Unsicherheiten verfassungsrechtlich unbedenklich und verstößt auch nicht gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes (Urteil vom 22. März 2012 a.a.O. Rn. 32).
2. Die Abschiebungsandrohung ist rechtmäßig. Die Klägerin ist ausreisepflichtig (§ 50 Abs. 1 AufenthG). Die ihr am 10. Februar 1993 erteilte unbefristete Aufenthaltserlaubnis, die gemäß § 101 Abs. 1 Satz 1 AufenthG als Niederlassungserlaubnis nach § 23 Abs. 2 AufenthG fortgegolten hat, ist gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 6 und Nr. 7 AufenthG erloschen. Danach erlischt der Aufenthaltstitel, wenn der Ausländer aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund ausreist (Nr. 6) oder wenn der Ausländer ausgereist und nicht innerhalb von sechs Monaten oder einer von der Ausländerbehörde bestimmten längeren Frist wieder eingereist ist (Nr. 7). Die Voraussetzungen der Ausnahmevorschrift des § 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor. Denn unabhängig von dem Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts hat sich die Klägerin vor ihrer Ausreise im Januar 2007 nicht mindestens fünfzehn Jahre lang rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten.
Die Ausreisepflicht ist auch vollziehbar (§ 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Die Klägerin ist im August 2008 unerlaubt eingereist, d.h. ohne den gemäß § 4 AufenthG erforderlichen Aufenthaltstitel zu besitzen (§ 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). Dafür ist unerheblich, ob sie sich dieses Umstands bewusst war oder nicht (Hailbronner, Ausländerrecht, A 1 § 14 AufenthG Rn. 1).
Die von der Beklagten festgesetzte Ausreisefrist ist im Hinblick auf die nunmehr maßgebliche Regelung in § 59 Abs. 1 Satz 1 und 4 AufenthG n.F. nicht zu beanstanden. Danach ist die Abschiebung unter Bestimmung einer angemessenen Frist zwischen sieben und dreißig Tagen für die freiwillige Ausreise anzudrohen; die Ausreisefrist kann unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls auch für einen längeren Zeitraum festgesetzt werden. Mit dem Gebot einer nach Tagen zu bestimmenden Ausreisefrist ist eine datumsmäßige Fixierung jedenfalls dann zu vereinbaren, wenn die Ausreisepflicht - wie hier - kraft Gesetzes vollziehbar ist.
Die Frage, ob die Abschiebungsandrohung an den mittlerweile maßgeblichen Bestimmungen der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 - Rückführungsrichtlinie (ABl EU Nr. L 348 vom 24. Dezember 2008 S. 98) zu messen ist, kann im vorliegenden Fall offenbleiben (vgl. dazu Urteil vom 10. Juli 2012 - BVerwG 1 C 19.11 - juris Rn. 45 - zur Veröffentlichung in der Sammlung BVerwGE bestimmt). Selbst wenn man unterstellt, dass die darin enthaltenen materiellrechtliche Vorgaben für eine Rückkehrentscheidung intertemporal auch für eine vor Ablauf der Umsetzungsfrist erlassene Abschiebungsandrohung Geltung beanspruchen, verhilft das der Revision nicht zum Erfolg. Denn eine Abschiebungsandrohung löst nach den Regelungen des Aufenthaltsgesetzes kein Einreiseverbot aus, so dass im Zeitpunkt ihres Erlasses kein Bedürfnis für eine Festsetzung der zeitlichen Dauer eines solchen Verbots besteht. Für die hier vorliegende Fallkonstellation musste der Gesetzgeber gemäß Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG auch kein Einreiseverbot vorsehen; zudem könnte sich eine defizitäre Umsetzung von Unionsrecht insoweit auch nicht zu Lasten der Betroffenen auswirken. [...]