OVG Mecklenburg-Vorpommern

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Zitieren als:
OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 02.11.2011 - 2 M 164/11 (= ASYLMAGAZIN 9/2013, S. 308 f.) - asyl.net: M20211
https://www.asyl.net/rsdb/M20211
Leitsatz:

Ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis in Form der Reiseunfähigkeit ist dann gegeben, wenn der Ausländer aus gesundheitlichen Gründen gar nicht transportfähig ist oder das ernsthafte Risiko besteht, dass sich sein Gesundheitszustand unmittelbar durch die Ausreise oder als unmittelbare Folge davon wesentlich (oder gar lebensbedrohlich) verschlechtern wird. Auch eine konkrete, ernstliche Suizidgefährdung mit Krankheitswert kann zu einem solchen Abschiebungshindernis führen.

Es ist zunächst Sache des Ausländers, das Bestehen der beschriebenen gesundheitlichen Gefährdung konkret darzulegen und glaubhaft zu machen, insbesondere durch Vorlage einer entsprechenden ärztlichen Bescheinigung. Die Abschiebung hat dann zu unterbleiben, solange nicht eine amtsärztliche Begutachtung das Fehlen der Suizidgefahr feststellt.

Schlagwörter: Abschiebungshindernis, fachärztliche Stellungnahme, inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, Reiseunfähigkeit, Gesundheitszustand, Krankheit, Suizidgefahr, amtsärztliche Begutachtung, Amtsarzt,
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Auch der Anordnungsanspruch liegt vor. Es besteht nach dem Beschwerdevorbringen und den vorgelegten fachärztlichen Stellungnahmen die Gefahr, dass die beabsichtigte Abschiebung der Antragstellerin zu 2. ohne die vorherige Klärung der im Entscheidungsausspruch bezeichneten Fragen die Verwirklichung eines dieser Antragstellerin im Hauptsacheverfahren möglicherweise zustehenden Anspruchs auf weitere Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 AufenthG vereitelt.

Ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis in Form der Reiseunfähigkeit ist nach der Rechtsprechung des Senats dann gegeben, wenn der Ausländer aus gesundheitlichen Gründen gar nicht transportfähig ist oder das ernsthafte Risiko besteht, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers unmittelbar durch die Ausreise oder als unmittelbare Folge davon wesentlich (oder gar lebensbedrohlich) verschlechtern wird. Auch eine konkrete, ernstliche Suizidgefährdung mit Krankheitswert kann zu einem solchen Abschiebungshindernis führen (vgl. Beschl. des Senats vom 27.11.2009 - 2 M 212/09 -, m.w.N.). Das dabei in den Blick zu nehmende Geschehen beginnt regelmäßig bereits mit der Mitteilung einer beabsichtigten Abschiebung gegenüber dem Ausländer. Besondere Bedeutung kommt sodann denjenigen Verfahrensabschnitten zu, in denen der Ausländer dem tatsächlichen Zugriff und damit auch der Obhut staatlicher deutscher Stellen unterliegt. Hierzu gehört der Zeitraum des Aufsuchens und Abholens in der Wohnung ebenso wie der Zeitraum nach Ankunft am Zielort bis zur endgültigen Übergabe des Ausländers an die Behörden des Zielstaats (vgl. VGH Baden-Württemberg, a.a.O., Rn. 8, m.w.N.; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 20.06.2011 - 2 M 38/11 -, Rn. 5, zitiert nach juris).

Es ist zunächst Sache des Ausländers, das Bestehen der beschriebenen gesundheitlichen Gefährdung konkret darzulegen und glaubhaft zu machen, insbesondere durch Vorlage einer entsprechenden ärztliche Bescheinigung. Dies ist hier geschehen, was auch ersichtlich weder vom Verwaltungsgericht noch vom Antragsgegner verkannt worden ist. Die Antragstellerin zu 2. verweist insoweit auf Stellungnahmen ihres behandelnden Facharztes für Psychiatrie, nach denen bei ihr wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung Reiseunfähigkeit vorliege. Die Abschiebung hat dann solange zu unterbleiben, wie nicht eine amtsärztliche Begutachtung das Fehlen der Suizidgefahr feststellt (vgl. BVerfG, Beschl. vom 09.02.1995 - 2 BvQ 7/95 -, zit. nach juris; Beschl. des Senats vom 14.07.2011 - 2 M 62/11 -, m.w.N.). An einer in diesem Sinne verwertbaren amtsärztlichen Begutachtung fehlt es hier.

Zwar hat der Antragsgegner im erstinstanzlichen Verfahren eine amtsärztliche Stellungnahme vom 29.07.2011 vorgelegt. Diese reicht jedoch nicht aus, um das Fehlen der hier nach den obigen Ausführungen zu berücksichtigenden Gefahren festzustellen. Die Amtsärztin hat die Antragstellerin zu 2. nicht selbst im Hinblick auf die vom Facharzt diagnostizierte posttraumatische Belastungsstörung untersucht, sondern verweist lediglich darauf, dass "beweisend" ein durch einen Facharzt für Psychiatrie erstelltes Fachgutachten einzuholen wäre. Dies deutet – was auch in der Beschwerdebegründung aufgegriffen wird – darauf hin, dass die Amtsärztin selbst keine solche Fachärztin ist. Außerdem beschränkt sich ihre Stellungnahme ersichtlich im Wesentlichen darauf "das Transportgeschehen an sich" in den Blick zu nehmen und auf die Möglichkeit einer ärztlichen Begleitung und einer "medikamentösen Intervention" zu verweisen, räumt aber gleichwohl ein, dass "mit einer Verschlechterung der Symptomatik bzw. dem Eintritt einer psychischen Krisensituation zu rechnen" sei. Für das noch zu erstellende Gutachten ist anzumerken, dass der Amtsarzt bzw. die Amtsärztin nicht selbst Facharzt/Fachärztin für Psychiatrie sein braucht. Es würde genügen, wenn dem amtsärztlichen Gutachten ein fachärztliches Gutachten zugrunde liegen würde.

Die Antragsteller zu 1. sowie 3. und 4. können sich auf die derzeitige Unzulässigkeit der Abschiebung der Antragstellerin zu 2. berufen. Eine getrennte Abschiebung der Familienangehörigen kommt unter Beachtung von Artikel 6 Abs. 2 GG und wegen des Gesundheitszustands der Antragstellerin zu 2. nicht in Betracht (vgl. auch Bayerischer VGH, Beschl. vom 26.08.1998 - 10 CS 98.1797 -, Rn. 5, m.w.N., zit. nach juris) und wird – soweit ersichtlich – vom Antragsgegner auch nicht erwogen.

Im Hinblick auf das weitere Vorgehen ist anzumerken, dass die Antragstellerin zu 2. an der Erstellung des Gutachtens mitzuwirken hat. Dem Antragsgegner stünde es frei, die Abänderung der erstinstanzlichen Anordnung zu beantragen, sollte die Antragstellerin nicht mitwirken (vgl. Bayerischer VGH, Beschl. vom 26.08.1998 - 10 CS 98.1797 -, Rn. 13, zit. nach juris). Umgekehrt haben die Antragsteller die Möglichkeit, erneut vorläufigen Rechtsschutz zu beantragen, sollte der Antragsgegner nach Vorliegen des Gutachtens an seiner Absicht, ihren Aufenthalt zu beenden, festhalten. [...]