VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Beschluss vom 14.08.2012 - 24 L 1168/12 - asyl.net: M20018
https://www.asyl.net/rsdb/M20018
Leitsatz:

1. Ein deutscher Staatsangehöriger vermittelt durch die Eheschließung einem Drittstaatsangehörigen Freizügigkeit im Sinne des § 2 FreizügG/EU nur, wenn der Deutsche zu einem der nach § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU maßgeblichen Zeitpunkte selbst seinen latenten Status als Unionsbürger aktualisiert hat. Deshalb gelangt der Drittstaatsangehörige nicht in den Genuss der Freizügigkeit, wenn die Eheschließung vor diesem Zeitpunkt erfolgt ist und er den deutschen Ehegatten während dessen Aufenthaltes in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union weder begleitet noch zu diesem nachgezogen ist.

2. Es kann offen bleiben, ob eine vor dem Erwerb der Freizügigkeit des drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eingetretene Sperre nach § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG auch dann noch fortwirkt oder auf welchem konstruktiven Wege sie entfallen könnte.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: deutscher Ehegatte, Drittstaatsangehörige, Freizügigkeit, freizügigkeitsberechtigt, drittstaatsangehöriger Ehegatte, drittstaatsangehörige Familienangehörige, Erwerb der Freiizügigkeit, Unionsbürger, Familienangehörige, Abschiebung, Ausweisung,
Normen: FreizügG/EU § 2, FreizügG/EU § 3 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 11 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 11 Abs. 1 S. 2, FreizügG/EU § 7 Abs. 2 S. 2, AufenthG § 58 Abs. 2 S. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

Es mag auf sich beruhen, ob es angesichts dessen, dass der Antragsteller nicht etwa nur die jüngst verhängte Freiheitsstrafe von 6 Monaten verbüßt, sondern auch den Rest der vor der Ausweisung gegen ihn verhängten Strafe von mehr als 6 Jahren, zeitnah also schwerlich mit einer tatsächlichen Beendigung seines Aufenthaltes zu rechnen ist, nicht schon der Anordnungsgrund fehlt.

Denn jedenfalls fehlt es dem Antragsteller am Anordnungsanspruch.

Auf die beantragte Aufhebung der bestandskräftigen Abschiebungsanordnung vom 11. April 2012 könnte der Antragsteller allenfalls dann einen Anspruch haben, wenn diese Maßnahme rechtswidrig gewesen sein sollte.

Als Ansatzpunkt dafür könnte hier allenfalls in Betracht kommen, dass die Antragsgegnerin zu Unrecht auf Normen des AufenthG rekurriert hat, obwohl dieser Zugriff durch den Vorrang des spezielleren FreizügG/EU gesperrt sein könnte (vgl. dazu, dass vor ausdrücklicher Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlustes der Freizügigkeit § 11 Abs. 1 Satz 1 bis 4 FreizügG/EU den Rückgriff auf §§ 58, 59 AufenthG als Rechtsgrundlagen einer Abschiebungsregelung verbieten (Oberverwaltungsgericht Bremen, Beschluss vom 21. Januar 2011 – 1 B 242/10 – juris Rdnr. 3 und 6).

Dem ist jedoch nicht so. Denn entgegen seiner Ansicht ist der Antragsteller kein Familienangehöriger einer Unionsbürgerin und kommt deshalb auch nicht in den Genuss der Freizügigkeit.

Dabei mag auf sich beruhen, ob dies schon allein daraus folgen würde, dass der Antragsteller selbst nicht erwerbstätig ist und nicht dargetan hat, er verfüge über den nach § 4 Satz 1 FreizügG/EU im Falle seiner Einschlägigkeit erforderlichen Krankenversicherungsschutz sowie ausreichende Existenzmittel.

Es erscheint dem Gericht offenkundig, dass diese Voraussetzungen nicht dadurch ersetzt werden können, dass der Betreffende insoweit durch die Verbüßung einer Freiheitsstrafe tatsächlich versorgt ist.

Ferner mag es auf sich beruhen, auf welchem konstruktiven Wege man die allemal vor dem frühestdenkbaren Erwerb der Freizügigkeit nach § 8 Abs. 2 AuslG90 eingetretene und nach § 102 Abs. 1 AufenthG übergeleitete, sich nun aus § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG ergebende Sperre ab dem etwaigem Eintritt der Freizügigkeit eliminieren könnte:

Das Oberverwaltungsgericht Hamburg (Beschluss vom 19. März 2012 – 3 Bs 234/11 - juris Rdnr. 20, 25, 29 m.w.N.) nimmt insoweit eine Fortwirkung mit dem Argument der Bestandskraft eines (dem Gericht angesichts der unmittelbar gesetzlichen Quelle der Sperre freilich nicht eindeutig ersichtlichen) Verwaltungsaktes (hier der Ausweisung) an, die nur im Wege der Befristung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 ff AufenthG beseitigt werden könne.

Das Oberverwaltungsgericht Bremen (Beschluss vom 21. Januar 2011 – 1 B 242/10 – juris Rdnr. 3 und 6, und Urteil vom 28. September 2010 – 1 A 116/09 – juris Rdnr. 37 ff.) argumentiert demgegenüber aus der Beschränkung des Verweises in § 11 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU, der eben nur § 11 Abs. 2 AufenthG in Bezug nehme (ohne freilich damit eine Erklärung dafür zu geben, auf welchem – die instrumentelle Spezialität des § 11 Abs. 1 Satz 3 ff. AufenthG berücksichtigenden - Wege denn eine bereits bestehende Sperre verlustig gegangen sein sollte).

Zudem hat sich das Oberverwaltungsgericht Bremen auch nur zur Fortwirkung von Alt-Abschiebungen, nicht aber Alt-Ausweisungen zu verhalten gehabt, und betont den Unterschied beider Maßnahmen selbst in Rdnr. 40 ff.

Der in sich zutreffende Verweis der Antragsgegnerin darauf, dass nach gesicherter höchstrichterlicher Rechtsprechung (Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 4. Juli 2009 – 1 C 21.07 – Rdnr. 16 m.w.N.) selbst ein "echter" Unionsbürger seine Freizügigkeit erst wahrnehmen könne, wenn eine bei Inkrafttreten des FreizügG/EU bereits bestehende Sperre zuvor im Wege der Befristung (nach § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU) beseitigt sei, erscheint dem Gericht auch nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen.

Seine Ehefrau war und ist zu den in Betracht kommenden Zeitpunkten nämlich keine Unionsbürgerin gewesen.

Der drittstaatsangehörige Ehegatte eines Deutschen unterfällt bei beider Aufenthalt im Bundesgebiet grundsätzlich dem AufenthG.

Ihn dem spezielleren FreizügG/EU zu unterstellen, ist nur möglich, wenn es sich bei dem deutschen Ehegatten um einen Unionsbürger handelt. Das erfordert, dass der deutsche Ehegatte diesen in seiner Staatsangehörigkeit angelegten latenten Status dadurch aktiviert (hat), dass er in substantieller Weise von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat.

Der Qualifizierung eines im Lande seiner Staatsangehörigkeit aufhältigen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates der Europäischen Union als die Eigenschaft eines Familienangehörigen im Sinne des § 2 FreizügG/EU vermittelnden Unionsbürgers bedarf es jedoch nur, wenn dadurch sichergestellt werden soll, dass sich der Betreffende nicht wegen seines Familienangehörigen an der Wahrnehmung der ihm selbst qua Staatsangehörigkeit zustehenden europarechtlichen Freizügigkeit gehindert sehen könnte (vgl. auch Verwaltungsgericht Berlin, Urteil vom 14. Juni 2012 – 20 K 121.11 – juris Rdnr. 26; Dienelt in Renner, Ausländer Kommentar, 9. Aufl. 2011, § 1 FreizügG/EU Rdnr. 18).

Unzweifelhaft war die Ehefrau des Antragstellers Unionsbürgerin in der Zeit ihres nachweislichen und formell legalisierten Aufenthaltes in den Niederlanden, also vom 31. August 2009 bis zum 29. März 2011.

In diesem Zeitraum hat der Antragsteller seine Frau jedoch weder begleitet, noch ist er ihr nachgezogen, wie es § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU grundlegend verlangt.

Ob er schon vor der zu der letzten Verurteilung führenden Einreise vom Januar 2012 den Sperren der bestandskräftigen Ausweisung und der erfolgten Abschiebung entgegen unerlaubt erneut ins Bundesgebiet eingereist war, ist nicht nachgewiesen, kann jedoch dahinstehen: Erfolgte eine Einreise nach der Eheschließung (28. August 2008) und vor dem Umzug der Ehefrau in die Niederlande (31. August 2009), wäre der Antragsteller unzweifelhaft zu einer deutschen Staatsangehörigen eingereist; erfolgte die Einreise ins Bundesgebiet während des Aufenthalt der Ehefrau in den Niederlanden, fehlte es an der sich in den Vokabeln "begleiten" und "ihm nachziehen" ausdrückenden tatsächlichen Verbundenheit der Eheleute; erfolgte sie (wie im Januar 2012) erst nach der Rückkehr der Ehefrau aus den Niederlanden (29. März 2011), fehlte es bei ihr mangels aktueller Wahrnehmung von Freizügigkeitsrechten an der erforderlichen "Unionsbürger"-Eigenschaft. Denn der nachhaltige Aufenthalt der Ehefrau in den Niederlanden führte nicht etwa dazu, dass sie nunmehr hinsichtlich etwaigen Familiennachzugs zu ihr auf Lebenszeit als Unionsbürgerin zu betrachten wäre (vgl. auch Verwaltungsgericht Berlin, Urteil vom 14. Juni 2012 – 20 K 121.11 – juris Rdnr. 26).

Der Antragsteller kann also eigenem Vortrag zufolge zu keiner Zeit eine Unionsbürgerin begleitet oder zu ihr nachgezogen sein; seine Frau war entweder "nur" deutsche Staatsangehörige oder während ihrer Eigenschaft als Unionsbürgerin war er nicht bei ihr.

Es mag sein, dass wegen der Rechtsprechung des Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften f(Urteil vom 25. Juli2008 – Rs. C 127/08 – (Metok) die Tatbestandsvoraussetzungen des § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU zur Konkordanz mit der zugrunde liegenden europarechtlichen Richtlinie erweiternd dahin auszulegen sind, dass ihnen auch der Drittstaatsangehörige unterfällt, der erst im Aufnahmeland zum Familienangehörigen des Unionsbürgers geworden ist (vgl. dazu Hoppe, HTK-Auslr/§ 3 Freizügigkeit zu Abs. 1, Anm. 2.1), die Reihenfolge von Eheschließung, Einreise und etwaiger Abwanderung des "Unionsbürgers" aus dem Lande seiner Staatsangehörigkeit gleich sind.

Aber auch dies entbindet nicht davon, dass es sich bei demjenigen, dessen Familienangehöriger der Drittstaatsangehörige werden will, zu einem der in Betracht kommenden Zeitpunkte selbst auch um einen Unionsbürger handelt.

In diesem Sinne beschreibt der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in Leitsatz 2 des o.a. Urteils Metok den durch diese erweiternde Auslegung Begünstigten Drittstaatsangehörigen als: "…Ehegatte eines Unionsbürgers, der sich in einem Mitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt".

Denn einer Effektuierung bedarf auch das Europarecht jenseits seines Sinn und Zweckes nicht.

Wenn dieser in Konstellationen der vorliegenden Art (Aufenthalt im Lande der Staatsangehörigkeit des Stammberechtigten) darin besteht, den deutschen Ehegatten nicht in der Wahrnehmung seiner europarechtlichen Freizügigkeit einzuengen, so ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass es dessen im vorliegenden Fall bedürfte (vgl. zu diesem Abstellen auf den Einzelfall auch Verwaltungsgericht Berlin, Urteil vom 14. Juni 2012 – 20 K 121.11 – juris Rdnr. 26).

Die Ehefrau des Antragstellers hat sich nämlich nach der Eheschließung im Drittstaat nur allein in die Niederlande begeben; der Antragsteller hat sie dorthin weder begleitet noch ist er ihr nachgezogen; vielmehr haben beide soweit ersichtlich zu keiner Zeit in rechtmäßiger ehelicher Lebensgemeinschaft gelebt.

Weder von ihrer zeitweisen Übersiedlung in die Niederlande noch von ihrer Rückkehr in die Bundesrepublik Deutschland hat sich die Ehefrau des Antragstellers offenbar durch die vorherige Eheschließung abhalten lassen.

Nach alledem unterfällt der Antragsteller nur dem Regime des AufenthG, das in seiner Anwendbarkeit nicht durch den Vorrang des FreizügG/EU eingeschränkt ist, und ist danach jedenfalls inzwischen im Status der vollziehbaren Ausreisepflicht, so dass die Rechtmäßigkeit der bestandskräftigen Abschiebungsregelung ernstlichen Zweifeln nicht unterliegt.

Geht man von der über § 102 Abs. 1 AufenthG bewirkten unbeeinträchtigten Fortgeltung der durch die bestandskräftige Alt-Ausweisung ausgelösten Sperrwirkung aus, ist der Antragsteller nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG unerlaubt eingereist und war deshalb vom Zeitpunkt der Einreise an nach 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG vollziehbar ausreisepflichtig.

Aber auch ungeachtet der Fortgeltung der erfolgten Ausweisung und Abschiebung ist der Aufenthalt des Antragstellers mangels freizügigkeitsrechtlicher Privilegierung jedenfalls jetzt unerlaubt.

Geht man der Aktenlage folgend davon aus, er habe sich nur zum Zwecke des Erwerbs jenes Kraftfahrzeuges ins Bundesgebiet begeben wollen, in dessen Besitz er dann vor der Festnahme angetroffen wurde, so wäre seine Einreise als albanischer und mithin bei Innehaltung eines biometrischen Nationalpasses nach Art 1 Abs. 2 EU-VisumVO mit Anhang II privilegierter Drittstaatsangehöriger für einen drei Monate nicht überschreitenden Aufenthalt auch ohne Visum erlaubt gewesen, nach dem Ablauf dieser drei Monate jedoch in den Status nach § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG vollziehbarer Ausreisepflicht übergangen, weil der Antragsteller nicht innerhalb dieser drei Monate um eine weitere Legalisierung eingekommen ist.

Versteht man das Vorbringen im vorliegenden Verfahren dahin, er habe zu seiner deutschen Ehefrau einreisen wollen, hätte er schon bei der Einreise der sich dann mit Blick einen als längerfristigen geplanten Aufenthalt aus § 6 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ergebenden Visumspflicht unterlegen, so dass die unerlaubte Einreise wiederum über § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG auf die vollziehbare Ausreisepflicht führen würde. [...]