KG Berlin

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Zitieren als:
KG Berlin, Beschluss vom 26.03.2012 - (4) 1 Ss 393/11 (20/12) - asyl.net: M19972
https://www.asyl.net/rsdb/M19972
Leitsatz:

Die Richtlinie 2008 aus 115 EG (vgl. Gesetzesbegründung BTDs 17/5470 vom 12. April 2011 S. 1) verbietet nicht die Strafbarkeit des Angeklagten nach § 95 Abs. 1 Ziffer 2 AufenthG.

Voraussetzung für eine Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1 Ziffer 2 AufenthG ist jedoch in Umsetzung der Richtlinie die vollständige Einhaltung des Rückkehrverfahrens und dessen entsprechende Darlegung in dem Urteil sowie Ausführungen dazu, dass sich der Angeklagte außerhalb dieses Verfahrens gestellt hat.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Rückkehrentscheidung, Rückkehrverfahren, Rückkehrrichtlinie, Doppelverfolgung, Doppelbestrafung, Doppelbestrafungsverbot, Doppelverwertungsverbot, freiwillige Ausreise, Abschiebungshaft, illegaler Aufenthalt, Revision,
Normen: AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 2 b, RL 2008/115/EG Art. 15, RL 2008/115/EG Art. 6, RL 2008/115/EG Art. 8,
Auszüge:

[...]

Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin hat den Angeklagten wegen Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz durch unerlaubten Aufenthalt im Bundesgebiet gemäß §§ 4 Abs. 1 Satz 1, 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zu einer Geldstraße von fünfzig Tagessätzen zu je 5,- EUR verurteilt.

Das Amtsgericht hat u.a. folgende Feststellungen getroffen:

Der Angeklagte, der bosnisch-herzegowinischer Staatsangehöriger ist, verfügte mehrfach über eine Duldung, die jedoch abgelaufen ist. Obwohl der Angeklagte wusste, dass sein Aufenthaltstitel am 17. Juni 2009 erloschen war und er durch Bescheid des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Berlin - Ausländerbehörde - vom 27. Mai 2010 mit einer Ausreisefrist bis zum 27. Juni 2010 ausgewiesen worden war, blieb er hier und hielt sich seitdem weiterhin ohne Aufenthaltstitel in der Bundesrepublik Deutschland auf.

Er ist mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten und am 26. März 2010 vom Amtsgericht Tiergarten in Berlin – 423 Ds 23/10 Jug – wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Aufenthaltstitel – zu einer Geldstrafe von dreißig Tagessätzen zu je 5,- EUR verurteilt worden. Diese Strafe hat der Angeklagte bis 3. Januar 2011 verbüßt bzw. einen Teil bezahlt.

Der Angeklagte begehrt mit der auf die Sachrüge gestützten Revision, das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin wegen eines Verstoßes gegen das Doppelbestrafungsverbot aufzuheben und ihn freizusprechen; hilfsweise beantragt er die Vorlage bei dem Europäischen Gerichtshof zur Klärung der Frage, ob § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG mit Artikel 15 ff. der Richtlinie 2008/115/EG vereinbar sei. Die Revision hat mit der Sachrüge (vorläufigen) Erfolg.

1. Allerdings ist eine Verletzung des Doppelverwertungsverbotes nicht gegeben; denn im Gegensatz zu der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft lässt sich dem Urteil noch entnehmen, dass der Angeklagte am 26. März 2010 wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Aufenthaltstitel verurteilt worden ist und die Tatzeit für die vorliegende Verurteilung ab dem 28. Juni 2010 liegt. Es lag auch, anders als in dem von dem BVerfG entschiedenen Fall der Kindesentziehung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Dezember 2006 – 2 BvR 1895/05 -) nach der durch das Urteil vom 26. März 2010 erfolgten Zäsur ein neuer nach außen erkennbarer Tatentschluss des Angeklagten für das der neuen Verurteilung zugrunde liegende Unterlassungsdelikt, vor, als der Angeklagte der Ausreiseverfügung vom 27. Mai 2010 – wieder - nicht nachgekommen ist.

2. Die Feststellungen des Amtsgerichts Tiergarten tragen jedoch den Schuldspruch des illegalen Aufenthalts im Bundesgebiet gemäß § 95 Abs. 1 Ziffer 2 AufenthG in alter und neuer Fassung nicht.

a) Nach § 95 Abs. 1 Ziffer 2 AufenthG in der bis zum 25. November 2011 geltenden Fassung wurde bestraft, wer sich ohne erforderlichen Aufenthaltstitel nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG im Bundesgebiet aufhält, vollziehbar ausreisepflichtig ist und dessen Abschiebung nicht ausgesetzt war. Mit Wirkung vom 26. November 2011 ist § 95 Abs. 1 Ziffer 2 AufenthG in Umsetzung u.a. der Richtlinie 2008 aus 115 EG (vgl. Gesetzesbegründung BTDs 17/5470 vom 12. April 2011 S. 1) in der Form geändert worden, dass die Strafbarkeit an die weitere Voraussetzung, nämlich die Nichtgewährung oder den Ablauf einer Ausreisefrist (§ 95 Abs. 1 Ziffer 2 b AufenthG) geknüpft wird. Wegen dieser weiteren Voraussetzung handelt es sich um ein milderes Gesetz, das für den Angeklagten Anwendung findet. Dass die Umsetzung der Richtlinie nicht wie vorgeschrieben, von dem bundesdeutschen Gesetzgeber bis zum 24. Dezember 2010, sondern erst mit Wirkung vom 26. November 2011 in deutsches Recht umgesetzt worden ist, hindert nicht ihre unmittelbare Anwendung für den Angeklagten (vgl. EuGH, Urteil vom 28. April 2011 Rdn. 46 – C-61/11 PPU -).

b. Allerdings verbietet die Richtlinie 2008 aus 115 EG (vgl. Gesetzesbegründung BTDs 17/5470 vom 12. April 2011 S. 1) im Gegensatz zu den Ausführungen der Verteidigung nicht die Strafbarkeit des Angeklagten nach § 95 Abs. 1 Ziffer 2 AufenthG (vgl. auch Hanseatisches OLG, Beschluss vom 25. Januar 2012 – 1/12. [bei juris]), wenn sich der Betroffene selbst außerhalb des Rückführungsverfahrens stellt, indem er sich der Aufsicht der Ausländerbehörde durch Untertauchen entzieht und dadurch verhindert, dass die Zuwanderung effektiv kontrolliert und der Prozess der Veränderung der Bevölkerungsstruktur und der Integration der ausländischen Bevölkerung in geordnete Bahnen gelenkt werden kann (vgl. Beschluss OLG Hamburg aaO.; EuGH Urteil vom 28. April 2011 aaO.; EuGH Urteil vom 6. Dezember 2011 aaO).

Um die Achtung der Grundrechte illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger zu wahren, legt die Richtlinie lediglich die Einzelheiten des Rückkehrverfahrens für illegal aufhältige Ausländer dar und schreibt die Reihenfolge der verschiedenen Schritte dieses Verfahrens fest.

Danach ist zunächst der Erlass einer Rückkehrentscheidung innerhalb einer angemessenen Frist geboten, wobei im Rahmen dieses einleitenden Schritts des Rückführungsverfahrens die freiwillige Ausreise grundsätzlich Vorrang haben soll (Art. 6 Richtlinie aaO.). Um die Rückkehrentscheidung zu vollstrecken, ist eine Abschiebung erforderlich, wenn der Ausländer nicht innerhalb der ihm gesetzten Frist seiner Ausreise freiwillig nachkommt (Art. 8 Richtlinie aaO.).Erst wenn Fluchtgefahr besteht oder der Ausländer die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren behindert, ist die Inhaftierung geboten (Art. 15 Richtlinie aaO.).

c. Voraussetzung für eine Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1 Ziffer 2 AufenthG ist daher in Umsetzung der genannten Richtlinie die vollständige Einhaltung des Rückkehrverfahrens und dessen entsprechende Darlegung in dem Urteil sowie Ausführungen dazu, dass sich der Angeklagte außerhalb dieses Verfahrens gestellt hat.

Dem wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Zwar teilt das Amtsgericht mit, dass der Angeklagte nicht innerhalb der ihm gesetzten Frist freiwillig seiner Ausreiseverpflichtung nachgekommen ist.

Es fehlen jedoch Angaben dazu, ob der Angeklagte in Abschiebehaft genommen worden ist, denn die Ausländerbehörden müssen zunächst die in der Richtlinie vorgesehenen ausländerrechtlichen Zwangsmaßnahmen ergreifen; ob Fluchtgefahr bestand und ob der Ausländerbehörde sein Aufenthalt auch ab dem 28. Juni 2010 bekannt war oder ob er untergetaucht war, lässt sich dem Urteil ebenfalls nicht entnehmen. Dies wäre jedoch erforderlich gewesen, denn ein Ausländer, dessen Aufenthalt den Ausländerbehörden bekannt ist, darf während des laufenden Rückführungsverfahrens nicht wegen illegalen Aufenthalts bestraft werden (vgl. ständige Rechtsprechung, BVerfG vom 6. März 2003, NSTZ 2003, 488 f.; BGH-Urteil vom 6. Oktober 2004 – 1 StR 76/04 -, OLG Hamburg, Beschluss vom 25. Januar 2012 – 3-1/12 (Rev), 3-1/12 (Rev)-1 Ss 196/11 – [bei Juris] und OLG Frankfurt NSTZ-RR 2009, 257).

Die dem Urteil zu entnehmenden Feststellungen zu der Tatzeit vom 28. Juni 2010 bis Urteilserlass am 7. Juni 2011 sind widersprüchlich; denn die freiwillige Ausreise muss dem Angeklagten während des gesamten Tatzeitraumes möglich gewesen sein.

Nach den Feststellungen war er aber bis 3. Januar 2011 inhaftiert, wobei in dem Urteil auch nicht mitgeteilt wird, ab wann er sich in Haft befunden hat.

Schließlich wird auch nicht mitgeteilt, in welcher Zeit der Angeklagte über Duldungen verfügte, so dass der Senat nicht überprüfen kann, ob eine Duldung - eventuell auch teilweise – in den Tatzeitraum fällt.

3. Das Urteil war daher nach § 349 Abs. 4 StPO mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 StPO). Der Senat weist darauf hin, dass angesichts der umfangreichen ausländerrechtlichen Voraussetzungen, die an die Strafbarkeit der Vorschrift des § 95 Abs. 1 Ziffer 2 AufenthG in Umsetzung der genannten Richtlinie gestellt werden, die Beiziehung der Ausländerakte erforderlich sein dürfte. [...]