OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.06.2012 - 11 A 2169/10 - asyl.net: M19870
https://www.asyl.net/rsdb/M19870
Leitsatz:

1. Ein Student begründet am Universitätsort nur unter besonderen Umständen einen Wohnsitz; in der Regel fehlt der Wille, sich ständig an diesem Ort niederzulassen. Mangelt es somit an der Begründung eines Wohnsitzes am Studienort, so behält der Student seinen bisherigen Wohnsitz.

2. Ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum "auf vergleichbare Art" kann auch vorliegen, wenn gegenüber den Militärbehörden die deutsche Volkszugehörigkeit kundgetan wurde.

3. Ein "bekenntnisloser" Zustand hinsichtlich des Erfordernisses eines durchgängigen Bekenntnisses zum deutschen Volkstum im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG ist bei einem Zeitraum vom fünf Monaten in der Regel noch nicht erfüllt.

4. Das gesetzlich vermutete Kriegsfolgenschicksal kann auch generationenübergreifend gegeben sein.

Schlagwörter: Aufnahmebescheid, Bundesvertriebenengesetz, Vertriebene, Aussiedler, Spätaussiedler, Wohnsitz, Aussiedlungsgebiet, Aufnahmebewerber, Kasachstan, deutsche Volkszugehörige, bekenntnisloser Zeitraum, widerlegliche Vermutung, Kriegsfolgenschicksal, Kriegsfolgen, Großeltern, Volkstum, Volkszugehörigkeit, Bekenntnis, Bekenntnis zum deutschen Volkstum,
Normen: BVFG § 27 Abs. 2, S. 1, BGB § 7 Abs. 1, BVFG § 6 Abs. 2 S. 1, BVFG § 5, BVFG § 4 Abs 1 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

Die zulässige Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der ablehnende Bescheid des Bundesverwaltungsamts vom 20. März 2008 und der Widerspruchsbescheid vom 4. Dezember 2008 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat einen Anspruch auf die Erteilung eines Aufnahmebescheids.

Rechtsgrundlage für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheids sind die §§ 26 und 27 Abs. 1 des Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz BVFG) und nicht - wie das Verwaltungsgericht angenommen hat - § 27 Abs. 2 Satz 1 BVFG. Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG wird der Aufnahmebescheid auf Antrag Personen mit Wohnsitz in den Aussiedlungsgebieten erteilt, die nach Begründung des ständigen Aufenthalts im Geltungsbereich des Gesetzes die Voraussetzungen als Spätaussiedler erfüllen. Nach § 27 Abs. 2 Satz 1 BVFG kann abweichend von § 27 Abs. 1 BVFG Personen, die sich ohne Aufnahmebescheid im Geltungsbereich aufhalten, ein Aufnahmebescheid erteilt werden, wenn die Versagung eine besondere Härte bedeuten würden und die sonstigen Voraussetzungen vorliegen.

Die Vorschrift des § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG findet entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts auf den Kläger Anwendung. Er hält sich im Geltungsbereich des Bundesvertriebenengesetzes auf, hat aber weder in der Bundesrepublik Deutschland einen Wohnsitz begründet noch seinen Wohnsitz im Aussiedlungsgebiet - was Voraussetzung für die Anwendung des § 27 Abs. 2 Satz 1 BVFG wäre - aufgeben.

Der Wohnsitzbegriff des Bundesvertriebenengesetzes entspricht dem des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB), so dass die Frage, ob ein Aufnahmebewerber seinen Wohnsitz (noch) im Aussiedlungsgebiet hat, nach den Vorschriften der §§ 7 bis 11 BGB zu beantworten ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. Januar 1989 - 9 B 356/88 -, Buchholz 412.3 § 1 BVFG Nr. 41; OVG NRW, Urteil vom 10. Dezember 1999 - 14 A 4582/96 -, und Beschluss vom 24. Mai 2006 - 12 A 613/04 -, juris).

Nach § 7 Abs. 1 BGB begründet, wer sich an einem Orte ständig niederlässt, an diesem Orte seinen Wohnsitz; nach § 7 Abs. 3 BGB wird der Wohnsitz aufgehoben, wenn die Niederlassung mit dem Willen aufgehoben wird, sie aufzugeben.

Die Wohnsitzbegründung setzt in objektiver Hinsicht eine Niederlassung in dem Sinn voraus, dass der Schwerpunkt der Lebensverhältnisse am Ort der Aufenthaltsnahme gebildet wird. In subjektiver Hinsicht ist der Wille erforderlich, den Schwerpunkt der Lebensverhältnisse dort dauernd beizubehalten. Die Wohnsitzaufhebung verlangt außer der tatsächlichen Aufgabe der Niederlassung einen Willensakt, den Schwerpunkt der Lebensverhältnisse nicht am bisherigen Wohnsitz zu belassen. Der Aufgabewille ist aus den konkreten Umständen des Einzelfalles zu ermitteln und kann häufig aus der Tatsache hergeleitet werden, dass die bisherige Niederlassung für lange Dauer, insbesondere mit dem Ziel der Auswanderung, verlassen und ein neuer Wohnsitz begründet worden ist (vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. September 1996 - 2 A 3387/93 -, m. w. N., und Beschluss vom 24. Mai 2006 - 12 A 613/04 -, a. a. O.; ferner Ellenberger, in: Palandt, BGB, 71. Aufl. 2012, § 7 Rdnr. 6 bis 12).

Dem - zum subjektiven Niederlassungswillen gehörenden - Merkmal der Dauerhaftigkeit steht die Ungewissheit darüber, ob die Niederlassung für immer beibehalten werden kann oder bei Gelegenheit in unbestimmter Zeit wieder aufgegeben werden muss, nicht entgegen. Die Ungewissheit, wie lange ein Aufenthalt dauern wird, kann deshalb kein Abgrenzungsmerkmal zwischen Wohnsitz und bloßem Aufenthalt sein. Deshalb steht der Begründung eines Wohnsitzes nicht schon der Umstand entgegen, dass die Verwirklichung des Willens zum dauernden Aufenthalt von ausländerrechtlichen Genehmigungen abhängig ist. Werden sie nicht erteilt oder nicht verlängert, so führt dies zwar notwendig zur Aufgabe der Niederlassung und damit zum Wegfall der Voraussetzungen eines Wohnsitzes. Die insoweit in der Regel bestehenbleibende rechtliche Ungewissheit schließt aber, solange die mit der Verlegung des räumlichen Lebensmittelpunktes verbundene Niederlassung tatsächlich besteht, den auf dauernde Aufenthaltsnahme gerichteten Niederlassungswillen und damit die Begründung des Wohnsitzes nicht aus (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Juni 1989 - 9 C 6.89 -, BVerwGE 82, 177 (179 f.) = juris, Rdnr. 11, m.w.N.).

Ein Student begründet am Universitätsort nur unter besonderen Umständen einen Wohnsitz; der Wille, sich ständig an einem Ort niederzulassen, fehlt regelmäßig bei einem Aufenthalt am Ort des Studiums. Mangelt es somit an der Begründung eines Wohnsitzes am Studienort, so behält der Student seinen bisherigen Wohnsitz. Eine polizeiliche Abmeldung begründet für sich allein weder eine Aufhebung des Wohnsitzes noch eine Rechtsvermutung für eine solche Aufhebung. Die polizeiliche An- und Abmeldung vermag allerdings einen Anhaltspunkt dafür zu bieten, dass der Studienort Ort des ständigen Aufenthalts ist, für sich allein genügt eine solche Handlung jedoch nicht, um einen ständigen Aufenthalt zu begründen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. Juni 1990 - 2 BvR 116/90 -, NJW 1990, 2193 (2194), m. w. N.; OLG Hamm, Beschluss vom 2. Mai 2001 - 8 WF 27/01 -, FamRZ 2002, 54 = juris; OLG Frankfurt/M. Beschluss vom 9. Februar 2009 - 1 WF 32/09 -, juris).

Allein der Umstand, dass ein Studium im Ausland aufgenommen wird, führt weder zur Aufgabe des Wohnsitzes im Inland noch zur Begründung eines neuen (ausschließlichen) Wohnsitzes im Ausland (vgl. OLG Frankfurt/M. Beschluss vom 9. Februar 2009 - 1 WF 32/09 -, a a.O.).

Gemessen an diesen Maßstäben hat der Kläger einen (ausschließlichen) Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland nicht begründet und seinen Wohnsitz in Kasachstan nicht aufgegeben.

Es fehlen schon in objektiver Hinsicht Anhaltspunkte für die Begründung eines Wohnsitzes im Geltungsbereich des Bundesvertriebenengesetzes. Denn der Kläger hat sich in Deutschland nicht derart niedergelassen, dass er den Schwerpunkt seiner Lebensverhältnisse hierhin verlegt hätte. Er hält sich in Deutschland (nur) zum Zwecke und für die Dauer des Studiums auf. Der Schwerpunkt seiner Lebensverhältnisse liegt immer noch in Kasachstan. Er hat bei seiner Mutter weiterhin eine Bleibemöglichkeit und ist unter der Adresse seiner Mutter nach wie vor gemeldet. Ferner ist er mit einer auf der Grundlage des § 16 Abs. 1 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis eingereist. Diese kann nach § 16 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nur zum Zweck des Studiums und nicht zum Zweck der Niederlassung in der Bundesrepublik Deutschland erteilt werden. Darüber hinaus kann die Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Studiums nicht unbefristet, und damit von vornherein nicht auf einen dauerhaften Aufenthalt gerichtet, erteilt werden. Denn sie hat nach § 16 Abs. 1 Satz 5 AufenthG eine Geltungsdauer von einem bis maximal zwei Jahren; sie kann auch nur verlängert werden, wenn der Aufenthaltszweck noch nicht erreicht ist und in einem angemessenen Zeitraum noch erreicht werden kann.

Der Kläger ist auch nicht mit dem Willen in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, diese dauerhaft zum Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse zu machen. Er ist vielmehr mit der Absicht eingereist, sich hier vorübergehend zum Zweck des Studiums aufzuhalten und nicht, um sich hier auf Dauer niederzulassen. Denn für ihn bestand, anders als etwa bei der Einreise im Wege des Familiennachzugs nach den §§ 27 ff. AufenthG oder nach Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Erwerbstätigkeit unter den Voraussetzungen der §§ 18, 18a AufenthG, schon bei der Einreise und Aufenthaltsnahme in der Bundesrepublik Deutschland die Gewissheit, dass die Aufenthaltserlaubnis nur zum Zweck und nur für die Dauer des Studiums erteilt worden ist bzw. verlängert werden kann.

Zudem ist eine Wohnsitzaufgabe in Kasachstan bereits objektiv nicht feststellbar. Der Kläger hat - wie oben aufgeführt - nach wie vor eine Bleibemöglichkeit bei seiner Mutter. Allein der Umstand, dass er seit Februar 2009 - mangels entsprechender finanzieller Mittel und auch aus zeitlichen Gründen - nicht mehr zu Hause gewesen ist, ändert daran nichts.

Auch in subjektiver Hinsicht hat der Kläger seinen Wohnsitz in Kasachstan nicht aufgegeben. Weder die Ausreise aus Kasachstan zum Zweck der Studienaufnahme in Deutschland noch die Durchführung des Vertriebenenverfahrens dokumentieren eine Absicht des Klägers, die Niederlassung in Kasachstan aufzugeben. Die Ausreise wegen der Studienaufnahme war nicht als endgültige Ausreise aus Kasachstan beabsichtigt, sondern - wie oben bereits dargelegt - nur für die Dauer des Studiums. Den Antrag auf Aufnahme nach dem Bundesvertriebenengesetz hat der Kläger schon knapp zwei Jahre vor seiner studienbedingten Ausreise gestellt. Das Verwaltungsverfahren ist vor seiner Ausreise abgeschlossen gewesen, selbst die Klage gegen den Ablehnungsbescheid hat er zuvor erhoben. Allein mit Blick auf den negativen Ausgang des vertriebenenrechtlichen Verwaltungsverfahrens schon vor seiner Ausreise aus Kasachstan dürfte sich eine Vorstellung auf Seiten des Klägers verbeten haben, das Aufnahmeverfahren werde während seines Studiums im Klagewege schon erfolgreich abgeschlossen werden können mit der Folge, dass weder eine auch nur vorübergehende Rückkehr nach Kasachstan noch die Erteilung einer (anderen ausländerrechtlichen) oder Verlängerung der erteilten Aufenthaltserlaubnis erforderlich sein würde.

Mangels Begründung eines Wohnsitzes in Deutschland und mangels Aufgabe seines Wohnsitzes im Aussiedlungsgebiet kann dem Kläger auch nicht - wie das Verwaltungsgericht unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ausgeführt hat - entgegengehalten werden, er habe den Ausgang des Klageverfahrens abwarten und vorerst auf die Studienaufnahme in Deutschland verzichten müssen. Zwar muss ein Ausländer, dem zum Zwecke der Arbeitsaufnahme eine befristete ausländerrechtliche Aufenthaltsgenehmigung erteilt worden ist, selbst abwägen, ob er die ihm damit eingeräumte Möglichkeit eines Aufenthalts in Deutschland wahrnehmen oder - unter vorläufigem Verzicht darauf - zum Zwecke der Erlangung des Aussiedler- bzw. Spätaussiedlerstatus die Erteilung eines Aufnahmebescheids im Aussiedlungsgebiet abwarten will. Entscheidet er sich für eine Übersiedlung nach Deutschland auf ausländerrechtlicher Grundlage, sind ihm die negativen vertriebenenrechtlichen Folgen dieser freien Entscheidung zuzurechnen. Er muss, wenn er sie beseitigen will, in das Aussiedlungsgebiet zurückkehren. (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. November 1999 5 C 6.99 -, NVwZ-RR 2000, 468 = juris).

Der Kläger hat sich aber - wie oben aufgeführt - nicht für eine Übersiedlung nach Deutschland auf ausländerrechtlicher Grundlage entschieden, sondern ist allein mit einer nur zum Zweck der Aufnahme und für die Dauer eines Studiums erteilten Aufenthaltserlaubnis hier eingereist und hält sich hier auch nur für Studienzwecke auf.

Der Kläger erfüllt auch die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 27 Abs. 1 Satz 1 BVFG. Spätaussiedler aus dem hier in Rede stehenden Aussiedlungsgebiet der ehemaligen Sowjetunion kann nach § 4 Abs. 1 BVFG nur sein, wer deutscher Volkszugehöriger ist. Da der Kläger nach dem 31. Dezember 1923 geboren ist, ist er nach § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG deutscher Volkszugehöriger, wenn er von einem deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen abstammt und sich bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete durch eine entsprechende Nationalitätenerklärung oder auf vergleichbare Weise nur zum deutschen Volkstum bekannt oder nach dem Recht des Herkunftsstaates zur deutschen Nationalität gehört hat. Das Bekenntnis zum deutschen Volkstum oder die rechtliche Zuordnung zur deutschen Nationalität muss bestätigt werden durch die familiäre Vermittlung der deutschen Sprache (§ 6 Abs. 2 Satz 2 BVFG). Diese ist nur festgestellt, wenn jemand im Zeitpunkt der verwaltungsbehördlichen Entscheidung über den Aufnahmeantrag auf Grund dieser Vermittlung zumindest ein einfaches Gespräch auf Deutsch führen kann (§ 6 Abs. 2 Satz 3 BVFG).

Der Kläger erfüllt das Merkmal der Abstammung von einem deutschen Volkszugehörigen im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG. Der in dieser Vorschrift verwendete Abstammungsbegriff erfasst auch die Großeltern (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Januar 2008 5 C 8.07 -, BVerwGE 130, 197 (200) = juris, Rdnr. 14). [...]

Dem Großvater des Klägers, der wegen seiner deutschen Volkszugehörigkeit im Jahr 1941 zwangsumgesiedelt worden war und bis 1956 der sowjetischen Kommandantur unterstanden hatte, ist am 21. September 1994 durch das Bundesverwaltungsamt ein Aufnahmebescheid erteilt worden, der bestandskräftig ist. [...]

Der Kläger hat sich auch "nur" zum deutschen Volkstum bekannt. Zu fordern ist insoweit, sich im Aussiedlungsgebiet von der Bekenntnisfähigkeit an ausschließlich und durchgängig zum deutschen Volkstum zu bekennen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. Juni 2010 - 5 B 49.09 -, NVwZ 2010, 1162 (1163) = juris, Rdnr. 3, m.w.N.).

Die für die im Gesetz vorgesehenen Formen des Bekenntnisses - die Nationalitätenerklärung (1. Alternative) und das Bekenntnis auf vergleichbare Weise (2. Alternative) - erforderliche Erklärungs- bzw. Bekenntnisfähigkeit liegt jedenfalls mit Eintritt der Volljährigkeit vor, wobei die Bekenntnisreife auch schon ab Vollendung des 16. Lebensjahres angenommen werden kann und sich die Erklärungsfähigkeit nach dem Recht des Herkunftsstaates richtet. In dem Zeitraum zwischen dem Eintritt der Bekenntnis- bzw. Erklärungsfähigkeit bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete muss mithin - positiv - ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum erfolgt sein und darf - negativ - kein "Gegenbekenntnis" vorliegen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. November 2003 - 5 C 40.03 -, BVerwGE 119, 192 (194 f.) = juris, Rdnr. 13, m.w.N.).

Der Kläger hat ein Bekenntnis durch Nationalitätenerklärung abgegeben. Ihm ist am 11. Februar 2005, also im Alter von rund 17 Jahren und drei Monaten und damit ca. eineinviertel Jahre nach dem Eintritt in das bekenntnisfähige Alter, ein Reisepass (Nr. N.....) und ein Personalausweis (Nr. ...) jeweils mit deutschem Nationalitätseintrag ausgestellt worden. [...]

Es steht zur Überzeugung des Senats fest, dass dem Kläger zuvor weder ein Pass noch ein Personalausweis mit kasachischem Nationalitätseintrag ausgestellt worden ist. Die gegenteilige Annahme der Beklagten ist mit Blick auf die Angaben des Klägers und die vorgelegten Dokumente fernliegend. […]

Der Senat teilt nicht die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass der Kläger für den Zeitraum vom 30. Oktober 2003 (Vollendung seines 16. Lebensjahres) bis Anfang 2005 das Ablegen eines Bekenntnisses zum deutschen Volkstum nicht habe nachweisen können. Auch wenn die anlässlich des Sprachtests vorgelegte Wehrerfassungskarte oder -bescheinigung, ausgestellt am 23. März 2004, nicht einer durch Eintragung in den (Inlands-)Pass abgegebenen Nationalitätserklärung unmittelbar gleichsteht, hat sich der Kläger dadurch aber jedenfalls "auf vergleichbare Weise" zum deutschen Volkstum bekannt. Denn er hat gegenüber den Militärbehörden und damit gegenüber einer offiziellen staatlichen Stelle ausdrücklich kundgetan, er sei deutscher Volkszugehöriger; entsprechend seiner Kundgabe wird er bei den Militärbehörden auch als deutscher Volkszugehöriger geführt (vgl. zum Bekenntnis "auf vergleichbare Weise" etwa durch Kundgabe der deutschen Volkszugehörigkeit gegenüber der Universität bei der Immatrikulation: OVG NRW, Urteil vom 8. September 2011 - 11 A 2603/09 -, juris).

Der Senat sieht im Gegensatz zur Beklagten das Bestehen eines bekenntnislosen Zeitraums von knapp fünf Monaten, nämlich vom 31. Oktober 2003 bis zum 22. März 2004, insbesondere auch im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts als hinnehmbar an. Denn danach ist das Erfordernis eines ausschließlichen ("nur") Bekenntnisses zum deutschen Volkstum im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 1 BVFG (erst) dann nicht erfüllt, wenn über einen längeren Zeitraum ein "bekenntnislosen" Zustand besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. November 2003 - 5 C 41.03 -, Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 104 = juris, Rdnr. 19).

Als einen längeren Zeitraum vermag der Senat den Ablauf von knapp fünf Monaten nicht anzusehen. Dies gilt erst recht vor dem Hintergrund, dass der Kläger gerade erst in das bekenntnisfähige Alter eingetreten war, denn schließlich war er noch nicht ganz 16einhalb Jahre, als er sich gegenüber den Militärbehörden zum deutschen Volkstum bekannte.

Abgesehen davon dürfte der Kläger auch gemäß § 6 Abs. 2 Satz 1 dritte Bekenntnisalternative BVFG nach dem Recht des Herkunftsstaats zur deutschen Nationalität gehören. Denn die Eintragung seiner deutschen Nationalität in den Personalausweis sowie auch in den Pass war entsprechend der am 23. Februar 2000 ausgestellten Geburtsurkunde erfolgt, in der die Mutter mit deutscher Nationalität eingetragen ist und hinsichtlich deren Echtheit der Senat - mit Blick auf die vom Kläger im Verwaltungsverfahren vorgelegte, mit einer dem Haager Übereinkommen entsprechenden Apostille versehenen Kopie dieser Urkunde - keine Zweifel hat. Diese Eintragung war und ist rechtlich verbindlich und trat an die Stelle der für den Kläger von seiner Mutter abgeleiteten Nationalität (vgl. zu der in der ehemaligen Sowjetunion vorgesehenen Eintragung der Nationalität in den Inlandspass: OVG NRW, u a. Urteil vom 2. Februar 2010 - 12 A 3262/06 -, juris, Rdnr. 39, m.w.N.).

Der Kläger hat auch nachgewiesen, dass er im Zeitpunkt der verwaltungsbehördlichen Entscheidung über den Aufnahmeantrag auf Grund familiärer Vermittlung ein (einfaches) Gespräch auf Deutsch führen konnte (§ 6 Abs. 2 Sätze 2 und 3 BVFG). Nach den Feststellungen des Generalkonsulats der Bundesrepublik Deutschland in ... anlässlich des am 21. Juni 2007 durchgeführten Sprachtests war das Führen eines (einfachen) Gesprächs mit dem Kläger trotz einiger Mängel (bei der Wortwahl, der Grammatik, dem Satzbau, des Sprachflusses) möglich. Der Kläger hat auch glaubhaft dargelegt, dass ihm die deutsche Sprache durch die Mutter und insbesondere durch den Großvater, dessen Muttersprache deutsch ist, vermittelt worden ist. Bei dem Großvater hat der Kläger von seinem zweiten oder dritten Lebensjahr an bis zum siebten Lebensjahr gelebt. Im Übrigen hat die Beklagte die Voraussetzungen des Tatbestandsmerkmals der familiären Vermittlung der deutschen Sprache im Laufe des gerichtlichen Verfahrens unstreitig gestellt.

Der Kläger begehrt die Aufnahme in der Bundesrepublik Deutschland wegen der Spätfolgen der in den Aussiedlungsgebieten gegen die deutsche Bevölkerung gerichteten Vertreibungsmaßnahmen. Die für ihn streitende gesetzliche Vermutung eines nach wie vor bestehenden Vertreibungsdrucks ist entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht widerlegt.

Der in § 26 BVFG in Bezug genommene Spätaussiedler erlangt Aufnahme in der Bundesrepublik Deutschland, weil "die Situation der deutschen Staatsangehörigen und deutschen Volkszugehörigen trotz des zeitlichen Ablaufs noch unmittelbar mit den Maßnahmen zusammenhängt, die während oder nach Kriegsende gegen die deutschen Volksgruppen in den heutigen Aussiedlungsgebieten ergriffen wurden" (vgl. BT-Drucks. 12/3212, S. 19 f.).

Ausschlaggebend ist die Erwägung, dass die Lage und Entwicklung der deutschen Volksgruppen in den Aussiedlungsgebieten unmittelbar oder mittelbar durch Maßnahmen während des Krieges oder nach Kriegsende geprägt ist (vgl. BT-Drucks. 12/3212, S. 22).

Dabei liegt dem Gesetz die - widerlegliche - Vermutung zugrunde, dass die Ausreise durch den Vertreibungsdruck bedingt ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 1987 - 9 C 266.86 , BVerwGE 78, 147 ff.; OVG NRW, Beschlüsse vom 16. April 2008 - 2 A 533/07 , und vom 3. Februar 2006 12 E 1538/05 ; Urteil vom 11. Januar 2000 2 A 5888/94 , juris), wobei der Vertreibungsdruck bereits über die gelebte deutsche Volkszugehörigkeit vermittelt wird (vgl. BT-Drucks. 12/3212, S. 22, wonach das "gelebte Bewusstsein", deutscher Volkszugehöriger zu sein, "ein Kriegsfolgenschicksal" "impliziert").

Die widerlegliche Vermutung eines in Anknüpfung an die gelebte deutsche Volkszugehörigkeit bestehenden Vertreibungsdrucks setzt nicht voraus, dass die im Aussiedlungsgebiet zurückgebliebenen Volksdeutschen zum frühestmöglichen Zeitpunkt ausreisen und einen diesbezüglichen Aufnahmeantrag stellen müssen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 1987 - 9 C 266.86 , a. a. O.; BT-Drucks. 12/3212, S. 22:

"Aus der Lage, wie sie durch die gegen die deutschen Volksgruppen gerichteten Vertreibungsund Verfolgungsmaßnahmen entstanden ist, können viele deutsche Volkszugehörige erst jetzt nach einer gewissen Liberalisierung der Verhältnisse für ihre Person die Konsequenzen ziehen. Ungeachtet der Frage, ob die in den Aussiedlungsgebieten eingeleiteten Bestrebungen zu einer Staatsordnung auf freiheitlich-demokratischer Grundordnung kontinuierlich fortgeführt werden, liegt es im innerstaatlichen Interesse der Bundesrepublik Deutschland, die Betroffenen nicht zu veranlassen, diese Entscheidung kurzfristig und im Wege der Aussiedlung zu treffen. Auch wenn sie abwarten, wie sich die erst jetzt mögliche Stabilisierung der rechtlichen und tatsächlichen Lage der deutschen Volksgruppen entwickelt und sich zu einem späteren Zeitpunkt doch für eine Aussiedlung entscheiden, ändert dies nichts an der grundsätzlichen Betroffenheit dieser Personen durch die Verfolgungsmaßnahmen in Folge des Krieges".

Der Gesetzgeber hat mit der widerleglichen Vermutung zudem gerade auch bezweckt, dass die Verwaltung von einer - im Regelfall fruchtlosen - Ermittlung der Einzelfallumstände in den Aussiedlungsgebieten Abstand nimmt (vgl. BT-Drucks. 12/3212, S. 22:

"Die Feststellung eines Kriegsfolgenschicksals im Einzelfall wird damit entbehrlich. Für die Verwaltung ist es auch in aller Regel nicht mehr möglich festzustellen, in welchem Umfang der einzelne Antragsteller von Auswirkungen betroffen ist, ob dieses Betroffen-sein noch als Kriegsfolgenschicksal im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes anerkannt werden kann oder ob andere Ausreisemotive dieses Schicksal überlagern".

Diese widerlegliche Vermutung gilt auch generationsübergreifend. § 6 Abs. 2 BVFG beinhaltet einen weiten, generationsübergreifenden Abstammungsbegriff und schließt - auch und gerade im Falle einer, wie hier, maßgeblichen Erziehungs- und Prägesituation der Großeltern - ein über die Elterngeneration hinausreichendes Verständnis dieses Begriffs nicht aus. Denn der Sinn des Abstammungsbegriffs, die Aussiedlung auf Personen mit einem deutsch geprägten kulturellen Familienhintergrund (und ihre Angehörigen) zu beschränken, fordert keine Beschränkung auf die Abstammung nur und gerade von volksdeutschen Eltern. Durch die Erfordernisse der familiären Sprachvermittlung und des Bekenntnisses ist gleichermaßen eine generationsübergreifende kulturelle Identitätsvermittlung für die deutsche Volkszugehörigkeit vorausgesetzt (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 25. Januar 2008 5 C 8.07 -, BVerwGE 130, 197 (200 f.) = juris, Rdnr. 14 ff.; Berlit, Anmerkung vom 21. Juli 2008 zu dieser Entscheidung, juris).

Vergleichbar verhält es sich auch mit der dem Gesetz zugrunde liegenden Vermutung eines bestehenden Vertreibungsdrucks. Jedenfalls spricht nichts dafür, dass nach dem Willen des Gesetzgebers der Tatbestand dieser widerleglichen Vermutung allein auf die der Erlebnisgeneration unmittelbar nachfolgende Generation beschränkt werden sollte. Denn das Gesetz "stellt nicht nur auf die erste nach Kriegsende geborene Generation ab. Die weiteren Generationen sind erfaßt. Jedoch muss jede Person deutsche Volkszugehörige sein, d. h. alle Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 erfüllen" (vgl. BT-Drucks. 12/3212, S. 23).

Mit Blick darauf kann sich auch das vermutete Kriegsfolgenschicksal wird die deutsche Volkszugehörigkeit von den Betreffenden gelebt - über die Elterngeneration hinaus auf die Enkel und Urenkel der Erlebnisgeneration erstrecken.

Die widerlegliche gesetzliche Vermutung entfällt erst dann, wenn die in § 4 Abs. 1 Nr. 3 letzter Halbsatz BVFG geregelte Rückausnahme vorliegt, also wenn Eltern und Voreltern den Wohnsitz nach dem 31. März 1952 in die Aussiedlungsgebiete verlegt haben, oder bei der Erfüllung eines der Ausschlusstatbestände des § 5 BVFG, "bei deren Vorliegen davon auszugehen ist, daß der Betroffene kein Kriegsfolgenschicksal erlitten hat oder die Aussiedlung aus kriminellen Gründen anstrebt" (vgl. BTDrucks. 12/3212, S. 23; zur Widerlegung der Regelvermutung des Vertreibungsdrucks unter den Voraussetzungen des § 5 Nr. 2 b) und c) BVFG: BVerwG, Urteile vom 29. März 2001 - 5 C 24.00 -, Buchholz 412.3 § 5 BVFG Nr. 5 = juris, und vom 21. Oktober 1997 - 9 C 27.96 -, juris), oder wenn sonst eindeutige Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Antragsteller Aufnahme in Deutschland aus vertreibungsfremden Gründen begehrt.

Ausgehend hiervon greift die gesetzliche Regelvermutung entgegen der Auffassung der ersten Instanz für den Kläger. Er ist deutscher Volkszugehöriger und hat sich das Bewusstsein, deutscher Volkszugehöriger zu sein, erhalten. Ihm ist die deutsche Abstammung wie die deutsche Sprache jedenfalls generationsübergreifend durch den Großvater vermittelt worden; er hat zudem kurz nach dem Eintritt seiner Bekenntnisfähigkeit durchgehend ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum abgelegt und dürfte darüber hinaus nach kasachischem Recht als zur deutschen Nationalität zugehörig zählen. Deswegen kann dahingestellt bleiben, ob die Mutter des Klägers, die ein Bekenntnis zum russischen Volkstum abgelegt hatte und sich erst im Jahr 2000 (im Zusammenhang mit der Neuausstellung der Geburtsurkunde des Klägers und Eintragung ihrer deutschen Nationalität) wieder dem deutschen Volkstum zugewandt hat, den Kläger deutsch mitgeprägt hat oder nicht. Eine Unterbrechung des Bekenntniszusammenhangs - so wie es die erste Instanz angenommen hat - ist mit Blick auf die jedenfalls vom Großvater auf den Kläger übergreifende Vermittlung des deutschen Volkstums nicht eingetreten.

Allein der Umstand, dass der Kläger sich zurzeit nicht im Aussiedlungsgebiet aufhält, begründet keinen Ausnahmefall von der gesetzlichen Regelvermutung eines weiterhin bestehenden Vertreibungsdrucks. Denn der Kläger hat - wie oben festgestellt - nach wie vor seinen Wohnsitz im Aussiedlungsgebiet und ist deswegen im Falle einer Rückkehr nach Kasachstan jederzeit den dortigen Verhältnissen ausgesetzt, die - anders als bei der Herkunft eines Spätaussiedlers aus anderen Gebieten als der ehemaligen Sowjetunion (vgl. § 4 Abs. 2 BVFG) - kraft Gesetzes die Vermutung von weiter bestehenden Benachteiligungen der dort lebenden deutsche Volksgruppe begründen.

Die danach zugunsten des Klägers anzunehmende Regelvermutung eines bestehenden Vertreibungsdrucks ist auch nicht widerlegt. Es sind keine Anhaltspunkte für das Vorliegen der Rückausnahme nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 letzter Halbsatz BVFG oder eines der Ausnahmetatbestände des § 5 BVFG gegeben. Auch ist weder ersichtlich noch von der Beklagten vorgetragen, dass der Kläger die Aufnahme aus sonstigen vertreibungsfremden Gründen begehrt. [...]