VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 26.06.2012 - 27 K 3704/11 - asyl.net: M19849
https://www.asyl.net/rsdb/M19849
Leitsatz:

Zum Widerruf einer Niederlassungserlaubnis nach Verzicht auf die Flüchtlingsanerkennung, insbesondere zur Frage eines Anspruchs auf einen gleichwertigen Aufenthaltstitel, den diesbezüglichen zeitlichen Voraussetzungen sowie der Sicherung des Lebensunterhaltes.

(Amtlicher Leitssatz)

Schlagwörter: Widerruf, Niederlassungserlaubnis, Flüchtlingsanerkennung, Asylanerkennung, Sicherung des Lebensunterhalts, Widerrufsermessen, Ermessen,
Normen: AufenthG § 52 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 28 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 9 Abs. 2, AufenthG § 2 Abs. 3 S. 1, SGB VI § 43 Abs. 1 S. 2,
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist unbegründet. Denn der angegriffene Widerruf der der Klägerin am 1. Juni 2010 erteilten Niederlassungserlaubnis mit Wirkung für die Zukunft mit Bescheid der Beklagten vom 25. Mai 2011 ist nach der grundsätzlich insoweit maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. April 2010 - 1 C 10.09 -, juris (Rn. 11) rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Rechtsgrundlage für diese Verfügung ist § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG. Nach dieser Vorschrift kann der Aufenthaltstitel eines Ausländers widerrufen werden, wenn seine Anerkennung als Asylberechtigter oder seine Rechtsstellung als Flüchtling erlischt oder unwirksam wird. Diese tatbestandlichen Voraussetzungen liegen hier angesichts des von der Klägerin mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 2. Dezember 2010 gegenüber der Ausländerbehörde ausdrücklich erklärten Verzichts auf die in Bezug auf ihre Person getroffene Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG als der Vorgängervorschrift des § 60 Abs. 1 AufenthG zur Rechtsstellung als Flüchtling vor. Denn durch diesen Verzicht ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wirksam gemäß § 72 Abs. 1 Nr. 4 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) erloschen.

Der Beklagte hat bei seiner Entscheidung, die Niederlassungserlaubnis der Klägerin zu widerrufen, auch das ihm durch § 52 Abs. 1 Satz 1 AufenthG eingeräumte Ermessen innerhalb der gesetzlichen Grenzen und entsprechend dem Zweck der Ermächtigung ausgeübt (vgl. § 114 Satz 1 VwGO).

Das Widerrufsermessen des Beklagten war und ist nicht von vornherein so beschränkt, dass nur eine Absehen vom Widerruf rechtmäßig wäre. Insbesondere scheidet der Widerruf nach den Grundsätzen von Treu und Glauben nicht deswegen aus, weil die Klägerin unabhängig von ihrer (entfallenen) Rechtsstellung als Flüchtling aus anderen Rechtsgründen einen Anspruch auf ein gleichwertiges Aufenthaltsrecht, d.h. eine Niederlassungserlaubnis hat, die Behörde also der Klägerin den betreffenden Aufenthaltstitel aus anderen Rechtsgründen sogleich wieder erteilen müsste (Verbot widersprüchlichen Verhaltens (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. April 2010 - 1 C 10.09 -, juris (Rn. 18); BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2003 – 1 C 13.02 -, juris (Rn. 16); OVG NRW, Beschluss vom 7. Juli 2006 – 18 A 3138/05 -, juris (Rn. 12); VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26. Juli 2006 – 11 S 951/06 -, juris (Rn. 20); VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 22. Februar 2006 – 11 S 1066/05 -, juris (Rn. 18)).

Denn der Klägerin stand weder bei Erlass der Ordnungsverfügung vom 25. Mai 2011 ein Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis aus anderen Rechtsgründen zu, noch ist dies zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung der Fall (vgl. auf diese Zeitpunkte abstellend: BVerwG, Urteil vom 13. April 2010 - 1 C 10.09 -, juris (Rn. 18 f.)).

Ein solcher Anspruch ergibt sich weder aus § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG noch aus § 9 Abs. 2 AufenthG.

Bei Erlass der Ordnungsverfügung vom 25. Mai 2011 erfüllte die Klägerin bereits nicht die zeitlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. [...]

Nach der gesetzlichen Definition in § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist der Lebensunterhalt eines Ausländers gesichert, wenn er ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Dabei bleiben die in § 2 Abs. 3 Satz 2 AufenthG aufgeführten öffentlichen Mittel außer Betracht. Es bedarf mithin der positiven Prognose, dass der künftige Lebensunterhalt des Ausländers auf Dauer ohne Inanspruchnahme anderer öffentlicher Mittel gesichert ist. Dies erfordert einen Vergleich des voraussichtlichen Unterhaltsbedarfs mit den voraussichtlich zur Verfügung stehenden Mitteln. Dabei richtet sich die Ermittlung des Unterhaltsbedarfs und des zur Verfügung stehenden Einkommens seit der Änderung des Rechts der Sozial- und Arbeitslosenhilfe vom 1. Januar 2005 bei erwerbstätigen Ausländern im Grundsatz nach den entsprechenden Bestimmungen des SGB II. Erstrebt ein erwerbsfähiger Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis zum Zusammenleben mit seinen Familienangehörigen in einer häuslichen Gemeinschaft oder lebt er – wie die Klägerin – bereits mit ihrer Familie zusammen, so gelten für die Berechnung seines Anspruchs auf öffentliche Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II grundsätzlich die Regeln über die Bedarfsgemeinschaft nach § 9 Abs. 1 und 2 i.V.m. § 7 Abs. 3 SGB II. Da sich im Grundsatz nach den Maßstäben des Sozialrechts bemisst, ob der Lebensunterhalt des Ausländers gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gesichert ist, scheidet in den vom SGB II erfassten Fällen eine isolierte Betrachtung des Hilfebedarfs für jedes einzelne Mitglied der familiären Gemeinschaft aus. Vielmehr gilt in einer Bedarfsgemeinschaft, wenn deren gesamter Bedarf nicht gedeckt werden kann, jede Person im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Gesamtbedarf als hilfebedürftig (§ 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II) (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 2010 - 1 C 21.09 -, juris (Rn. 15 f.)).

Die Klägerin lebt weiterhin in häuslicher Gemeinschaft mit ihrem Ehemann und dem gemeinsamen Sohn F und bildet mit ihnen eine Bedarfsgemeinschaft, die – wie bereits bei Erlass des Widerrufsbescheides vom 25. Mai 2011 – auch derzeit ergänzende laufende Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB II bezieht, so dass auch die Klägerin zur Zeit hilfebedürftig und ihr Lebensunterhalt nicht im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gesichert ist.

Es liegt insoweit auch keine Ausnahme vom Regelfall des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vor. Von einer solchen Ausnahme ist bei besonderen, atypischen Umständen auszugehen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, oder aber, wenn höherrangiges Recht wie der Schutz von Ehe und Familie oder unionsrechtliche Vorgaben es gebieten. Solche Umstände sind hier nicht gegeben. Insbesondere liegt nicht der atypische Fall vor, in dem die Bedarfslücke nur durch den Unterhaltsbedarf eines deutschen Kindes entsteht, für das die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis an einen Elternteil keine Verfestigung des Aufenthalts und damit auch keine zusätzliche Belastung der öffentlichen Haushalte bedeutet, da es aufgrund seiner deutschen Staatsangehörigkeit ohnehin Anspruch auf dauerhaften Verbleib in der Bundesrepublik hat (vgl. hierzu: BVerwG, Urteil vom 16. August 2011 - 1 C 12.10 -, juris (Rn. 18 f.)).

Die Bedarfslücke entsteht im vorliegenden Fall nicht allein durch deutsche Familienangehörige. Die Klägerin wäre vielmehr auch bei Ausblendung des Bedarfs ihres deutschen Sohnes F hilfebedürftig im Sinne des § 9 SGB II. Denn zur Annahme der Sicherung des Lebensunterhaltes im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG müsste unter diesen Umständen nichtsdestotrotz der Bedarf von ihr und ihrem türkischen Ehemannes aus eigenen Einkünften gedeckt sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. August 2011 - 1 C 12.10 -, juris (Rn. 19)), was nicht der Fall ist. [...]

Dass die Klägerin und ihr Ehemann gegebenenfalls in der Zwischenzeit – etwa bei Ablauf der Drei- Jahresfrist des § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG gerechnet vom Zeitpunkt der Einbürgerung des Sohnes an, d.h. am 30. Oktober 2011, als der Ehemann noch nicht seine letzte Anstellung bei der Firma B in W verloren hatte, was erst einen Monat später geschah (vgl. Bl. 548 der Beiakte Heft 3) – ihren eigenen Lebensunterhalt (vorübergehend) aus eigenen Mitteln sicherstellen konnten, rechtfertigt die Annahme einer Ausnahme von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nicht. Abgesehen davon, dass auch damals selbst unter Zugrundelegung der für die Klägerin günstigsten Ansätze (lediglich angemessene Unterkunftskosten auf der Bedarfsseite und keine Freibeträge auf der Einkommensseite) der geringfügige Einkommensüberschuss angesichts des fortlaufenden Hilfebezugs keine uneingeschränkt positive Prognose über die zukünftige Sicherung des Lebensunterhaltes zuließ, macht eine vorübergehende Erfüllung der Voraussetzungen für die Erteilung eines gleichwertigen Aufenthaltstitels nach Erlass des Widerrufs der bisherigen Niederlassungserlaubnis, die bereits im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung wieder entfallen ist, den Widerruf nicht unter dem Gesichtspunkt des widersprüchlichen Verhaltens ermessensfehlerhaft. Denn jedenfalls unter diesen Umständen kann der Behörde nicht der Vorwurf gemacht werden, sie habe die Niederlassungserlaubnis widerrufen, obwohl sie dem Ausländer den gleichen Titel sogleich wieder erteilen müsste. Die Niederlassungserlaubnis der Klägerin ist vielmehr mit Bekanntgabe des sofort vollziehbaren Widerrufs erloschen. Ob sie zu einem späteren Zeitpunkt einen neuen Anspruch erworben hat, ist hiervon unabhängig. Dementsprechend hat auch das Bundesverwaltungsgericht es in seinem oben zitierten Urteil vom 13. April 2010 (1 C 10.09) im Hinblick auf die Erfüllung der zeitlichen Voraussetzungen für die Erteilung eines gleichwertigen Aufenhaltstitels nicht ausreichen lassen, "dass der Kläger zu irgendeinem Zeitpunkt sieben Jahre lang im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis war" (juris [Rn. 19]).

Ein entsprechender Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ergibt sich für die Klägerin auch nicht aus § 9 Abs. 2 AufenthG. Insoweit ist bereits die zeitliche Voraussetzung eines fünfjährigen Besitzes der Aufenthaltserlaubnis (Satz 1 Nr. 1) auch unter Berücksichtigung eines aufenthaltsrechtlichen Status der Klägerin nach Art. 6 Abs. 1 ARB nicht erfüllt. Zwar ist eine Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 ARB von der ursprünglichen Zuerkennung des Flüchtlingsstatus unabhängig, so dass ein darauf aufbauender etwaiger Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis – wie für die damit begründete Annahme eines entsprechenden Ermessensfehlers des Widerrufs erforderlich – (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2003 – 1 C 13.02 -, juris (Rn. 16)) auf anderen Rechtsgründen beruhen würde. Das aktuelle assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht der Klägerin besteht jedoch – wie von der Beklagten zutreffend angenommen – erst seit Ablauf des ersten Jahres nach Aufnahme der jüngsten Beschäftigung bei der Firma B1 in X zum 18. Dezember 2007 (vgl. Bl. 246 der Beiakte Heft 4). Ihre derartigen Rechtspositionen aus früheren unselbständigen Tätigkeiten (so vom 7. Juli 2005 bis zum 31. Dezember 2006 bei der Firma G1 in F1 (vgl. Bl. 26 und 166 der Beiakte Heft 4) und vom 2. Januar bis zum 30. Juni 2007 bei der Gebäudereinigung X1 in E (vgl. Bl. 172 und 209 der Beiakte Heft 4)) sind durch den jeweiligen Wechsel des Arbeitgebers wieder untergegangen. Denn im System der schrittweisen Eingliederung der türkischen Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaates erwächst ein Aufenthaltsrecht nicht für einen türkischen Arbeitnehmer, der vor Ablauf des ersten Jahres ordnungsgemäßer Beschäftigung bei einem bestimmten Arbeitgeber eine Beschäftigung bei einem anderen Arbeitgeber aufnimmt, und auch nicht für einen türkischen Arbeitnehmer, der nach einem Jahr oder zwei Jahren, aber vor Erreichen von drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung den Arbeitgeber gewechselt hat. Ein Wechsel zu einem anderen Arbeitgeber (der selben Berufsgruppe) ist nämlich erst nach Ablauf der in Art. 6 Abs. 1 2. Spiegelstrich ARB vorgeschriebenen dreijährigen Zeit ordnungsgemäßer Beschäftigung möglich. Daraus folgt, dass das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht entfällt, wenn das Beschäftigungsverhältnis vor Erreichen der zweiten Integrationsstufe nach Art. 6 Abs. 1 2. Spiegelstrich ARB, also vor Ablauf von drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung aufgelöst wird (vgl. EuGH, Urteile vom 5. Oktober 1994 - C-335/95 <Eroglu> -, juris (Rn. 12 ff.), 29. Mai 1997 - C-386/95 <Eker> -, juris (Rn. 21 ff.) und 10. Januar 2006 - C-230/03 <Sedef> -, juris (Rn. 36 ff.); OVG NRW, Beschluss vom 19. Mai 2006 – 19 B 1224/05 -; OVG NRW, Urteil vom 22. Februar 2011 - 18 A 1603/10 -, juris (Rn. 30); OVG Berlin, Beschluss vom 11. Februar 2003 - 8 S 93.02 -, juris (Rn. 11)).

Ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 7 S. 1 ARB hat die Klägerin mangels der Erteilung einer Genehmigung zur Familienzusammenführung von vornherein nie erworben (vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 15. März 2006 – 18 A 4649/05 -, juris (Rn. 2 ff.), 3. April 2001 – 18 B 204/00 -, juris (Rn. 3 ff.) und 22. August 1997 – 18 B 2856/95 -, juris (Rn. 16 ff.)).

Darüber hinaus erfüllte die Klägerin weder im Zeitpunkt des Erlasses des Widerrufsbescheides vom 25. Mai 2011 die Erteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhaltes gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG noch ist dies heute der Fall. Dies ergibt sich aus dem zu beiden Zeitpunkten gegebenen Bezug ergänzender Hilfe zum Lebensunterhalt durch die von der Klägerin, ihrem Ehemann und dem gemeinsamen Sohn F gebildete Bedarfsgemeinschaft. Entgegen der in der mündlichen Verhandlung geäußerten Rechtsansicht der Klägerin sind die Maßstäbe bei der Feststellung der Sicherung des Lebensunterhaltes in § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG einerseits und § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG identisch. Der Begriff der Sicherung des Lebensunterhaltes ist für beide Konstellationen einheitlich in § 2 Abs. 3 AufenthG definiert. In beiden Fällen ist in Anlehnung an die entsprechenden Bestimmungen des SGB II auf die gesamte Bedarfsgemeinschaft abzustellen, so dass der Lebensunterhalt eines Ausländers regelmäßig auch im Sinne des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nicht gesichert ist, wenn der Gesamtbedarf der Bedarfsgemeinschaft nicht durch eigene Mittel bestritten werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. August 2011 - 1 C 4.10 -, juris (Rn. 14); BVerwG, Urteil vom 16. November 2010 - 1 C 21.09 -, juris (Rn. 15 ff.); a.A. noch in der betreffenden Kommentierung aus August 2009 bzw. 2008 Marx in: GK-AufenthG, a.a.O., § 9 Rn. 178 f. und Hailbronner, Ausländerrecht – Kommentar, Stand: Mai 2012, § 9 Rn. 19).

Anders als § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG stellt § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG auch keine Regelerteilungsvoraussetzung dar, von der allgemein unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls eine Ausnahme gemacht werden kann, sondern eine zwingende Erteilungsvoraussetzung (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. August 2011 – 1 C 12.10 -, juris (Rn. 13); Marx in: GK-AufenthG, a.a.O., § 9 Rn. 83).

Im Übrigen läge der insoweit in Betracht kommende Ausnahmetatbestand der Bedürftigkeit allein aufgrund eines deutschen Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft im Fall der Klägerin nach obigen Ausführungen nicht vor.

Schließlich greift auch die gesetzliche Ausnahmeregelung des § 9 Abs. 2 Satz 6 in Verbindung mit Satz 3 AufenthG nicht zugunsten der Klägerin ein. Danach wird unter anderem von den Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG abgesehen, wenn der Ausländer diese wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht erfüllen kann. Bei der Auslegung dieser Vorschrift ist zu berücksichtigen, dass Ausnahmen von der Voraussetzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG angesichts der gesetzgeberischen Wertung, die Sicherung des Lebensunterhalts bei der Erteilung von Aufenthaltstiteln im Ausländerrecht als eine Voraussetzung von grundlegendem staatlichen Interesse anzusehen, grundsätzlich eng auszulegen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Oktober 2008 - 1 C 34.07 -, juris (Rn. 16)).

Zur Bestimmung einer krankheitsbedingten Erwerbsunfähigkeit sind sozialrechtliche Vorschriften heranzuziehen (vgl. Marx in: GK-AufenthG, a.a.O., § 9 Rn. 230).

Nach § 43 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgesetzbuches Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) sind Versicherte zumindest teilweise erwerbsgemindert, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unten den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach diesen Grundsätzen war die Klägerin weder im Zeitpunkt des Erlasses des angegriffenen Widerrufsbescheides vom 25. Mai 2011 krankheitsbedingt nicht zur Sicherung ihres eigenen Lebensunterhaltes in der Lage, noch ist sie diese heute.

Insbesondere ergibt sich dies nicht aus dem von ihr insoweit betonten Umstand, dass sie seit dem 19. August 2011 ununterbrochen arbeitsunfähig ist. Zum einen handelt es sich bei der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit immer nur um eine Momentaufnahme, was daran deutlich wird, dass eine entsprechende Bescheinigung in der Regel für einen nicht mehr als zwei Tage im Voraus liegenden Zeitraum erfolgen soll (vgl. § 6 Abs. 2 Satz 1 der auf § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 des Sozialgesetzbuches Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) beruhenden Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung (Arbeitsunfähigkeits-Richtlinien), abrufbar unter: www.gba. de/downloads/39-261-41/2003-12-01-AU-neu.pdf).

Demgegenüber erfordert die Beurteilung der für die Ausnahme des § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG maßgeblichen Erwerbsfähigkeit ebenso wie die grundsätzliche Voraussetzung der Unterhaltssicherung nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG in Verbindung mit § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 2010 - 1 C 20.09 -, juris (Rn. 20); Marx in: GK-AufenthG, a.a.O., § 9 Rn. 190; Funke Kaiser in: GK-AufenthG, a.a.O., § 2 Rn. 49 und 68) eine langfristige Prognose. Insoweit behauptet die Klägerin aber lediglich pauschal, dass derzeit eine Besserung ihres Gesundheitszustandes nicht absehbar sei. Zum anderen bezieht sich die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit nach § 2 Abs. 1 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinien allein auf die zuletzt ausgeübte Tätigkeit – im Fall der Klägerin eine körperlich durchaus in gewissem Umfang anstrengende Tätigkeit als Raum- und Hausratsreinigerin –, während bei der Frage der Erwerbsfähigkeit alle möglichen Formen der Erwerbstätigkeit in den Blick zu nehmen sind.

Auch den von der Klägerin vorgelegten Attesten lassen sich keine belastbaren Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass bei ihr eine körperliche, geistige oder seelische Krankheit oder Behinderung vorliegt, die ihre Erwerbsfähigkeit derart einschränkt, dass ihr eine eigenständige Lebensunterhaltssicherung unmöglich ist. Die Atteste führen zwar eine Vielzahl von Erkrankungen der Klägerin [...] auf, wobei die Feststellung zur Arbeitsunfähigkeit der Klägerin ausweislich der Angaben auf dem Krankengeldzahlschein (ICD-10 M 51-1 und 53-1) auf den Beschwerden im Bereich der Wirbelsäule beruht. Diese Diagnosen lassen als solches aber keinen Rückschluss auf eine wesentliche Einschränkung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin zu. Die Atteste enthalten auch keine dahingehenden Feststellungen. Dementsprechend ist auch nicht ersichtlich, dass die Klägerin bisher im Hinblick auf etwaige Rentenansprüche die Feststellung einer entsprechenden Erwerbsminderung nach dem SGB VI verfolgt hätte. Vielmehr hat die Klägerin noch in ihrem Leistungsantrag beim Jobcenter L vom 31. Januar 2012 angegeben, dass sich keine Änderungen hinsichtlich ihrer Erwerbsfähigkeit ergeben hätten (vgl. Bl. 551 der Beiakte Heft 3).

Auch im Übrigen ist die Entscheidung der Beklagten zum Widerruf der Niederlassungserlaubnis der Klägerin ermessensfehlerfrei. Bei der Ausübung ihres Widerrufsermessens hat die Beklagte zutreffend in den Vordergrund gestellt, dass bei Wegfall der Flüchtlingseigenschaft – hier durch Verzicht – grundsätzlich ein gewichtiges öffentliches Interesse am Widerruf der darauf aufbauenden Niederlassungserlaubnis besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2003 – 1 C 13.02 -, juris (Rn. 18); VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 22. Februar 2006 - 11 S 1066/05 -, juris (Rn. 23)).

Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Beklagte insoweit ihrer – nicht bedenkenfreien – Vermutung, die Klägerin habe den Widerrufsbescheid des Bundesamtes vom 13. Mai 2008 lediglich deshalb im Klagewege angefochten, um sich die Niederlassungserlaubnis zu verschaffen, auf die sie ansonsten keinen Anspruch gehabt hätte, maßgebliches Gewicht beigemessen hat. Im weiteren hat die Beklagte das öffentliche Interesse am Widerruf unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalles mit den schutzwürdigen Belangen der Klägerin abgewogen und dabei sowohl die Dauer ihres Aufenthaltes als auch ihre persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet gewürdigt (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2003 – 1 C 13.02 -, juris (Rn. 18); VGH Baden- Württemberg, Urteil vom 22. Februar 2006 - 11 S 1066/05 -, juris (Rn. 23)).

Zutreffend hat die Beklagte insoweit festgestellt, dass die Klägerin sich zwar seit 1993 im Bundesgebiet aufhält und hier auch seit längerem erwerbstätig ist, dass sie aber andererseits ihren Lebensunterhalt überwiegend oder aber immer wieder durch zumindest ergänzende öffentliche Leistungen bestritten hat und selbst nach einem derart langen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland ausweislich der Bescheinigung des Bundesamtes vom 16. Juni 2009 zur (jüngsten) Sprachprüfung vom 6. Dezember 2008 noch nicht über ausreichende deutsche Sprachkenntnisse (Sprachniveau B1, vgl. § 2 Abs. 10 AufenthG) verfügt. Schließlich hat die Beklagte bereits in der Begründung ihres Widerrufsbescheides im Rahmen ihrer Ermessenserwägungen zu Recht darauf verwiesen, dass die Klägerin Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und zwar aufgrund ihrer größeren Reichweite zuvörderst nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG hat, die der Klägerin inzwischen auch erteilt worden ist. Denn wenn der Ausländer Anspruch auf einen – im Vergleich zur widerrufenen Niederlassungserlaubnis – geringerwertigen Aufenthaltstitel hat, ist es in aller Regel – und so auch hier – verhältnismäßig (angemessen), ihm den überschießenden Titel zu entziehen und ihn auf den neuen Titel zu verweisen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 22. Februar 2006 - 11 S 1066/05 -, juris (Rn. 23); vgl. zu diesem Gesichtspunkt auch OVG NRW, Beschluss vom 7. Juli 2006 - 18 A 3138/05 -, juris (Rn. 12)).

Weitere im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berücksichtigende Gesichtspunkte sind nicht ersichtlich. Insbesondere hat die auch insoweit zur Mitwirkung verpflichtete Klägerin (vgl. § 82 Abs. 1 AufenthG) keine anderen schutzwürdigen Belange geltend gemacht.

Bei dieser Sachlage verstößt der Widerruf der Niederlassungserlaubnis der Klägerin auch weder gegen Art. 6 des Grundgesetzes noch gegen Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK). Denn die Klägerin wird durch den Widerruf der Niederlassungserlaubnis nicht daran gehindert, weiter mit ihrem Ehemann und dem gemeinsamen Sohn F in Deutschland zusammen zu leben. Es geht nicht um die Beendigung ihres Aufenthaltes, sondern allein um die Frage, ob die Klägerin ihren Aufenthalt im Bundesgebiet – und damit die Fortsetzung der familiären Lebensgemeinschaft – auf einen befristeten oder einen unbefristeten Aufenthaltstitel stützen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 2010 - 1 C 21.09 -, juris (Rn. 24); BVerwG, Urteil vom 28. Oktober 2008 - 1 C 34.07 -, juris (Rn. 23 ff.)).

Auch aus Art. 8 EMRK folgt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) kein Anspruch auf einen bestimmten Aufenthaltstitel, vielmehr kommt es auf die tatsächliche Möglichkeit zur Fortsetzung des Aufenthalts an (vgl. EGMR, Große Kammer, Urteil vom 15. Januar 2007 – Nr. 60654/00 <Sisojeva u.a. ./. Lettland>, NVwZ 2008, 979 (981); BVerwG, Urteil vom 28. Oktober 2008 - 1 C 34.07 -, juris (Rn. 26)).

Diese war auf der Grundlage der der Klägerin bereits im Widerrufsbescheid zugesicherten und inzwischen erteilten Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 AufenthG bei Erlass dieses Bescheides gewährleistet und ist dies auch heute noch.

Schließlich ist der Widerruf auch nicht verfristet erfolgt. Dabei kann dahinstehen, ob neben der speziellen Vorschrift des § 52 AufenthG zum Widerruf eines Aufenthaltstitels, die insoweit keine Frist vorsieht, die allgemeinen Regeln des § 49 des Verwaltungsverfahrensgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (VwVfG NRW) zum Widerruf begünstigender Verwaltungsakte einschließlich der Vorgabe des § 49 Abs. 2 Satz 2 VwVfG NRW in Verbindung mit § 48 Abs. 4 VwVfG NRW zur Zulässigkeit des Widerrufs nur innerhalb eines Jahres seit dem Zeitpunkt der Kenntnisnahme von den diese Maßnahme rechtfertigenden Tatsachen anwendbar sind (vgl. ablehnend Bayerischer VGH, Beschluss vom 4. März 2008 – 19 C 08.279 -, juris (Rn. 10) und Schäfer in: GK-AufenthG, a.a.O., § 52 Rn. 30; bejahend zur entsprechenden Vorgängervorschrift des § 43 AuslG VG Stuttgart, Urteil vom 25. September 2003 – 11 K 4484/02 -, juris (Rn. 25); offenlassend OVG des Saarlandes, Beschluss vom 29. Dezember 2005 – 2 W 30/05 -, juris (Rn. 4)).

Denn der Bescheid der Beklagten vom 25. Mai 2011 hätte diese Jahresfrist auf jeden Fall gewahrt, da die Klägerin den zugrunde liegenden Verzicht auf die Flüchtlingszuerkennung erst mit Schriftsatz vom 2. Dezember 2010 erklärt hatte. [...]