VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 06.06.2012 - 11 A 3099/12 - asyl.net: M19774
https://www.asyl.net/rsdb/M19774
Leitsatz:

Betreten mehrere Polizeibeamte ohne ausdrückliche Zustimmung des Wohnungsinhabers eine Doppelhaushälfte, um in sämtlichen Stockwerken sowie in Nebengebäuden nach einem Ausländer zu suchen, dessen Abschiebung beabsichtigt ist, handelt es um eine Wohnungsdurchsuchung, die gem. § 25 Abs. 1 Satz 1 Nds. SOG, Art. 13 Abs. 2 GG einer vorherigen amtsrichterlichen Anordnung bedarf.

(Amtlicher Leitsatz

Schlagwörter: Wohnungsdurchsuchung, Polizeibeame, Polizei, Zustimmung, richterliche Anordnung, Durchsuchungsbeschluss, Identitätsfeststellung, Privatsphäre, Ausreisepflicht, unerlaubter Aufenthalt, ausländerrechtliche Strafvorschriften, Verstoß, Betreten, Wohnung, Betreten der Wohnung, Unverletzlichkeit der Wohnung, Unverletzlichkeit,
Normen: Nds SOG § 25 Abs. 1 S. 1, GG Art. 13 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Die Klage ist auch begründet.

Die Beklagte und nicht die zuständige Ausländerbehörde ist passivlegitimiert. Die originäre Zuständigkeit der Polizei für die Durchführung von Abschiebungen ergibt sich aus § 71 Abs. 5 AufenthG (vgl. dazu Gutmann in: GK-AufenthG, Rn. 159 ff. zu § 71). Selbst wenn man von einer Amtshilfe für die Stadt Delmenhorst ausginge, wäre die Klage gegen die Beklagte zu richten, weil ihre Beamten nach außen gehandelt haben (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 12. Aufl. 2011, Rn. 11 zu § 7).

Die materiellen Voraussetzungen für das Betreten und das Durchsuchen einer Wohnung sind in § 24 Nds. SOG geregelt, unter anderem ermöglicht Abs. 5 Nr. 2 der Vorschrift ein jederzeitiges Betreten einer Wohnung, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich dort Personen aufhalten, die gegen aufenthaltsrechtliche Strafvorschriften verstoßen. § 25 Abs. 1 Satz 1 Nds. SOG erfordert in formeller Hinsicht vor einer Durchsuchung eine richterliche Anordnung, es sei denn es besteht Gefahr in Verzug. Dies entspricht der Regelung in Art. 13 Abs. 2 GG.

Die polizeiliche Maßnahme zur Abschiebung des Sohnes der Klägerin am 8. Juli 2011 stellt nach Auffassung des Gerichts eine Durchsuchung der Wohnung der Klägerin dar und bedurfte daher der vorherigen amtsrichterlichen Anordnung. Da diese nicht eingeholt worden ist, war dieses Betreten der Wohnung der Klägerin rechtswidrig.

Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BVerwG, Urteil vom 25. August 2004 6 C 26.03 - BVerwGE 121, 345 349>; Urteil vom 6. September 1974 - I C 17.73 - BVerwGE 47, 31 37>; BVerfG, Beschluss vom 19. November 1999 - 1 BvR 2017/97 - NJW 2000, 943 944>; Beschluss vom 16. Juni 1987 - 1 BvR 1202/84 - BVerfGE 76, 83 89>; Beschluss vom 3. April 1979 - 1 BvR 994/76 - BVerfGE 51, 97 106 ff.>) ist eine Durchsuchung das ziel- und zweckgerichtete Suchen staatlicher Organe nach Personen oder Sachen oder zur Ermittlung eines Sachverhaltes, um etwas aufzuspüren, was der Inhaber der Wohnung nicht von sich aus offenlegen oder herausgeben will. Die Durchsuchung geht über das bloße Betreten der Wohnung hinaus und verlangt auch die Vornahme von Handlungen in den Räumen. Diese dienen etwa zum Auffinden und Ergreifen einer Person, zum Auffinden, Sicherstellen oder zur Beschlagnahme einer Sache oder der Verfolgung von Spuren. Kennzeichnend ist die Absicht, etwas nicht klar zu Tage Liegendes, vielleicht Verborgenes aufzudecken oder ein Geheimnis zu lüften, mithin das Ausforschen eines für die freie Entfaltung der Persönlichkeit wesentlichen Lebensbereichs, das unter Umständen bis in die Intimsphäre des Betroffenen dringen kann (ähnlich auch: Saipa, Nds. SOG, Rn. 2 zu § 24; Böhrenz/Unger/Siefken, Nds. SOG, 8. Aufl. 2005, Anm. 4 zu § 24).

Nach dem polizeilichen Bericht vom 11. Juli 2011 wurde das Wohnhaus der Klägerin am 8. Juli 2011 nach Öffnen der Wohnungstür durch eine dort ebenfalls wohnende weibliche Person von den Beamten unmittelbar betreten und zügig auf den Aufenthalt des ... überprüft. Dieser habe sich jedoch weder in dem Haupthaus noch in den angrenzenden Nebengebäuden im Garten befunden. In einem Vermerk (Bl. 14 der Beiakte B) ist gleichfalls festgehalten, dass alle Räume des Hauses betreten und auf die Anwesenheit des Sohnes der Klägerin überprüft worden seien. In diesem Zusammenhang seien zwei männliche Personen, die mit dem Gesicht zur Wand geschlafen hätten, geweckt und überprüft worden. In der Stellungnahme der Polizeiinspektion Delmenhorst/Oldenburg-Land vom 13. September 2011 (Bl. 15 f. der Beiakte B) heißt es ähnlich, dass sich die Wohnung über drei Ebenen, einem Keller-, Erd- und Obergeschoss, erstrecke und daher die Maßnahme eine gewisse Zeit, nämlich 15 Minuten, in Anspruch genommen habe. [...]

Die Polizeibeamten haben damit zielgerichtet nach einer Person, dem Sohn der Klägerin, gesucht, um ihn zur Abschiebung festzunehmen. Dazu sind sie ohne längere Erörterung mit der Wohnungsinhaberin, die offensichtlich nicht bereit war, dessen Aufenthaltsort zu nennen, durch sämtliche über mehrere Geschosse verteilten Räume gegangen und haben zudem Nebengebäude auf seinen Aufenthalt untersucht. [...] Angesichts des Betretens sämtlicher Räumlichkeiten der Doppelhaushälfte handelt es sich hierbei auch um einen erheblichen Eingriff in die Privatsphäre der Klägerin. Zudem spricht das erhebliche Polizeiaufgebot für eine Handlung, die über ein bloßes Betreten hinausgeht (vgl. für ein Betreten von Wohnungen zum Zwecke einer Abschiebung auch VG Bremen, Urteil vom 13. Januar 2012 - 2 K 2625/08 -; OLG Celle, Beschluss vom 7. Januar 2003 - 10 W 1/03 - InfAuslR 2003, 154 155 f.>; LG Verden, Beschluss vom 6. Juli 2004 - 6 T 120/04 - InfAuslR 2004, 453 f.). Das Bundesverfassungsgericht hat dementsprechend in dem erwähnten Beschluss vom 19. November 1999 (a.a.O.) das Betreten einer Wohnung zum Zwecke der Suche nach und Mitnahme einer Person, die der Inhaber der Wohnung von sich aus nicht herausgeben will, als Durchsuchung bewertet.

Die Auffassung der Beklagten, dass das Betreten einer Wohnung im Zuge der Durchsetzung einer nicht angekündigten Abschiebung regelmäßig keine Durchsuchung sei, trifft nach Auffassung der Kammer nicht zu. Vielmehr erschöpft sich diese üblicherweise nicht in einer bloßen Umschau, etwa zur Feststellung eines Sachverhaltes für eine spätere behördliche Maßnahme (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 25. August 2004 a.a.O.), sondern im Normalfall wird zielgerichtet nach der abzuschiebenden Person gesucht, die dann ergriffen werden soll. Etwas anderes gilt nur dann, wenn sich der Aufenthalt des ausreisepflichtigen Ausländers ohne Weiteres durch den Eintritt in die Wohnung feststellen lässt, insbesondere weil der Wohnungsinhaber diesen nicht zu verbergen beabsichtigt. Nach dem Eindruck des Gerichts aus anderen Verfahren wird von den zuständigen Ausländerbehörden vor einer Abschiebemaßnahme auch regelmäßig ein Durchsuchungsbeschluss beim zuständigen Amtsgericht erwirkt.

Soweit durch die Regelung des § 24 Abs. 5 Nr. 2 Nds. SOG der Augenschein erweckt wird, dass die Nachschau nach Personen, die gegen aufenthaltsrechtliche Strafvorschriften verstoßen, stets ein bloßes Betreten der Wohnung darstelle, muss die Vorschrift vor dem Hintergrund des vorrangigen Art. 13 GG einschränkend ausgelegt werden. Denn die dabei erforderliche Nachschau nach einer Person wird aus den angeführten Gründen in vielen Fällen eine Durchsuchung erfordern (vgl. auch Ipsen, Nds. POR, 4. Auflage 2010, Rn. 460, S. 164).

Es bestand auch keine Gefahr in Verzug. Diese Voraussetzungen liegen nur ausnahmsweise vor, wenn die vorherige richterliche Anordnung den Erfolg der Durchsuchung gefährden würde (vgl. BVerfG, Urteil vom 20. Februar 2001 - 1 BvR 1444/00 - NJW 2001, 1121 1122 f.>). Es war bereits vor der länger geplanten Maßnahme am 8. Juli 2011 davon auszugehen, dass sich der Aufenthaltsort des Sohnes der Klägerin in deren Wohnung nicht ohne weiteres feststellen lassen wird. Ein vorheriger Abschiebungsversuch ist wegen des erwarteten Widerstands von Unterstützern abgebrochen worden. [...]