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OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 24.11.2011 - 3 A 130/11 - asyl.net: M19752
https://www.asyl.net/rsdb/M19752
Leitsatz:

1. § 82 Abs. 4 AufenthG findet nur dann Anwendung, wenn die zuständige Ausländerbehörde ein Vollzugsersuchen an die Polizeibehörden richtet, das die Anwendung unmittelbaren Zwangs zum Inhalt hat. Die Polizeibehörden werde im Rahmen der Vollzugshilfe gem. § 61 Abs. 2 Satz 1, § 32 SächsPPolG tätig. Bei der Bezugnahme in § 82 Abs. 4 Satz 3 AufenthG auf § 40 BPolG handelt es sich um eine Rechtsgrundverweisung.

2. Zur Abgrenzung einer Freiheitsbeschränkung von einer Freiheitsentziehung bei der Vorführung eines Ausländers in der Botschaft seines Heimatlandes.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Polizeibehörden, Polizei, Anwendung unmittelbaren Zwangs, Vollzugshilfe, Unmittelbarer Zwang, Freiheitsbeschränkung, Freiheitsentziehung, Botschaft, Auslandsvertretung, Konsulat, Vorführung, zwangsweise Vorführung bei Auslandsvertretung, Libyen, Durchsetzung der Vorführung, Polizeigewahrsam, Haftzelle, Haft, Haftraum, richterlicher Genehmigungsvorbehalt,
Normen: AufenthG § 82 Abs. 4, SächsPolG § 61 Abs. 2 S. 1, SächsPolG § 32, AufenthG § 82 Abs. 4 S. 3, BPolG § 40, GG Art. 104 Abs. 2, FamFG § 415, FamFG § 428
Auszüge:

[...]

3. Die Klage ist aber unbegründet.

3.1 Die Art und Weise der Vorführung des Klägers in der Libyschen Botschaft in Berlin ist rechtlich nicht zu beanstanden. Ermächtigungsgrundlage hierfür sind § 61 Abs. 2 Satz 1, § 32 PolG (hierzu unter 3.1.1). Bei der Vorführung sind Polizeidirektion Leipzig und Bereitschaftspolizei Sachsen im Rahmen eines Vollzugsersuchens gemäß §§ 61 ff. SächsPolG tätig geworden (3.1.1.a); da dieses Ersuchen keine Freiheitsentziehung zum Inhalt hatte, musste dabei keine richterliche Entscheidung hierüber vorgelegt werden (3.1.1.b). Die Vorführung des Klägers selbst stellte nur eine Freiheitsbeschränkung dar (3.1.2a). Bei dem Aufenthalt des Klägers im Zentralen Polizeigewahrsam hatte es sich zwar um eine Freiheitsentziehung gehandelt; eine richterliche Entscheidung war aber hierüber nicht herbeizuführen (3.1.2.b). Die Vorführung war auch im Übrigen nicht zu beanstanden (3.2).

3.1.1 Die Ermächtigungsgrundlage für die Vollstreckung des bestandskräftig angeordneten Erscheinens des Klägers vor der Libyschen Botschaft in Berlin durch den Beklagten ergibt sich aus § 61 Abs. 2 Satz 1, § 32 SächsPolG; ob eine - grundsätzlich vom zuständigen Amtsgericht anzuordnende - Freiheitsentziehung vorliegt, richtet sich hier nach Art. 104 Abs. 2 GG i. V. m. §§ 428, 415 FamFG.

a. Bei der Bitte "um Vollzug des Aufgriffs/der Zuführung" des Klägers mit Schreiben vom 13. November 2008 handelte es sich um ein Vollzugsersuchen gemäß §§ 61 ff. SächsPolG, denn der Zentralen Ausländerbehörde Chemnitz standen keine Weisungsbefugnisse gegenüber der Polizeidirektion Leipzig zu, weil sie nicht als gemäß § 74 Abs. 2 Nr. 3 SächsPolG übergeordnete Fachaufsichtsbehörde tätig geworden ist; gemäß dem Briefkopf der Schreiben wurde hier die Zentrale Ausländerbehörde Chemnitz tätig, die nach den erkennbaren Umständen keine fachaufsichtliche Weisung erteilen, sondern ein Vollzugsersuchen stellen wollte (anders offenbar bei OLG Dresden, Beschl. v. 18. Januar 2010 - 3 W 1246/09 -). Im Übrigen hätte die Zentrale Ausländerbehörde Chemnitz selbst als polizeiliche Fachaufsichtsbehörde gemäß § 74 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 3 SächsPolG keine Weisungsbefugnisse gegenüber dem Präsidium der Bereitschaftspolizei, so dass auch insoweit nur die Bitte um Vollzugshilfe in Betracht kommt. Bei der Vollzugshilfe ist gemäß § 61 Abs. 2 Satz 1 SächsPolG für die Art und Weise der Durchführung der Polizeivollzugsdienst verantwortlich; gemäß § 61 Abs. 2 Satz 2 SächsPolG i.V.m. § 7 Abs. 1 VwVfG und § 1 SächsVwVfG richtet sich die Durchführung der Vollzugshilfe nach dem für die ersuchte Behörde, hier den Polizeivollzugsdienst, geltenden Recht; dies ist vorliegend § 32 SächsPolG. § 82 Abs. 4 AufenthG ist nur insoweit heranzuziehen, als eine Ausländerbehörde i. S. v. § 71 Abs. 1 AufenthG tätig geworden ist. Dies ist vorliegend nur die Zentrale Ausländerbehörde der Landesdirektion Chemnitz, nicht aber die Polizeidirektion Leipzig bzw. die Bereitschaftspolizei, vgl. § 2 SächsAuslZuG i.V.m. § 3 Abs. 1 SächsAAZuVO.

b. Ob dem Vollzugsersuchen der Zentralen Ausländerbehörde Chemnitz gemäß § 63 Abs. 1 SächsPolG eine richterliche Entscheidung beizufügen war, bemisst sich danach, ob in dem Ersuchen Maßnahmen bezeichnet worden sind, die gemäß § 61 Abs. 2 Satz 2 SächsPolG, § 7 Abs. 1 VwVfG, § 82 Abs. 4 Sätze 2 und 3 AufenthG eine Freiheitsentziehung beinhalteten und damit der richterlichen Entscheidung unterlagen.

Hiernach ist aber vorliegend die Vorlage einer richterlichen Entscheidung nicht erforderlich gewesen, weil in den Schreiben vom 13. November 2008 die Durchsetzung der Vorführung selbst im Einzelnen nicht vorgegeben, sondern dem Polizeivollzugsdienst überlassen wurde; die Vorführung selbst stellt im Allgemeinen aber keine Freiheitsentziehung dar. Denn wie eine bloße Abschiebung ist sie als sekundäre Begleiterscheinung nicht auf eine Freiheitsentziehung gerichtet, sondern bildet die zwangsläufige Folge der Durchsetzung der Mitwirkungspflicht des Ausländers. Daher wird die Abschiebung, die wie die Vorführung ebenfalls durch Festhalten des Betroffenen und seiner zwangsweisen Verbringung auch in einem Kraftfahrzeug etwa zum Flughafen vorgenommen wird, von der Rechtsprechung nicht als Freiheitsentziehung qualifiziert, die unter den Richtervorbehalt des Art. 104 Abs. 2 GG fällt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 15. Mai 2002, NJW 2002, 3161, wonach (nur) bei der Unterbringung des Betroffenen in einem Haftraum im Gewahrsam der Polizei über mehrere Stunden hinweg bis zur Verbringung zum Flughafen von einer Freiheitsentziehung ausgegangen wird; BVerwG a. a. O.; weitere Nachweise bei OVG NW, Besch. v. 28. November 2006, InfAuslR 2007, 126; KG Berlin, Beschl. v. 30. September 2008 - 1 W 225/07 -, juris).

Die Pflicht zur Einholung einer richterlichen Entscheidung ergab sich auch nicht aus der Bezugnahme auf § 40 BPolG durch § 82 Abs. 4 Satz 3 AufenthG; denn insoweit handelt es sich nicht um eine Rechtsfolgen-, sondern eine Rechtsgrundverweisung, die das Vorliegen einer - in dem Vollzugsersuchen nicht angeordneten - Freiheitsentziehung voraussetzt. Dies ergibt sich aus den nachfolgenden Überlegungen: Der Verweis auf §§ 40, 41 und 42 BPolG findet sich erstmals in der Vorgängervorschrift des § 82 Abs. 4 AufenthG, nämlich in § 70 Abs. 4 Satz 3 AuslG. Der Verweis ist zum 1. November 1997 mit dem Gesetz vom 29. Oktober 1997 (BGBl. I 2584) in die Vorschrift eingefügt worden. Anlass war eine Stellungnahme der Bundesregierung auf einen Änderungsantrag der SPD-Fraktion zu § 70 Abs. 4 AuslG hin, der den Verweis noch nicht vorsah. Die Bundesregierung wies hierzu darauf hin, dass, wenn "der Betroffene im Zuge der zwangsweisen Durchsetzung der Anordnung nicht nur kurzfristig festgehalten" würde, "es sich um eine Freiheitsentziehung (handelt), über die gemäß Art. 104 Abs. 2 GG unverzüglich eine richterliche Entscheidung herbeizuführen ist. Insoweit sollen nach Satz 3 die für den Parallelfall einer zwangsweisen Durchsetzung einer polizeilichen Vorladung maßgeblichen Bestimmungen des Bundesgrenzschutzgesetzes entsprechende Anwendung finden" (BT-Drs. 13/5986, S. 17). Diese Begründung hatte sich der Innenausschuss des Bundestages und in der Folge auch der Bundestag selbst zu Eigen gemacht. Dies legt nahe, dass der Gesetzgeber nicht schon bei jeder zwangsweisen Durchsetzung der nunmehr in § 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG festgelegten Mitwirkungspflichten von einer Pflicht zur Anrufung der ordentlichen Gerichte ausgeht, sondern nur dann, wenn sie über ein kurzfristiges Festhalten hinausgeht und die Intensität der freiheitsentziehenden Maßnahmen erreicht, die von § 40 Abs.1 BPolG erfasst sind (anders OVG NW a.a.O.; dem folgend Funke-Kaiser, in: Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz, Stand: Mai 2010, § 82 Rn. 78).

3.1.2 Bei der Vorführung des Klägers selbst handelte es sich nur um eine Freiheitsbeschränkung (a). Sein Aufenthalt im Zentralen Polizeigewahrsam war hingegen eine Freiheitsentziehung; sie bedurfte aber keiner richterlichen Entscheidung (b).

Gemäß § 415 Abs. 2 FamFG liegt eine Freiheitsentziehung vor, wenn dem Kläger gegen seinen Willen insbesondere in einer abgeschlossenen Einrichtung, wie einem Gewahrsamsraum oder einem abgeschlossenen Teil eines Krankenhauses, die Freiheit entzogen wird. Damit wird die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt, wonach eine Freiheitsentziehung gemäß Art.104 Abs. 2 GG vorliegt, wenn die - tatsächlich und rechtlich an sich gegebene - körperliche Bewegungsfreiheit nach jeder Richtung hin aufgehoben wird (BVerfG, Beschl. v. 15. Mai 2002 a.a.O. m.w.N.).

a. Ob die vom Kläger angeführte längere Zeitdauer im Vergleich zu einer freiwilligen Reise eine Vorführung selbst wegen der damit verbundenen Eingriffsintensität zur Freiheitsentziehung werden lassen kann, bedarf hier keiner näheren Untersuchung (zu diesem Kriterium OVG NW a.a.O; zur Dauer des Eingriffs als Kriterium für die Intensität der Maßnahme auch Degenhardt, in: Sachs, Grundgesetz, 5. Aufl., Art. 104 Rn. 5, Freiheitsentziehung verneinend bei Vorführung; maßgeblich auf den Zweck abstellend etwa Wendtland, in: Münchener Kommentar zur ZPO, Bd. 4, 2010, § 41 FamFG Rn. 7). Denn die Maßnahme war allein auf die Vorführung des Klägers bei der Libyschen Botschaft in Berlin gerichtet und wurde im Rahmen einer nachvollziehbaren und effektiven Einsatzplanung in der bei solchen Vorführungen erforderlichen Zeitspanne durchgeführt. Der Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung verdeutlicht, dass die Abholung des Klägers durch den Streifendienst und seine Übergabe an Beamte der Bereitschaftspolizei im Zentralen Gewahrsam der Polizeidirektion Leipzig unter Berücksichtigung der polizeilichen Zuständigkeiten, der zu beachtenden Höchstgrenze von Einsatzzeiten und insbesondere aufgrund der Tatsache, dass neben dem Kläger auch andere Ausländer vorgeführt werden sollten, nicht effektiver organisiert werden konnte. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass mit der Vorführung in der Libyschen Botschaft in Berlin die Maßnahme geendet hatte und der Kläger nach Wahrnehmung des Termins in der Botschaft frei darüber entscheiden konnte, ob er die Möglichkeit der gemeinsamen Rückkehr nach Leipzig wahrnahm oder selbständig zurückreiste.

b. Auch der gut einstündige Aufenthalt des Klägers im Zentralen Polizeigewahrsam stellte keine Freiheitsentziehung dar, die einer richterlichen Entscheidung bedurft hätte.

Nach der tatsächlichen Ausgestaltung des Aufenthalts handelte es sich bei dem Zentralen Polizeigewahrsam in der Polizeidirektion Leipzig zwar um eine abgeschlossene Einrichtung im oben genannten Sinn. Der Kläger befand sich in einem größeren Warteraum, über den die einzelnen Haftzellen und Toiletten erschlossen werden. Nach den Schilderungen des Beklagten wurde er von Polizeibeamten bewacht und war daran gehindert, den Warteraum zu verlassen. Damit machte es keinen Unterschied, ob er noch in eine der Haftzellen verbracht wurde oder vor diesen warten musste.

Allerdings entfiel der richterliche Genehmigungsvorbehalt deshalb, weil die Herbeiführung der richterlichen Entscheidung voraussichtlich längere Zeit in Anspruch genommen hätte als der Aufenthalt im Zentralen Polizeigewahrsam und damit die richterliche Entscheidung nicht unverzüglich herbeigeführt werden konnte, § 428 Abs. 1 Satz 1 FamFG (vgl. hierzu auch den Gedanken des § 40 Abs. 1 a. E. BPolG, § 22 Abs. 7 Satz 2 SächsPolG). Bei dieser Beurteilung geht der erkennende Senat davon aus, dass - wie sich auch aus der Einsatzplanung ergibt - der Zeitraum von 5.30 Uhr bis 6.00 Uhr keine Berücksichtigung zu finden hat, weil die Zeitspanne von etwa einer halben Stunde erforderlich war, um den Kläger den Beamten der Bereitschaftspolizei unter den dabei zu beachtenden Formalitäten zu übergeben. Denn es kann keinen Unterschied machen, ob diese Übergabe etwa vor der Dienststelle auf dem behördlichen Parkplatz stattfindet oder im Polizeigebäude selbst. Bei der genannten Zeitspanne handelt es sich mithin um eine zwangsläufige Folge der Durchsetzung der Mitwirkungspflicht des Klägers, die nicht als Freiheitsentziehung zu qualifizieren ist.

Soweit noch ein Zeitraum von 40 Minuten (4.50 Uhr bis 5.30 Uhr) in Frage steht, ist zu beachten, dass insoweit eine vorherige Einholung der richterlichen Entscheidung nicht möglich war. Zwar beruhte die Maßnahme nicht auf einem spontanen Entschluss des Beklagten, sondern auf einer beinahe einen Monat vorher bei der Polizeidirektion Leipzig "bestellten" Vorführung. Allerdings hat der Beklagte in der mündlichen Verhandlung deutlich gemacht, dass die Zeitdauer des Aufenthalts im Zentralen Gewahrsam, die über die für eine Übergabe erforderliche Mindestdauer von einer halben Stunde hinausging, insbesondere wegen des nicht vorhersehbaren Verhaltens des Klägers und der Einsatz- und Verkehrsverhältnisse an dem betreffenden Morgen von der Polizeidirektion Leipzig nicht schon so konkret eingeschätzt werden konnte, dass die richterliche Entscheidung vorab hätte eingeholt werden können. Ein "Vorratsbeschluss" im Hinblick auf eine hypothetische Freiheitsentziehung ist unzulässig.

Angesichts der frühen Stunde und der einem Bereitschaftsrichter einzuräumenden Mindestüberlegungsfrist war es aber nicht zu erwarten, dass die richterliche Entscheidung, die frühestens bei Ankunft im Zentralen Gewahrsam hätte beantragt werden können, vor 5.30 Uhr hätte ergehen können. Damit war die Einholung der richterlichen Entscheidung wegen der die Freiheitsentziehung übersteigenden Zeitdauer entbehrlich.

3.2 Auch im Übrigen ist die Vorführung in ihrer Ausgestaltung nicht zu beanstanden; sie ist insbesondere nicht unverhältnismäßig gewesen. Zwar behauptet der Kläger, er habe die Polizeibeamten bereits bei der Abholung in der Gemeinschaftsunterkunft darauf hingewiesen, dass er Medikamente abholen müsse; ob seine Version oder die der Polizeibeamten stimmt, er habe dies erst im Botschaftsgebäude geäußert, kann aber dahinstehen, denn eine Gesundheitsgefährdung ist weder vorgetragen noch erkennbar; dass der Kläger schon am frühen Morgen die Medikamente abholen musste, erscheint ausgeschlossen. Augenscheinlich ging der Kläger auch selbst davon aus, dass die Abholung nicht so eilbedürftig sei, da er unbestritten das Angebot ausgeschlagen hatte, nach der Vorführung von den Polizeibeamten zu seinem Arzt verbracht zu werden. [...]