VG Gelsenkirchen

Merkliste
Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 29.03.2012 - 2a K 4589/10.A - asyl.net: M19702
https://www.asyl.net/rsdb/M19702
Leitsatz:

Keine systematische und gewollte Ausgrenzung der Biharis in Bangladesch.

Schlagwörter: Bihari, Bangladesch, Verweigerung der Staatsangehörigkeit, Staatsangehörigkeit, Verweigerung, staatenlos, Ausgrenzung, Diskriminierung, nichtstaatliche Verfolgung, nichtstaatliche Akteure
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1 S. 1, AufentG § 60 Abs. 1 S. 4,
Auszüge:

[...]

Gemessen an diesen Maßstäben steht dem Kläger die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht zu. Es spricht zunächst nichts dafür, dass ihm wegen seiner Volkszugehörigkeit - die Kammer geht zu Gunsten des Klägers davon aus, dass er tatsächlich Bihari ist - in Bangladesch staatliche Verfolgungsmaßnahmen drohen könnten. Die Erkenntnislage zur Situation der Biharis in Bangladesch bietet keine Anhaltspunkte für eine Gruppenverfolgung (im Ergebnis ebenso VG Düsseldorf, Urteile vom 26. März 2010 - 1 K 6554/09. A - und vom 19. März 2010 - 1 K 5692/09.A -, VG Aachen, Urteil vom 9. Juni 2008 - 5 K 121/07.A -, jeweils juris und m.w.N.).

Die Biharis kamen Mitte des 20. Jahrhunderts vorwiegend aus dem indischen Bundesstaat Bihar ins heutige Bangladesch. Die Angehörigen der Volksgruppe waren Muslime und sprachen Urdu. Während der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den heutigen Staaten Pakistan und Bangladesch um die Unabhängigkeit im Jahr 1971 standen sie auf der Seite des heutigen Pakistan. Nach Kriegsende wurden die Biharis in Bangladesch als feindliche Kollaborateure verdächtigt. Es kam zu Verhaftungen und auch Exekutionen. Viele Biharis flohen in vom Internationalen Roten Kreuz errichtete Lager, in denen menschenunwürdige Bedingungen vor allem im Hinblick auf die Unterkunft und die sanitären Verhältnisse herrschten.

Die pakistanische Regierung sah die in Bangladesch verbliebenen Biharis bald als bangladeschische Staatsbürger an. Die Regierung von Bangladesch verlieh zunächst allen auf ihrem Gebiet am 25. März 1971 dauernd ansässigen sowie allen nach diesem Datum dort geborenen Personen die Staatsangehörigkeit, soweit nicht im Einzelfall rechtliche Hindernisse entgegenstanden. Ein Änderungsgesetz vom 21. Juni 1973 (Act 5/73) schloss jedoch die bangladeschische Staatsangehörigkeit für Personen aus, die durch ihr Verhalten zum Ausdruck gebracht hatten, dass sie sich in einem ausländischen Staat gegenüber verpflichtet fühlten. Dies hatte zur Folge, dass Biharis, die sich mit dem bangladeschischen Staat arrangierten und für ein Leben außerhalb der Lager entschieden, in der bangladeschischen Gesellschaft ein normales Leben ohne erkennbare Diskriminierungen führen konnten. Denjenigen, die in den Lagern verblieben, sich weiterhin zu Pakistan bekannten und auf eine Übersiedlung dorthin hofften, wurden hingegen von den bangladeschischen Behörden die staatsbürgerlichen Rechte verweigert. Bei den Lagern handelt es sich jedoch nicht (mehr) um Flüchtlingslager im eigentlichen Wortsinne, sondern um geschlossene Gemeinschaften in slumähnlichen Armenvierteln. Die Verhältnisse dort unterscheiden sich in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht nicht wesentlich von den Lebensbedingungen in anderen Armenvierteln in Bangladesch. In den Lagern lebende Biharis unterliegen keinen Beschränkungen bei der Arbeitsaufnahme und können, wenn auch unter erschwerten Bedingungen, Arbeit finden. Ungeachtet ihrer sozialen Notlage sind sie als Minderheit in der jüngeren Vergangenheit keinen Übergriffen oder Anfeindungen seitens des Staates ausgesetzt gewesen.

In der Frage der Staatsangehörigkeit für die in Lagern lebenden Biharis gab es hingegen lange kaum Fortschritte. Zwar entschied der High Court 2003, dass eine Gruppe von zehn Biharis, die in einem Flüchtlingslager in Dhaka lebten, Staatsangehörige von Bangladesch seien, dieses Urteil bewirkte jedoch keine Änderung der Praxis der Behörden (vgl. zum gesamten Vorstehenden Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 1. Juli 2008, vom 24. April 2007 und vom 28. Februar 2006, Auskunft vom 14. Dezember 2009 an das VG Düsseldorf; UK Border Agency, Country of Origin Information Report Bangladesh vom 23. Dezember 2011).

Anders verhält es sich jedoch mit einem weiteren Urteil des High Court vom 19. Mai 2008, in dem das Gericht aussprach, alle Biharis hätten die bangladeschische Staatsangehörigkeit. Auch wenn es vor allem in den ersten Monaten nach dem Urteil offenbar weiterhin vorkommen ist, dass Biharis bangladeschische Reisepässe verweigert wurden (vgl. UK Border Agency, Country of Origin Information Report Bangladesh vom 23. Dezember 2011, Rdnr. 20.12 f.), ist es inzwischen doch einer Vielzahl von Angehörigen der Volksgruppe gelungen, Pässe zu erhalten und in die Wählerverzeichnisse eingetragen zu werden. Während das Auswärtige Amt von 16.000 bis 20.000 Biharis spricht, die in Wählerlisten eingetragen wurden (Auskunft vom 14. Dezember 2009 an das VG Düsseldorf), gehen andere Schätzungen davon aus, 80 (UNHCR, Note on the Nationality Status of the Urdu-speaking Community in Bangladesh vom 17. Dezember 2009) bzw. 90 % der nach dem Gerichtsurteil hierzu berechtigten Biharis seien als Wähler registriert (UK Border Agency, Country of Origin Information Report Bangladesh vom 23. Dezember 2011, Rdnr. 20.08, unter Berufung auf US State Department, Human Rights Report 2010, Bangladesh, vom 8. April 2011).

Von einer generellen Verweigerung der Staatsangehörigkeit sowie einer systematischen und gewollten Ausgrenzung der Biharis aus der staatlichen Friedensordnung kann vor diesem Hintergrund keine Rede sein.

Droht demnach Biharis nicht generell staatliche Verfolgung, ist auch nicht ersichtlich, dass der Kläger individuellen Verfolgungsmaßnahmen durch staatliche Stellen ausgesetzt sein könnte. Es steht nicht zur Überzeugung der Kammer fest, dass der Kläger anlässlich eines Protests gegen Korruption in der staatlichen Lagerverwaltung in eine tätliche Auseinandersetzung verwickelt war. Vielmehr weist der Vortrag des Klägers Widersprüche und Steigerungen auf, die auch den Kern des Geschehens betreffen und das Vorbringen insgesamt unglaubhaft machen.

So hat er unterschiedliche Angaben zum Zeitpunkt des Vorfalls gemacht. Gegenüber dem Bundesamt hat er angegeben, die Auseinandersetzung habe sich etwa ein Jahr vor seiner Anhörung (d. h. etwa im März 2009) ereignet. In der Klagebegründung ließ er hingegen vortragen, der Protest habe am 23. September 2009 stattgefunden. In der mündlichen Verhandlung erklärte er, dies sei etwa ein Jahr vor seiner Ausreise gewesen. Da er stets angegeben hat, Ende September 2009 ausgereist zu sein, müsste sich der Vorfall demnach etwa Ende September 2008 ereignet haben. Auf Vorhalt konnte der Kläger seine widersprüchlichen Angaben nicht nachvollziehbar erklären.

Die Steigerungstendenz des Vorbringens wird insbesondere an den Drohungen deutlich, die von Seiten der Kommission geäußert worden sein sollen. Während der Kläger gegenüber dem Bundesamt keinerlei Drohungen erwähnte, heißt es in der Klagebegründung, man habe gedroht, ihn zu töten, wenn er das Lager nicht unverzüglich verlasse. In der mündlichen Verhandlung steigerte er sein Vorbringen nochmals, indem er behauptete, nach seiner Ausreise sei seinen Familienangehörigen gedroht worden, auch diese zu töten, falls der Kläger zurückkehre. Hinzu kommt, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung erstmals behauptet hat, neben der stets geschilderten Fraktur am Arm auch Kopfverletzungen erlitten zu haben.

Unabhängig von der Unglaubhaftigkeit des Vorbringens steht der Anerkennung als Flüchtling i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG aufgrund der behaupteten Auseinandersetzung mit der Kommission entgegen, dass dem Kläger insoweit eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung stand. Es stand ihm frei, sich an einem anderen Ort in Bangladesch - insbesondere auch in einem anderen Bihari-Lager - niederzulassen. Dass die Kommissionsmitglieder, die ihn bedroht und verletzt haben sollen, ihn überall in Bangladesch verfolgt und angegriffen hätten, ist fernliegend und wird auch vom Kläger nicht geltend gemacht. Im Gegenteil heißt es in der Klagebegründung ausdrücklich, er sei zum Verlassen des Lagers (nicht aber des Landes) aufgefordert worden.

Angesichts der dargelegten Änderung der behördlichen Praxis spricht auch nichts dafür, dass dem Kläger ein bangladeschischer Reisepass verweigert würde, wenn er sich nachdrücklich hierum bemühen würde. Dass er dies getan hätte, ist seinem Vorbringen nicht zu entnehmen. Er macht lediglich geltend, nach Vollendung des 18. Lebensjahrs einen Passantrag abgegeben zu haben. Dass er sich seither nach dem Bearbeitungsstand erkundigt oder sonstige Bemühungen unternommen hätte, in den Besitz von Personaldokumenten zu gelangen, ist nicht erkennbar. Zudem war die Nichtausstellung eines Reisepasses erkennbar nicht fluchtauslösend.

Dafür, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Bangladesch Opfer von Verfolgungsmaßnahmen durch Parteien oder Organisationen werden könnte, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen, ist nichts ersichtlich.

Auch i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG relevanten Verfolgungsmaßnahmen durch nichtstaatliche Akteure wäre der Kläger in Bangladesch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt. Um eine in diesem Sinne relevante Verfolgung annehmen zu können, ist es nicht ausreichend, wenn Übergriffe privater Dritter vorkommen. Hinzukommen muss vielmehr eine Schutzunwilligkeit oder -unfähigkeit des Staates. Eine solche liegt nicht bereits dann vor, wenn nicht in jedem Einzelfall effektiver staatlicher Schutz gewährleistet wird, denn kein Staat vermag einen schlechthin perfekten, lückenlosen Schutz zu gewähren und sicherzustellen, dass Fehlverhalten, Fehlentscheidungen oder "Pannen" sonstiger Art bei der Erfüllung der ihm zukommenden Aufgabe der Wahrung des inneren Friedens nicht vorkommen. Übergriffe Privater sind dem Staat nur dann zuzurechnen, wenn er gegen Verfolgungsmaßnahmen Privater grundsätzlich keinen effektiven Schutz gewährleistet. Dies ist jedenfalls dann nicht der Fall, wenn die zum Schutz der Bevölkerung bereitgestellten Behörden bei Übergriffen Privater zur Schutzgewährung ohne Ansehen der Person verpflichtet und dazu auch landesweit angehalten sind, vorkommende Einzelfälle von Schutzverweigerung mithin ein von der Regierung nicht gewolltes Fehlverhalten darstellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 1.94 -, InfAuslR 1995, 24; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27. P. 2007 - 12 S 603/05 -, juris).

Dass der Staat Bangladesch seinen Bürgern grundsätzlich keinen Schutz gegen Verfolgungsmaßnahmen privater Akteure gewährt, ist nicht ersichtlich. Vielmehr bietet sich nach der aktuellen Erkenntnislage (vgl. nur Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik Bangladesch vom 1. Juli 2008, der durch die Auskunft vom 5. April 2011 an das VG Gelsenkirchen konkretisiert wurde, "International Religious Freedom Report" für 2010 und 2007 sowie Bericht der "United States Commission on International Religious Freedom" von Herbst 2006) insgesamt ein Bild bemühter, aber nicht selten überforderter Sicherheitskräfte, die trotz größtmöglicher Anstrengungen Gewalttaten gegen ethnische und/oder religiöse Minderheiten nicht vollständig verhindern können, auch wenn sich die Sicherheitslage in Bangladesch verbessert hat, wozu auch die Aufstellung des "Rapid Action Battalion" während des bis 17. Dezember 2008 geltenden Ausnahmezustands beigetragen hat. Soweit von Einzelfällen berichtet wird, in denen Sicherheitskräfte nicht die erforderlichen Maßnahmen ergriffen haben (vgl. etwa den im "International Religious Freedom Report 2010" erwähnten Angriff vom 19. Februar 2010 auf Buddhisten), wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet und personelle Konsequenzen gezogen.

Droht demnach Biharis in Bangladesch nicht im allgemeinen i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG relevante Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure, gilt auch im hier interessierenden Einzelfall mit Blick auf die persönliche Situation des Klägers nichts anderes. Seinem Vorbringen sind keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass er bei einer Rückkehr nach Bangladesch Übergriffen durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt sein könnte. Dass die geschilderten vereinzelten verbalen Angriffe insoweit nicht ausreichend sind, bedarf keiner weiteren Darlegung. Erst Recht liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die bangladeschischen Sicherheitskräfte dem Kläger nicht im Rahmen ihrer Möglichkeiten Schutz gegen eventuelle Übergriffe bieten würden. [...]