SG Dessau-Roßlau

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Zitieren als:
SG Dessau-Roßlau, Urteil vom 18.11.2011 - S 17 AY 25/08 - asyl.net: M19492
https://www.asyl.net/rsdb/M19492
Leitsatz:

Zur Feststellung einer rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer ist es erforderlich, dass zu konkreten Mitwirkungshandlungen aufgefordert wird. Eine allgemeine Mitwirkungspflicht besteht nicht.

Schlagwörter: rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer, Mitwirkungspflicht, Aufforderung, Mitwirkungshandlungen, Beweislast, Identitätsfeststellung, Asylbewerberleistungsgesetz, Analogleistungen
Normen: AsylbLG § 2, AsylVfG § 2, AufenthG § 48 Abs. 3
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat schließlich die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst.

b. Ein Fehlverhalten des Klägers in dem missbrauchsrelevanten Zeitraum ist weder zur Überzeugung der Kammer dargelegt worden noch ist ein solches anderweitig ersichtlich.

aa. Entgegen der Begründung des Ablehnungsbescheids vom 08. Juli 2008 handelt ein Leistungsempfänger nicht schon dann rechtsmissbräuchlich, wenn er nicht freiwillig ausreist und hierfür kein anerkennenswerter Grund vorliegt, sondern es wird ein über das bloße Verbleiben und Stellen eines Asyl- bzw. Asylfolgeantrags hinausgehendes vorsätzliches Verhalten gefordert (vgl. BSG, Urteile vom 17.06.2008 - B 8/9b AY 1/07 R und vom 02.02.2010 - B 8 AY 1/08 R, juris Rn. 12 m.w.N.; a.A. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 20.01.2009 - L 11 AY 2/08).

bb. Die Kammer vermochte auch der in dem Widerspruchsbescheid des Landesverwaltungsamts Sachsen-Anhalt vom 07. November 2008 gegebenen - und von der Beklagten im gerichtlichen Verfahren vertieften - Begründung nicht zu folgen, die fehlende Mitwirkung des Klägers, die Verschleppung der Identitätsfeststellung und insbesondere der Besitz falscher Ausweispapiere seien als rechtsmissbräuchliches Verhalten anzusehen. Der Beklagten ist zuzugeben, dass die Angaben des Klägers im Rahmen seiner im Asylverfahren am 04. August 2004 erfolgten Anhörung teilweise nicht nachvollziehbar und im Übrigen nicht vollständig widerspruchsfrei sind (Blatt 10 der Akte der Ausländerbehörde). Gleichwohl konnte die Kammer bei der Gesamtbewertung aller Umstände nicht im erforderlichen Vollbeweis feststellen, dass der Kläger die Dauer des Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat.

(1.) Der Kläger führte den nigerianischen Reisepass Nr. A0172553 zum Zwecke der Einreise nach Großbritannien bei sich. Die Vorlage eines falschen Identitätspapiers bei ausländischen Behörden ist bereits objektiv ungeeignet, die Aufenthaltsdauer des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland zu verlängern. Anhaltspunkte dafür, dass dieser den Reisepass gegenüber deutschen Behörden gebraucht hat, bestehen nicht.

(2.) Es ist nicht erkennbar, dass der Kläger die Feststellung seiner Identität verschleppt bzw. vorwerfbar an der Beschaffung von Identitätsnachweisen nicht mitgewirkt hat. Eine allgemeine Mitwirkungspflicht hierzu besteht nicht (vgl. BSG, Urteil vom 17.06.2008 - B 8/9b AY 1/07 R, juris Rn. 31). Der Kläger ist nach Aktenlage - im missbrauchsrelevanten Zeitraum - zu keinem Zeitpunkt zu konkreten Mitwirkungshandlungen im Sinne des § 48 Abs. 3 AufenthG aufgefordert worden. Wegen der gravierenden Folgen eines Fehlverhaltens ist nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit jedoch eine solche Aufforderung zur Vornahme konkreter Mitwirkungshandlungen erforderlich (Herbst in Mergler/Zink, Handbuch der Grundsicherung und Sozialhilfe, 14. Lfg. Stand Mai 2009, § 2 AsylbLG Rn. 34). Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger einen ihm in seinem Heimatstaat ausgestellten Reisepass vor bzw. nach seiner Einreise in die Bundesrepublik unterdrückt oder vernichtet hat, liegen nicht vor. Insofern der Beklagte in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen hat, bereits in der Einreise mit einem gefälschten Pass sei ein rechtsmissbräuchliches Handeln zu erblicken (vgl. SG Lüneburg, Beschluss vom 23.11.2009 - S 26 AY 24/09 ER), fehlt es gleichfalls an den erforderlichen tatsächlichen Feststellungen hinsichtlich eines derartigen Fehlverhaltens des Klägers.

(3.) Es ist ebenfalls nicht erwiesen, dass der Kläger nicht nigrischer, sondern nigerianischer Staatsangehöriger ist - er also falsche Angaben zu seiner Staatsangehörigkeit gemacht hat. Gemäß § 49 Abs. 1 AufenthG ist jeder Ausländer verpflichtet, gegenüber den mit dem Vollzug des Ausländerrechts betrauten Behörden auf Verlangen die erforderlichen Angaben zu seinem Alter, seiner Identität und Staatsangehörigkeit zu machen und die von der Vertretung des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder vermutlich besitzt, geforderten und mit dem deutschen Recht in Einklang stehenden Erklärungen im Rahmen der Beschaffung von Heimreisedokumenten abzugeben. Ebenso wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in dem Bescheid vom 02. Dezember 2008 und das VG Halle in dem Urteil vom 25. Februar 2011 - 1 A 218/09 HAL (Blatt 537 der Akte der Ausländerbehörde) hat auch die Kammer keine Veranlassung, an der nigrischen Staatsangehörigkeit des Klägers zu zweifeln. Insbesondere bezieht sich die Kammer dabei auf das Gutachten einer Sprachanalyse vom 15. Januar 2010 (Blatt 409 der Akte der Ausländerbehörde). Darin wird ausgeführt, der Kläger stamme mit Sicherheit aus dem frankophonen Westafrika und mit hoher Wahrscheinlichkeit aus dem Niger. [...] Auch die bei der Vorsprache des Klägers bei der Botschaft der Republik Niger am 08. Februar 2011 getroffene Feststellung, die nigrische Staatsangehörigkeit des Klägers könne nicht mit Sicherheit bestätigt werden, besagt - entgegen der Auffassung der Beklagten - nicht, dass dieser nicht nigrischer Staatsangehöriger ist. Zwar werden in der über die Anhörung ausgestellten Bescheinigung vom 09. Februar 2011 konkrete Zweifel an der nigrischen Staatsangehörigkeit des Klägers benannt. Diese Zweifel sind nach Auffassung der Kammer jedoch nicht durchgreifend. Eine andere vermutliche Staatsangehörigkeit des Klägers konnte seitens der Botschaft ebenfalls nicht angegeben werden (Blatt 512 der Akte der Ausländerbehörde).

c. Weil eine rechtsmissbräuchliche Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer durch den Kläger nicht zur Überzeugung der Kammer feststeht, war eine Entscheidung nach Beweislastregeln zu treffen. Die Unerweislichkeit einer Tatsache geht grundsätzlich zu Lasten des Beteiligten, der aus ihr eine ihm günstige Rechtsfolge herleiten will. Während denjenigen, der sich auf einen Anspruch beruft, die Beweislast für die rechtsbegründenden Tatsachen trifft, ist derjenige, der das geltend gemachte Recht bestreitet, für die rechtsvernichtenden, rechtshindernden oder rechtshemmenden Tatsachen beweispflichtig. Die Verteilung der Beweislast bestimmt sich nach der für den Rechtsstreit maßgeblichen materiell-rechtlichen Norm (vgl. BSG, Urteil vom 24.10.1957 - 10 RV 945/55). Die Darlegungs- und objektive Beweislast hinsichtlich des in § 2 Abs. 1 AsylbLG als rechtsvernichtende Einwendung ausgestatteten Tatbestandsmerkmals der rechtsmissbräuchlichen Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer trifft die Beklagte (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26.06.2008 - L 20 B 77/07 AY ER; Hohm, GK-AsylbLG, Aktualisierungslieferung Nr. 43 (Stand: November 20111, § 2 Rn. 91 ff.; Herbst in Mergler/Zink, Handbuch der Grundsicherung und Sozialhilfe, 14. Lfg. Stand Mai 2009, § 2 AsylbLG Rn. 24; a.A. SG Reutlingen. Gerichtsbescheid vom 03.04.2008 - S 2 AY 1686/07).

3. Der Kläger hat nach alledem in dem streitgegenständlichen Zeitraum vom 28. Januar 2009 bis zum 28. Februar 2011 dem Grunde nach einen Anspruch auf Gewährung von Analogleistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG. Im Rahmen der Leistungsgewährung sind die von der Beklagten in dem streitgegenständlichen Leistungen bereits erbrachten Grundleistungen nach § 3 AsylbLG anzurechnen, denn höhere Leistungen sind nur dann gerechtfertigt, wenn die bereits gewährten Leistungen In der Summe niedriger sind als diejenigen Leistungen, welche dem Leistungsberechtigten in entsprechender Anwendung des SGB XII zugestanden hätten. Etwaige Einmalleistungen, die nach § 3 AsylbLG erbracht worden sind, nach dem SGB XII jedoch von der Regelsatzleistung erfasst werden, bleiben deshalb, nicht unberücksichtigt, sondern sind bei dem anzustellenden Gesamtvergleich in Ansatz zu bringen. Dabei auftretende Schwierigkeiten wegen der unterschiedlichen Systematik der beiden Leistungssysteme sind hinzunehmen und im Einzelfall durch eine realitätsnahe und praktikable Lösung zu bewältigen (vgl. BSG, Urteile vom 17.06.2008 - B 8 AY 5/07 R und B 8 AY 11/07 R sowie vom 09.06.2011 - B 8 AY 1/10 R). [...]