VG Potsdam

Merkliste
Zitieren als:
VG Potsdam, Urteil vom 13.02.2012 - 7 K 787/09.A - asyl.net: M19481
https://www.asyl.net/rsdb/M19481
Leitsatz:

Für einen türkischen Wehrdienstverweigerer, der unter 30 Jahre alt ist, ist ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen. Ihm droht bei Rückkehr eine durch Art. 3 EMRK verbotene erniedrigende und entwürdigende Strafe, da er mit einer lebenslangen Strafverfolgung rechnen muss.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Abschiebungshindernis, Türkei, Wehrdienstverweigerung, Türkisches Militärstrafgesetzbuch, Mehrfachbestrafung, Ülke v. Türkei, EGMR, Strafverfolgung, erniedrigende Behandlung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...] Dem Kläger steht ein Anspruch auf Abänderung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. Mai 2009 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 AufenthG zu. [...]

Die Klage ist jedoch hinsichtlich der Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG begründet. Dem Kläger ist Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG zuzuerkennen. Ihm droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine durch Art. 3 EMRK verbotene erniedrigende und entwürdigende Strafe, wenn er in die Türkei zurückkehrt und dort weiter den Wehrdienst verweigert, sich also dem Vorwurf der Fahnenflucht aussetzt. Dem Kläger droht stets erneute und damit mehrfache Bestrafung. Ein türkischer Wehrdienstverweigerer muss mit lebenslanger Strafverfolgung rechnen. Wird man des Wehrdienstverweigerers habhaft, wird er zur Ableistung seines Wehrdienstes der zuständigen Militärdiensteinheit überstellt. Verweigert er weiter den Wehrdienst, wird er dem zuständigen Militärgericht vorgeführt und Anklage wegen Beharrens auf Ungehorsam in der Absicht der gänzlichen Entziehung vom Wehrdienst erhoben und ein Gerichtsverfahren eingeleitet. Nach Verbüßung der Haftstrafe, die nach Art. 63 Türkisches Militärstrafgesetzbuch mindestens drei Monate beträgt, sofern nicht eine Umwandlung in eine Geldstrafe erfolgt, werden die Wehrdienstverweigerer entlassen und zur Ableistung ihres Militärdienstes wiederum an die zuständige Militäreinheit überstellt. Sobald sie dann auf ihrem Standpunkt verharren, werden sie erneut festgenommen, gegen sie mit derselben Begründung erneut ein Strafverfahren durchgeführt und sie erneut bestraft. Dies kann eine unendlicher Prozess sein (vgl. Wehrdienstverweigerung in der Türkei, ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation, März 2009).

Im Fall Ulke v. Türkei (EGMR, Urt. v. 24.1.2006, Nr. 39437/98) befand sich der Wehrdienstverweigerer bereits 700 Tage in Haft und wurde weiterhin zum Zwecke der Ableistung weiterer Strafhaft von den Sicherheitskräften gesucht. Der EGMR sah in der Tatsache, dass ein dauerhaft den Wehrdienst verweigernder türkischer Staatsangehöriger mit der Möglichkeit einer lebenslangen Strafverfolgung rechnen müsse, eine erniedrigende und entwürdigende Bestrafung, die völlig außer Verhältnis zu ihrem Zweck steht, die Ableistung des Militärdienstes sicherzustellen. Die fortlaufenden Verurteilungen stellen sich eher als Maßnahme dar, die intellektuelle Persönlichkeit des Klägers zu unterdrücken und in ihm Angst, Sorge und Verletzlichkeit zu schüren, um ihn zu erniedrigen, herabzuwürdigen und seinen Widerstand zu brechen. Der EMRK beschrieb dies mit dem "zivilen Tod" des dortigen Klägers. Die dem dortigen Kläger widerfahrene Behandlung habe ihm Schmerz und Leiden zugefügt, der über jenes Element der Erniedrigung hinausgehe, das allen Strafverurteilungen oder Inhaftierungen inhärent sei, und deshalb erniedrigende Behandlung im Sinne des Artikel 3 EMRK darstelle (EGMR, a.a.O.)

Die Europäische Kommission forderte hierauf von der Türkei die Verabschiedung eines Gesetzes, das eine wiederholte Verfolgung und Bestrafung derjenigen verhindern soll, die die Ableistung des Wehrdienstes aus Gewissens- oder aus religiösen Gründen verweigerten.

Zwar werde nach einer Erklärung der türkischen Regierung im Juni 2007 gegenüber dem Ministerausschuss des Europarates ein solcher Gesetzentwurf vorbereitet, jedoch ist ein derartiges Gesetz nach Kenntnis des Gerichts lediglich in der Form verabschiedet worden, dass es ermöglicht, sich vom Militärdienst freizukaufen. Im Gegensatz zu den früheren Regelungen aus den Jahren 1987, 1992 und 1999 ist es erstmals in der Geschichte der Türkei möglich, sich mit 30.000 Lira auch von der 21 Tage dauernden Grundausbildung freizukaufen.

Den Antrag auf den Freikauf können alle stellen, die noch nicht ihren Wehrdienst begonnen und das 30. Lebensjahr erreicht haben. Das Gesetz wird am 31. Dezember 2011 in Kraft treten, alle 1982 Geborenen haben das Anrecht, einen Antrag zu stellen. Das Geld kann in sechs Monatsraten bezahlt werden (http://www.deutsch-tuerkische-nachrichten.de/2011/12/12592/neues-gesetz-zum-militaerdienst-tritt-ende-des-monats-in-kraft/).

Diese Möglichkeit ist dem 1986 geborenen Kläger damit jedoch nicht eröffnet.

Selbst wenn man die folglich weiterhin drohende erste Verurteilung nach der Wehrdienstverweigerung als reine Ordnungsmaßnahme ansieht, kann unter dem Aspekt des Abschiebungsschutzes angesichts dieses Vorgehens des türkischen Staates dem Kläger nicht zugemutet werden, in die Türkei abgeschoben zu werden bzw. zurückzukehren und in die Spirale der nicht endenden Mehrfachverurteilungen zu geraten, auch wenn eine derartige Gefahr angesichts der vom türkischen Staat beabsichtigten gesetzlichen Regelung des Verbotes der Mehrfachbestrafung bei Wehrdienstverweigerung wohl gesunken sein dürfte. Jedenfalls existiert eine derartige Regelung derzeit nach Kenntnis des Gerichts nicht, so dass angesichts der ohnehin schleppenden Umsetzung von Reformen in der Türkei, die Gefahr der Mehrfachbestrafung nach wie vor gegeben ist, so dass auch der Kläger im Falle einer Rückkehr in die Türkei mit einer Mehrfachbestrafung rechnen muss. Dies erfüllt nach der Rechtsprechung des EGMR den Tatbestand einer erniedrigenden Strafe. [...]