VG Augsburg

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Zitieren als:
VG Augsburg, Urteil vom 16.11.2011 - Au 6 K 10.30353 - asyl.net: M19212
https://www.asyl.net/rsdb/M19212
Leitsatz:

Auch nicht politisch aktiven Syrern kurdischer Volkszugehörigkeit droht derzeit für den Fall einer Rückkehr nach Syrien extreme Lebensgefahr.

Schlagwörter: Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit, Unversehrtheit, Sperrwirkung, Abschiebungshindernis, Syrien, extreme Gefahrenlage, Kurden
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 3
Auszüge:

[...]

1. Die Klage ist hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG begründet, weil dem Kläger im Falle einer Rückkehr nach Syrien eine extreme Lebensgefahr droht.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren in diesem Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, welcher der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, werden bei Entscheidungen nach § 60a Abs. 1 AufenthG berücksichtigt (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG).

Beruft sich der einzelne Ausländer auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, kann er Abschiebungsschutz regelmäßig nur im Rahmen eines generellen Abschiebestopps nach § 60a Abs. 1 AufenthG erhalten. In einem solchen Fall steht dem Ausländer wegen allgemeiner Gefahren ein Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht zu (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19.12.2000, Az. 1 B 165/00). Die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG ist aber für das Bundesamt und die Gerichte jedenfalls dann unbeachtlich, wenn die oberste Landesbehörde trotz einer extremen allgemeinen Gefahrenlage keinen generellen Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG erlassen bzw. diesen nicht verlängert hat und ein vergleichbar wirksamer Schutz dem betroffenen Ausländer nicht vermittelt wird (vgl. BVerwGE 102, 249 [258 f.]). Entfällt oder endet bei solchen Gegebenheiten der Abschiebestopp, besteht demzufolge nicht nur die Möglichkeit, sondern darüber hinausgehend die staatliche Verpflichtung, in verfassungskonformer Einschränkung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot festzustellen, wenn die Rückkehr des Ausländers in seine Heimat ihn einer vor der Werteordnung des Grundgesetzes nicht zu rechtfertigenden Gefahr aussetzen würde. Allgemeine Gefahren können nur dann Schutz vor Abschiebung begründen, wenn der Ausländer einer extremen Gefahrenlage dergestalt ausgesetzt wäre, dass er im Fall seiner Abschiebung dorthin gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwerster Verletzung ausgeliefert würde und diese Gefahren alsbald nach seiner Rückkehr und landesweit drohen würden (vgl. VG Ansbach vom 29.4.2009, Az. AN 11 K 09.300034, juris, RdNr. 35 m.w.N.). Das bedeutet nicht, dass im Fall der Abschiebung Tod oder schwerste Verletzungen sofort eintreten müssen, sondern auch, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (so BayVGH vom 3.2.2011, Az. 13a B 10.30394, Urteilsabdruck, RdNr. 31 m.w.N. zur Rspr. des BVerwG).

Eine solche extreme allgemeine oder konkret individuelle Gefahrenlage ergibt sich für den Kläger als Kurden bei einer zwangsweisen Rückkehr nach Syrien nach den dargelegten Erkenntnissen und zitierten Quellen daraus, dass das Regime in Damaskus mittlerweile zu wahlloser Gewalt greift, um sein Machtmonopol zu bewahren. Maßgeblich für diese Einschätzung ist das brutale Vorgehen der Armee und der Sicherheitskräfte bei gewaltsamen Auseinandersetzungen im ganzen Land (vgl. in diesem Sinne: Auswärtiges Amt (AA), Reisewarnung Syrien vom 5. Oktober 2011), das nach Schätzungen der UNO mindestens 2.600 Tote und mehr als 70.000 Festnahmen zur Folge hat (vgl. Spiegel online vom 12. September 2011: "2600 Menschen sterben im Aufstand gegen Assad"; Neue Zürcher Zeitung vom 14. September 2011: "Gewalt ohne Ende in Syrien"). Bei der Prognose der für den Kläger zu erwartenden Gefahr ist eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung aus Sicht eines vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen erforderlich; in diese Beurteilung ist die Schwere eines befürchteten Eingriffs einzubeziehen und dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit Rechnung zu tragen. In Anwendung dieser Grundsätze besteht derzeit jedenfalls bis zu einer Beruhigung der Lage in Syrien die konkrete Gefahr, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien in konkrete Gefahr für Leib oder Leben geriete.

Kurden geraten zwar nicht generell, aber jedenfalls wenn sie einzeln nach einer Asylantragstellung im Ausland zurückkehren, als mögliche Oppositionelle oder Regimegegner leichter in Verdacht. Das Auswärtige Amt teilte dem Verwaltungsgericht Augsburg aufgrund einer Anfrage in einem anderweitigen Streitverfahren mit, dass zwar bislang eine Asylantragstellung oder ein längerfristiger Auslandsaufenthalt nur dann Grund für Repressalien oder Verhaftung war, wenn Vorbringen und Vorwürfe des Betroffenen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt und an entsprechender Stelle zur Kenntnis genommen wurde. Es weist jedoch ausdrücklich darauf hin, dass seit einiger Zeit keine Rückführungen mehr nach Syrien aus Deutschland stattfinden und keine aktuellen Erfahrungswerte bezüglich des derzeitigen Verhaltens der syrischen Sicherheitsbehörden vorliegen. Stellte sich somit die Situation vor Beginn der Demonstrationen und der gewaltsamen Auseinandersetzungen (vgl. hierzu Auswärtiges Amt (AA), Reisewarnung Syrien vom 5. Oktober 2011), bereits so dar, dass die Abschiebung aus Deutschland und das illegale Verlassen Syriens zu einer Inhaftierung führen konnte, ist auf der Grundlage der aus der aktuellen Berichterstattung gewonnenen Erkenntnislage beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger heute wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung sowie längerem Auslandsaufenthalt die Festnahme droht.

Damit besteht zumindest bis zu einer Beruhigung der Lage in Syrien die konkrete Gefahr, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Fänge der Sicherheitskräfte und dort in konkrete Gefahr für Leib oder Leben geriete. [...]