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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 13.09.2011 - 1 C 17.10 - asyl.net: M19189
https://www.asyl.net/rsdb/M19189
Leitsatz:

Für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis aus humanitären Gründen (§ 26 Abs. 4 AufenthG) kann die Dauer eines (auch negativen) Asylverfahrens angerechnet werden, auch wenn danach zunächst eine Duldung erteilt wurde. Im Rahmen des Ermessens kann jedoch grundsätzlich verlangt werden, dass der Ausländer zumindest eine gewisse Zeit im Besitz einer humanitären Aufenthaltserlaubnis ist. Denn ein lediglich zur Durchführung eines Asylverfahrens gestatteter Aufenthalt stellt nicht in jedem Fall eine vollwertige Grundlage für eine Integration in die hiesigen Verhältnisse dar.

Schlagwörter: Niederlassungserlaubnis, Anrechnung, Aufenthaltsgestattung, Asylverfahren, Duldung, Unterbrechung, Ermessen, Integration, Voraufenthaltszeiten, Aufenthaltsverfestigung, Sicherung des Lebensunterhalts, Sieben-Jahres-Frist, Aufenthaltszeiten, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen
Normen: AufenthG § 26 Abs. 4 S. 1, AufenthG § 26 Abs. 4 S. 3, AufenthG § 9 Abs. 2, AufenthG § 35 Abs. 1, AufenthG § 102 Abs. 2, AufenthG § 104 Abs. 2, AuslG 1990 § 35, SGB II § 11
Auszüge:

1. Auf den für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG erforderlichen Besitz einer Aufenthaltserlaubnis seit sieben Jahren ist die Aufenthaltszeit des Asylverfahrens, das der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangen ist, nach § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG auch dann anzurechnen, wenn zwischen dem Abschluss des Asylverfahrens und der ersten Erteilung der Aufenthaltserlaubnis der Aufenthalt des Ausländers über einen längeren Zeitraum nur geduldet war.

2. Die Ausländerbehörde kann im Rahmen des ihr bei der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG eröffneten Ermessens mit Blick auf die Gesamtumstände des Falles eine gewisse Mindestzeit des Besitzes eines Aufenthaltstitels verlangen und die Gründe für eine Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts nach Abschluss des Asylverfahrens berücksichtigen.

(Amtliche Leitsätze)

[...]

Die Revision des Klägers ist begründet. Die Berufungsentscheidung beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Berufungsgericht hat zu Unrecht angenommen, dass die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG schon daran scheitert, dass der Kläger im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung nicht die erforderlichen zeitlichen Voraussetzungen dieser Bestimmung erfüllt. Unter Verstoß gegen Bundesrecht ist es davon ausgegangen, dass auf die Sieben-Jahres-Frist des § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG die Dauer des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens nicht gemäß § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG angerechnet werden kann, weil der Aufenthalt des Klägers nach Abschluss des Asylverfahrens länger als ein Jahr nur geduldet war. [...]

Der Kläger war im maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsentscheidung, also am 30. August 2010, im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach dem 5. Abschnitt des Aufenthaltsgesetzes. Ihm wurde im März 2007 auf der Grundlage des § 23 Abs. 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt, die inzwischen bis 2013 verlängert wurde. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts verfügte der Kläger zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung auch über die nach § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderlichen vorangegangenen Zeiten eines solchen Titelbesitzes "seit sieben Jahren".

Zutreffend ist das Berufungsgericht zunächst davon ausgegangen, dass mit der Voraussetzung des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis "seit sieben Jahren" grundsätzlich ein ununterbrochener Titelbesitz während dieses Zeitraums verlangt wird (vgl. Urteil vom 10. November 2009 - BVerwG 1 C 24.08 - BVerwGE 135, 225 Rn. 15). Nach der Rechtsprechung des Senats stehen den Zeiten des Titelbesitzes Zeiten gleich, in denen der Ausländer zwar keinen Aufenthaltstitel besessen hat, er aber nach der vom Gericht inzident vorzunehmenden Prüfung einen Rechtsanspruch auf den Aufenthaltstitel gehabt hat (vgl. Urteil vom 10. November 2009 a.a.O. Rn. 15). Das Erfordernis eines grundsätzlich durchgehenden Titelbesitzes gilt nach der Rechtsprechung des Senats auch im Rahmen der Anrechnung der Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltsbefugnis oder Duldung vor dem 1. Januar 2005 gemäß § 102 Abs. 2 AufenthG. Diese Anrechnungsvorschrift ist im Lichte der von § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG geforderten qualifizierten Aufenthaltszeit - in Gestalt eines ununterbrochen legalen Aufenthalts, dokumentiert durch den Besitz eines Aufenthaltstitels - und deren Sinn und Zweck auszulegen. Ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs des Zuwanderungsgesetzes (BTDrucks 15/420 S. 100) ging es dem Gesetzgeber mit der Übergangsregelung darum, "die Ausländer nicht zu benachteiligen, die nach dem Aufenthaltsgesetz eine Aufenthaltserlaubnis bekommen, jedoch nach dem Ausländergesetz - zum Teil seit vielen Jahren - lediglich eine Duldung erhielten". Der Gesetzgeber wollte also sowohl die Duldungs- als auch die Aufenthaltsbefugniszeiten vor dem 1. Januar 2005 den Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis nach neuem Recht gleichstellen (vgl. Urteil vom 10. November 2009 a.a.O. Rn. 16). Duldungszeiten nach dem 1. Januar 2005, wie sie bei dem Kläger vorliegen, sind dagegen nicht auf den Sieben-Jahres-Zeitraum anzurechnen.

Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts setzt die Anrechnung der Aufenthaltszeit des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens nach § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG hingegen keinen unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Abschluss des Asylverfahrens und der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis voraus. Die Regelung in § 26 Abs. 4 AufenthG über die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis unter Anrechnung der Aufenthaltszeit des vorangegangenen Asylverfahrens entspricht nach der Gesetzesbegründung der früheren Regelung in § 35 Abs. 1 AuslG 1990 (BTDrucks 15/420 S. 80). Die Wartezeit wurde lediglich von acht Jahren auf nunmehr sieben Jahre verkürzt, um den unter dem Ausländergesetz bestehenden Wertungswiderspruch zu den Einbürgerungsvorschriften zu vermeiden. Außerdem knüpfte die Vorgängerregelung - entsprechend den damals geltenden Aufenthaltstiteln - an den Besitz einer Aufenthaltsbefugnis an. Hinsichtlich der Anrechnungsregelung in § 35 Abs. 1 AuslG 1990 ist der Senat mit Urteil vom 15. Juli 1997 - BVerwG 1 C 15.96 - (Buchholz 402.240 § 35 AuslG 1990 Nr. 2) davon ausgegangen, dass die Zeiten eines Asylverfahrens anzurechnen sind, auch wenn sich daran zunächst nicht anrechenbare Zeiten einer Duldung anschließen und dem Ausländer erst später eine Aufenthaltsbefugnis erteilt wurde. Begründet hat er dies mit dem Zweck des § 35 Abs. 1 AuslG 1990, einen aufgrund des Besitzes einer Aufenthaltsbefugnis bzw. aufgrund vorangegangenen Asylverfahrens grundsätzlich rechtmäßigen und durch seine Dauer verfestigten Aufenthalt aus sozialen und humanitären Gründen in einen rechtlich gesicherten Daueraufenthalt überzuleiten. Dabei ist die vom Asylbewerber in der Regel nicht zu vertretende Dauer des Asylverfahrens zu berücksichtigen, da in diesem Fall die für die Schaffung der Vorschrift maßgeblichen sozialen und humanitären Gründe nicht dem Einflussbereich des Asylbewerbers unterliegen. Den Gesetzesmaterialien zum Zuwanderungsgesetz kann nicht entnommen werden, dass der Gesetzgeber mit der Übernahme der Anrechnungsregelung in das Aufenthaltsgesetz an dieser sich aus der Rechtsprechung des Senats ergebenden Auslegung etwas ändern wollte.

Die gegenteilige Auslegung des § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG durch das Berufungsgericht würde die Anrechnung der Aufenthaltszeit eines vorangegangenen Asylverfahrens zudem in weiten Teilen leerlaufen lassen. Der Gesetzgeber hat die humanitären Bleiberechte mit dem Zuwanderungsgesetz zwar grundsätzlich neu geregelt. Nach dem Aufenthaltsgesetz steht aber nur Asylberechtigten und Flüchtlingen sowie Ausländern, bei denen das Bundesamt ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG festgestellt hat, nach § 25 Abs. 1 bis 3 AufenthG ein Ist- bzw. Soll-Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu. In allen anderen Fällen findet ein nahtloser Übergang nach Abschluss des Asylverfahrens in einen humanitären Aufenthaltstitel hingegen in aller Regel schon deswegen nicht statt, weil dessen Erteilung im Ermessen der Ausländerbehörde liegt und die Klärung der tatbestandlichen Voraussetzungen häufig einen längeren Zeitraum in Anspruch nimmt. Der Senat hält daher auch hinsichtlich der Neuregelung in § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG an seiner Auffassung fest, dass für die Anrechnung der Aufenthaltszeit des vorangegangenen Asylverfahrens kein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang mit der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis erforderlich ist. [...]

Da die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG im Ermessen der Ausländerbehörde liegt, hat der Ausländer bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. Bei der Ausübung des Ermessens ist es der Ausländerbehörde - ungeachtet der gesetzlich angeordneten Anrechnung des Asylverfahrens auf die Sieben-Jahres-Frist - nicht verwehrt, mit Blick auf die Gesamtumstände des Falles eine gewisse Mindestzeit des rechtmäßigen Aufenthalts auf der Grundlage eines Aufenthaltstitels zu verlangen (vgl. etwa die Drei-Jahres-Regelung in Nr. 26.4.1.5 der Verfahrenshinweise der Ausländerbehörde Berlin vom 15. April 2011). Denn der während eines Asylverfahrens lediglich gestattete (§ 55 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) und in Sonderfällen (etwa bei Stellung eines Folgeantrags) nur geduldete Aufenthalt stellt nicht in jedem Fall eine vollwertige Grundlage für eine Integration in die hiesigen Verhältnisse dar. Ist es nach Abschluss des Asylverfahrens zu einer Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts gekommen, etwa weil der weitere Aufenthalt des Ausländers infolge Passlosigkeit zunächst nur geduldet wurde, kann die Ausländerbehörde auch die Gründe dieser Unterbrechung berücksichtigen, soweit sich hieraus Rückschlüsse auf die Integration des Ausländers ergeben. [...]