VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 31.08.2011 - 10 K 2370/10 - asyl.net: M19106
https://www.asyl.net/rsdb/M19106
Leitsatz:

Ein Ausländer, der selbst für die Abschiebungskosten in Anspruch genommen wird, kann, sofern der Verwaltungsakt, auf dessen rechtlicher Grundlage die Abschiebung erfolgt ist, nicht unanfechtbar geworden ist, grundsätzlich jeden rechtlichen Mangel der Abschiebung geltend machen, unabhängig davon, ob das Vorliegen des Mangels offensichtlich ist oder nicht. Eine Kostentragungspflicht entsteht daher insbesondere nicht für eine Abschiebung, die in rechtswidriger Weise oder etwa ohne Rechtsgrund durchgeführt worden ist.

(Aus den amtlichen Leitsätzen)

Schlagwörter: Griechenland, Selbsteintritt, Abschiebungskosten, Abschiebung, Kostenhaftung, Leistungsbescheid, Kostentragungspflicht, Dublinverfahren
Normen: VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2, AufenthG § 66 Abs. 1, AufenthG § 67 Abs. 1, AufenthG § 67 Abs. 3
Auszüge:

[...]

Nach Maßgabe dieser Vorschriften erweist sich die Heranziehung des Klägers zu den Kosten seiner Abschiebung nach Griechenland am 11.02.2009 sowie des gescheiterten Abschiebungsversuchs am 03.02.2009 schon deshalb als rechtswidrig, weil diese Maßnahmen letztlich ohne Rechtsgrund erfolgt sind.

Ein Ausländer, der selbst für die Abschiebungskosten in Anspruch genommen wird, kann, sofern der Verwaltungsakt, auf dessen rechtlicher Grundlage die Abschiebung erfolgt ist, nicht unanfechtbar geworden ist, grundsätzlich jeden rechtlichen Mangel der Abschiebung geltend machen, unabhängig davon, ob das Vorliegen des Mangels offensichtlich ist oder nicht. Eine Kostentragungspflicht entsteht daher insbesondere nicht für eine Abschiebung, die in rechtswidriger Weise oder – wie hier – ohne Rechtsgrund durchgeführt worden ist (vgl. dazu auch OVG Hamburg, Urteil vom 03.12.2008, 5 Bf 259/06, zitiert nach juris, unter Hinweis auf das Erfordernis des § 14 Abs. 2 Satz 1 VwKostG, wonach Kosten nicht erhoben werden, die bei richtiger Sachbehandlung durch die Behörden nicht entstanden wären; ferner Funke-Kaiser in GKAufenthG, Stand: August 2011, § 66 Rdnr. 5 f., sowie Hailbronner, AuslR, Stand: Juni 2011, § 66 Rdnr. 1 d, m.w.N.).

Vorliegend lagen zwar sowohl für die beabsichtigte Abschiebung des Klägers am 03.02.2009 als auch für dessen erfolgreiche Abschiebung am 11.02.2009 die rechtlichen Voraussetzungen im Zeitpunkt ihrer Anordnung vor. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2008, mit dem der Antrag des Klägers auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens abgelehnt und seine Abschiebung nach Griechenland angeordnet worden war, war trotz der hiergegen von dem Kläger unter dem 29.01.2009 erhobenen Klage gemäß § 75 Satz 1 AsylVfG sofort vollziehbar. Zudem hatte die 2. Kammer des Verwaltungsgerichts des Saarlandes die von dem Kläger gegen die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angeordnete Abschiebung nach Griechenland gestellten Eilrechtsschutzanträge mit Beschlüssen vom 02.02.2009, 2 L 65/09, und 10.02.2009, 2 L 79/09, zurückgewiesen. Der Forderung der diesbezüglich entstandenen Abschiebungskosten steht jedoch entgegen, dass der die Abschiebung nach Griechenland anordnende Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2008 durch den nachfolgenden Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 08.04.2009 wieder aufgehoben worden ist mit der Folge, dass die zunächst vorliegenden rechtlichen Voraussetzungen für die Abschiebung des Klägers am 11.02.2009 sowie den vorherigen erfolglosen Abschiebungsversuch am 03.02.2009 rückwirkend wieder entfallen und diese Maßnahmen damit letztlich rechtsgrundlos erfolgt sind. Zwar lässt sich dem Aufhebungsbescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 08.04.2009 keine eindeutige Aussage dahingehend entnehmen, dass die Aufhebung des Bescheides vom 16.09.2008 auch Wirkung für die Vergangenheit haben sollte. Darin hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lediglich die mit der aufgrund der Ausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangenen Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens begründete Aufhebung seines Bescheides vom 16.09.2008 ausgesprochen, ohne die Aufhebung jedoch in zeitlicher Hinsicht näher zu erläutern. Allein deshalb kann aber eine entsprechende Rückwirkung der erfolgten Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2008 nicht verneint werden. Der entsprechende Erklärungsinhalt des Aufhebungsbescheides vom 08.04.2009 ist vielmehr unter entsprechender Anwendung des § 133 BGB nach dem objektiven Verständnishorizont des Betroffenen auszulegen. Entscheidend ist damit, wie der Kläger selbst als Adressat des Aufhebungsbescheides dessen materiellen Gehalt unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen musste (vgl. dazu ausführlich VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 05.05.2011, 2 S 2591/10, zitiert nach juris, unter Hinweis auf BVerwG, Urteil vom 18.04.1997, 8 C 43.95, BVerwGE 104, 301, m.w.N.).

In Anlegung dieses Maßstabes konnte der Kläger auf der Grundlage der für ihn erkennbaren Umstände den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 08.04.2009 aber nur so verstehen, dass damit die Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2008 mit Wirkung für die Vergangenheit erfolgt ist. Mit der Aufhebung dieses Bescheides hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nämlich zu erkennen gegeben, dass entgegen seiner bisherigen Einschätzung im Fall des Klägers Gründe für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts der Bundesrepublik Deutschland vorlagen und von einer Überstellung des Klägers nach Griechenland zur dortigen Durchführung seines Asylverfahrens hätte abgesehen werden müssen. Weder nach dem Inhalt des Aufhebungsbescheides vom 08.04.2009 noch aufgrund sonstiger Erklärungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Rahmen des die Aufhebung seines ursprünglichen Bescheides vom 16.09.2008 betreffenden Klageverfahrens 2 K 64/09 musste der Kläger davon ausgehen, seine vorherige Abschiebung nach Griechenland werde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nach wie vor als rechtens angesehen.

Überdies spricht auch nach dem allgemein anerkannten Grundsatz der interessengerechten Auslegung (vgl. dazu ebenfalls VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 05.05.2011, 2 S 2591/10, a.a.O., m.w.N.) vorliegend alles dafür, dass dem Aufhebungsbescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 08.04.2009 rückwirkende Kraft beigelegt worden ist. Eine Berufung auf die Wirksamkeit des ursprünglichen Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2008 bis zu dessen Aufhebung wäre unter Berücksichtigung des schutzwürdigen Interesses des Klägers treuwidrig, zumindest aber verstieße eine bloße Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2008 mit Wirkung für die Zukunft mit der Folge, dass der Kläger trotz der aufgrund der Ausübung des Selbsteintrittsrechts bewirkten Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland zur Durchführung seines Asylverfahrens und der ihm mit weiterem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 21.08.2009 zuerkannten Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG verpflichtet wäre, die Kosten seiner vorangegangenen Abschiebung nach Griechenland zu tragen, vor dem Hintergrund, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge durch den Parlamentarischen Staatssekretär des Bundesministeriums des Innern ausdrücklich angewiesen worden war, den Kläger nach Deutschland zurückzuholen, gegen den aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 4 GG resultierenden Grundsatz des "Venire contra factum proprium", der ein Verhalten verbietet, das in Widerspruch zu vorangegangenem eigenem Verhalten steht.

Fehlt es danach aufgrund der rückwirkenden Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16.09.2008 sowohl für die Abschiebung des Klägers am 11.02.2009 als auch für den vorangegangenen Abschiebungsversuch am 03.02.2009 letztlich an einer rechtlichen Grundlage, steht dies der Kostentragungspflicht des Klägers nach § 66 Abs. 1 AufenthG bereits zwingend entgegen. Eines Eingehens auf die Höhe der von dem Beklagten insoweit in Ansatz gebrachten Abschiebungskosten, insbesondere auch auf die Notwendigkeit einer Überwachung des Klägers durch einen privaten Sicherheitsdienst während seines stationären Aufenthalts in der Rheinhessen-Fachklinik in dem Zeitraum vom 26.01. bis 10.02.2009 und der insoweit angefallenen und vom Kläger beanstandeten Kosten in Höhe von 17.625,13 Euro bedarf es daher nicht. [...]