EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 21.07.2011 - C-186/10 - asyl.net: M19027
https://www.asyl.net/rsdb/M19027
Leitsatz:

Ein türkischer Staatsangehöriger, dessen Aufenthaltserlaubnis in einem Mitgliedstaat unter der Auflage steht, dass ihm eine selbständige Tätigkeit untersagt ist, der aber trotzdem unter Verstoß gegen diese Auflage eine selbständige Tätigkeit aufnimmt und anschließend bei den nationalen Behörden eine Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis auf der Grundlage der von ihm zwischenzeitlich aufgenommenen Geschäftstätigkeit beantragt, kann sich dabei auf Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls (Stillhalteklausel) des 1/80 berufen.

Schlagwörter: Stillhalteklausel, Standstill-Klausel, Assoziierungsabkommen EWG/Türkei, Studium, selbständige Erwerbstätigkeit, Auflage, Aufenthaltserlaubnis
Normen: ZP Art. 41 Abs. 1
Auszüge:

[...]

9 Herrn Oguz wurde am 27. Oktober 2000 die Erlaubnis erteilt, als Student in das Vereinigte Königreich einzureisen. Seine Aufenthaltserlaubnis als Student wurde mehrfach verlängert, wobei die letzte Verlängerung am 31. August 2006 ablief. Die Aufenthaltserlaubnis war jeweils mit der Auflage versehen, dass Herr Oguz "ohne die Zustimmung des Secretary of State for the Home Department keine selbständige Erwerbstätigkeit aufnimmt".

10 Am 18. August 2006 teilte die für die Behandlung von Anträgen auf Erteilung einer Arbeitserlaubnis im Vereinigten Königreich zuständige ministerielle Agentur (Work Permits [UK]) der Trade Link Company Limited (im Folgenden: Trade Link) mit, dass sie deren Antrag auf Erteilung einer Arbeitserlaubnis für Herrn Oguz stattgegeben habe. In der Folge wurde Herrn Oguz als Inhaber einer Arbeitserlaubnis eine Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis für die Dauer von fünf Jahren ab dem 29. August 2006 gewährt. Für diese neue Erlaubnis galten dieselben Auflagen, wie sie in der ihm bei seiner Ankunft im Vereinigten Königreich erteilten Erlaubnis enthalten waren.

11 Am 16. November 2006 teilte Trade Link Herrn Oguz mit, dass sein Arbeitsverhältnis aus betrieblichen Gründen mit sofortiger Wirkung gekündigt worden sei. Am 14. November 2007 lehnten die zuständigen Behörden einen neuen Antrag auf Erteilung einer Arbeitserlaubnis, den Herr Oguz im Hinblick auf die Ausübung der Tätigkeit des Vertriebs- und Marketingleiters einer Zeitung gestellt hatte, mit der Begründung ab, dass die Anforderungen für die fragliche Stelle zu restriktiv formuliert gewesen seien und möglicherweise gebietsansässige Arbeitnehmer von einer Bewerbung um die Stelle abgehalten hätten.

12 Am 20. März 2008 beantragte Herr Oguz auf der Grundlage der Zuwanderungsbestimmungen von 1972 eine neue Aufenthaltserlaubnis im Vereinigten Königreich als selbständig Erwerbstätiger.

13 Dieser Antrag, in dem auf die Ausübung einer Tätigkeit als Berater für Finanzdienstleistungen und Marketing abgestellt wurde, ließ erkennen, dass Herr Oguz zu diesem Zeitpunkt bereits eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübte. Später bestätigte er, dass er seine Geschäftstätigkeit im Februar 2008 aufgenommen und diese seit März 2008 ausgeübt habe. Am 2. September 2008 teilte er indessen den zuständigen Behörden mit, dass er die Ausübung seiner selbständigen Erwerbstätigkeit am 11. August 2008 eingestellt habe und diese erst wieder aufnehmen werde, wenn eine Entscheidung über seinen Antrag getroffen worden sei.

14 Der Antrag von Herrn Oguz wurde mit Entscheidung des Secretary of State vom 21. Oktober 2008 auf der Grundlage der Zuwanderungsbestimmungen von 2008 abgelehnt. Außerdem wurde die Dauer seiner bestehenden Aufenthaltserlaubnis mit der Begründung verkürzt, dass er die Auflagen, von denen sie abhängig sei, nicht mehr erfülle.

15 Diese ablehnende Entscheidung wurde darauf gestützt, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens unter Verstoß gegen die Auflagen seiner früheren Aufenthaltserlaubnis als Inhaber einer Arbeitserlaubnis eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt und dem Secretary of State die Beendigung der Tätigkeit bei Trade Link nicht mitgeteilt habe. Solche Verstöße kämen einem betrügerischen bzw. missbräuchlichen Verhalten gleich, so dass ihm der Vorteil der Stillhalteklausel gemäß Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zu versagen sei.

16 Der Kläger des Ausgangsverfahrens legte am 4. November 2008 beim Asylum and Immigration Tribunal (Asyl- und Zuwanderungsgericht) Beschwerde gegen diese Entscheidung ein. [...]

20 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls dahin gehend auszulegen ist, dass sich ein türkischer Staatsangehöriger, dessen Aufenthaltserlaubnis in einem Mitgliedstaat unter der Auflage steht, dass ihm eine selbständige Erwerbstätigkeit untersagt ist, der aber trotzdem unter Verstoß gegen diese Auflage eine selbständige Tätigkeit aufnimmt und anschließend bei den nationalen Behörden eine Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis auf der Grundlage der von ihm zwischenzeitlich aufgenommenen Geschäftstätigkeit beantragt, auf diese Vorschrift berufen kann. [...]

41 Zunächst ist hervorzuheben, dass der Sachverhalt des Rechtsstreits, in dem das Urteil Kondova ergangen ist, gegenüber dem des vorliegenden Ausgangsverfahrens erhebliche Unterschiede aufweist.

42 Im Gegensatz zu Herrn Oguz, dem es gesetzmäßig gestattet wurde, in das Vereinigte Königreich einzureisen und sich dort aufzuhalten, und der sich erst dann in einer Situation befand, die nicht im Einklang mit den in den nationalen Rechtsvorschriften festgesetzten Anforderungen stand, als er acht Jahre nach seiner Einreise in diesen Mitgliedstaat eine Geschäftstätigkeit aufnahm, hatte nämlich Frau Kondova eingeräumt, dass sie im Hinblick auf ihre Einreise in das Vereinigte Königreich sowohl den für die Prüfung von Anträgen auf Erteilung einer Erlaubnis zur Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Staates zuständigen Beamten, der ihr in Bulgarien ihr Visum erteilt hatte, als auch den Beamten des Zuwanderungsdienstes, der sie bei ihrer Ankunft im Vereinigten Königreich befragt hatte, bewusst getäuscht hatte.

43 Daher stand fest, dass Frau Kondova mit diesem Verhalten gegen die Vorschriften über die Ersteinreise von Drittstaatsangehörigen in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats, für die dieser Staat zuständig war, verstoßen hatte.

44 Im Übrigen war in der Rechtssache Kondova auch der rechtliche Rahmen ein anderer. Im Gegensatz zu Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls war Art. 45 Abs. 1 des Assoziierungsabkommens EG–Bulgarien die materiell-rechtliche Vorschrift, auf deren Grundlage ein Antrag auf Niederlassung in der Sache zu beurteilen war und deren Verletzung Frau Kondova vorgeworfen wurde. Nach dieser letztgenannten Vorschrift durfte jeder Mitgliedstaat die in seinem Hoheitsgebiet niedergelassenen bulgarischen Staatsangehörigen nicht weniger günstig behandeln als seine eigenen Staatsangehörigen. Angesichts dieser Erwägungen und des Umstands, dass in Art. 45 Abs. 1 des Assoziierungsabkommens EG–Bulgarien keine Stillhalteklausel enthalten ist, ist davon auszugehen, dass diese Vorschrift anderer Natur ist als Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls.

45 Unter diesen Umständen ist es, wie die Generalanwältin in den Nrn. 58 und 59 ihrer Schlussanträge dargelegt hat, nicht überraschend, dass der Gerichtshof im Urteil Kondova akzeptiert hat, dass die Inanspruchnahme dieses materiellen Rechts wegen eines Rechtsmissbrauchs verweigert wird. Der in jenem Urteil gezogene Schluss lässt sich nicht auf eine Stillhalteklausel wie die in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls vorgesehene übertragen, da mit dieser Klausel weder ein materielles Niederlassungsrecht noch eine Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats geschaffen wird.

46 Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls dahin gehend auszulegen ist, dass sich ein türkischer Staatsangehöriger, dessen Aufenthaltserlaubnis in einem Mitgliedstaat unter der Auflage steht, dass ihm eine selbständige Erwerbstätigkeit untersagt ist, der aber trotzdem unter Verstoß gegen diese Auflage eine selbständige Tätigkeit aufnimmt und anschließend bei den nationalen Behörden eine Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis auf der Grundlage der von ihm zwischenzeitlich aufgenommenen Geschäftstätigkeit beantragt, auf diese Vorschrift berufen kann. [...]