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VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Beschluss vom 16.08.2011 - 4 L 908/11.KS - asyl.net: M18904
https://www.asyl.net/rsdb/M18904
Leitsatz:

1. Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Prüfung, ob eine Niederlassungserlaubnis nach mindestens 15-jährigem rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland wegen Sicherung des Lebensunterhalts nicht erloschen ist (§ 51 Abs. 2 AufenthG), ist der Zeitpunkt der Ausreise. Zu berücksichtigen ist

2. Ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung nach Afghanistan: Den eingeführten Erkenntnissen zur Situation in Afghanistan ist zu entnehmen, dass Rückkehrer ohne familiäre Anbindung und Unterstützung sich dort regelmäßig keine Lebensgrundlage schaffen können und ihr Überleben dort deshalb ernsthaft bedroht ist.

Schlagwörter: Niederlassungserlaubnis, Erlöschen, vorläufiger Rechtsschutz, Suspensiveffekt, zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis, Abschiebungsandrohung, Afghanistan, freiwillige Ausreise, Rückkehr, Sicherung des Lebensunterhalts, Beurteilungszeitpunkt, Existenzgrundlage, Diabetes mellitus, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot,
Normen: AufenthG § 51 Abs. 2, VwGO § 80 Abs. 5, AufenthG § 59 Abs. 1, AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 6, AufenthG § 72 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Der so verstandene Antrag hat in der Sache aber nur Erfolg, soweit dem Antragsteller in dem angefochtenen Bescheid die Abschiebung nach Afghanistan angedroht worden ist. Insoweit überwiegt das private Interesse des Antragstellers, bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren von Vollstreckungsmaßnahmen verschont zu werden. Im übrigen aber erweist sich die in dem angefochtenen Bescheid enthaltene Abschiebungsandrohung als offensichtlich rechtmäßig und ein das öffentliche Interesse Überwiegendes privates Interesse des Antragstellers kann unter Berücksichtigung der gesetzlichen Anordnung des Wegfalls der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs nicht festgestellt werden.

Voraussetzung für den Erlass der Abschiebungsandrohung nach § 59 Abs. 1 AufenthG ist eine Ausreiseverpflichtung des Antragstellers. Der Antragsteller ist zur Ausreise verpflichtet, weil seine Niederlassungserlaubnis erloschen ist und er auch nicht aus sonstigen Gründen zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt ist (§ 50 Abs. 1 AufenthG). Dass die Niederlassungserlaubnis des Antragstellers erloschen ist, ergibt sich aus § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG. Denn er ist am 29.06.2010 aus dem Bundesgebiet ausgereist, und zwar, wie sich aus den Umständen seiner Ausreise ergibt - er hat Rückkehrbeihilfen in Anspruch genommen -, offensichtlich aus nicht nur vorübergehenden Gründen. Die Voraussetzungen für einen Ausnahmetatbestand des § 51 Abs. 2 AufenthG, der das Erlöschen des Titels hätte hindern können, liegen nicht vor. Ein solcher Ausnahmefall läge, da der Antragsteller von seiner deutschen Ehefrau auch schon vor der Ausreise geschieden war, nur dann vor, wenn die Lebensumstände des Antragstellers zum Zeitpunkt seiner Ausreise die Prognose erlaubt hätte, dass sein Lebensunterhalt eigenständig gesichert war. Das ist aber offensichtlich nicht der Fall, da der Antragsteller bis zu diesem Zeitpunkt von Sozialleistungen gelebt hat. Auf die Frage, ob im Zeitpunkt seiner Wiedereinreise in das Bundesgebiet davon ausgegangen werden kann, dass der Antragsteller in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt eigenständig zu sichern, und ob ihm dies, soweit das wegen der Wegnahme seines Reiseausweises durch die Antragsgegnerin nicht der Fall war, gegebenenfalls nicht entgegengehalten werden könnte, kommt es, weil nicht entscheidungserheblich, dagegen nicht an (a.A, BayVGH, Beschluss vom 15.10.2009 - 19 CS 09.2194 u.a. -, InfAuslR 2010, 7; Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2005, § 5 Rdnr. 35). Denn im Falle des § 51 Abs. 1 Nr. 6; Abs. 2 S. 1 AufenthG ergibt die Auslegung dieser Vorschrift, dass für die Frage, ob der Lebensunterhalt eines Ausländers ohne Inanspruchnahme von Sozialleistungen gesichert ist, der Zeitpunkt der Ausreise maßgeblich ist. Zwar ist dem Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers zuzugeben, dass sich dies nicht - aber auch nicht für alternative Zeitpunkte - aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt. Für dieses Verständnis des § 51 Abs. 2 S. 1 AufenthG sprechen aber die Gesetzesmaterialien und rechtssystematische Gründe. Im Einzelnen:

In der Vorgängerregelung - § 44 Abs. 1a und b AuslG 1990 i.d.F. des Gesetzes vom 29.10.1997 (BGBl I, S. 2584) - hatte es geheißen:

"(1a) Die unbefristete Aufenthaltserlaubnis oder die Aufenthaltsberechtigung eines Ausländers, der sich als Arbeitnehmer oder als Selbständiger mindestens 15 Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, erlischt nicht nach Absatz 1 Nr. 2 und 3, wenn er

1. eine Rente wegen Alters, verminderter Erwerbsfähigkeit, Arbeitsunfalls oder Berufskrankheit in einer solchen Höhe bezieht, daß er während seines Aufenthaltes im Bundesgebiet keine Sozialhilfe in Anspruch nehmen muß, und

2. einen alle Risiken abdeckenden Krankenversicherungsschutz genießt.

Anstelle des Rentenbezuges nach Satz 1 Nr. 1 können eigenes Vermögen sowie ergänzende Unterhaltsleistungen unterhaltsverpflichteter Personen zur Deckung des Lebensunterhaltes anerkannt werden. Zum Nachweis des Fortbestandes der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis oder der Aufenthaltsberechtigung nach den Sätzen 1 und 2 stellt die Ausländerbehörde am Ort des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes auf Antrag eine Bescheinigung aus.

(1 b) Die unbefristete Aufenthaltserlaubnis oder die Aufenthaltsberechtigung des Ehegatten eines nach § 44 Abs. 1a begünstigten Ausländers erlischt nicht nach Absatz 1 Nr. 2 und 3, wenn der Ehegatte seinen Lebensunterhalt aus eigenen Rentenansprüchen oder aus dem Unterhalt des Ausländers bestreiten kann und über einen alle Risiken abdeckenden Krankenversicherungsschutz verfügt."

Zur Begründung die Regelung des Abs. 1a hatte die Gesetzesbegründung angeführt (BT-Drs. 13/4948 vom 18.06.1996, S. 8):

"Ältere ausländische Arbeitnehmer, die nach Beginn des Rentenbezuges für einen längeren Zeitraum in ihr Herkunftsland zurückkehren, konnten bislang nur unter den Voraussetzungen des § 16 Abs. 5 ein Wiederkehrrecht geltend mache, da die ursprünglich erteilte Aufenthaltsgenehmigung gem. § 44 Abs. 1 erlosch. Um die - beliebig häufige - Ein- und Ausreise zu erleichtern, bleibt ihnen nunmehr die einmal erworbene Rechtsposition auf Dauer erhalten. ..."

Und zur Begründung die Regelung des Abs. 1b wurde angeführt (BT-Drs. 13/4948 vom 18.06.1996, S. 9):

"Dieser Absatz regelt die Voraussetzungen, die der Ehegatte des Ausländers zum Erhalt dieser Rechtsposition zu erfüllen hat. Er privilegiert den Ehegatten insbesondere dahingehend, daß von 15 Jahren Voraufenthalt abgesehen wird. Die Regelung stellt sicher, daß die öffentlichen Haushalte nicht zusätzlich belastet werden."

Angesichts des so formulierten Regelungsziels liegt es auf der Hand, dass der Gesetzgeber des § 44 Abs. 1a und b AuslG davon auszugehen war, dass die Voraussetzungen für die Ausnahmetatbestände schon bei der Ausreise vorgelegen haben mussten. Dementsprechend ist die Vorschrift auch verstanden worden (Renner, Ausländerrecht in Deutschland, 1998, S, 598).

Diese Regelungen sind dann im Aufenthaltsgesetz umgestaltet und in einen Absatz zusammengefasst worden. Zur Begründung hat der Entwurf hierzu vermerkt (BT-Drs. 15/420, S. 89):

"Abs. 2 fasst die gegenwärtig geltenden Regelungen (§ 44 Abs. 1a und 1b AuslG) zusammen. In Satz 1 wird die Aufzählung der Einkommensarten zur Beseitigung nicht erforderlicher Überregulierung ersetzt durch die Bezugnahme auf den Begriff des gesicherten Lebensunterhalts (Definition in § 2 Abs. 3). Der Ehegatte eines begünstigten Ausländers braucht - wie bislang - keinen Voraufenthalt bestimmter Dauer nachzuweisen. Die bisherige Benachteiligung des Ehegatten (keine Berücksichtigung der Unterhaltssicherung durch eigenes Vermögen) wird aufgehoben, da hierfür kein sachlicher Grund besteht."

Daraus ergibt sich, dass der Gesetzgeber des Aufenthaltsgesetzes zum einen nur eine redaktionelle Änderung und im übrigen eine Anpassung und damit auch Erweiterung der Einkunftsarten schaffen wollte, die die Privilegierung des § 44 Abs. 1a AuslG bzw. § 51 Abs. 1 Nr. 6, 2 S. 1 AufenthG ermöglichen, nicht aber eine Veränderung des Zeitpunktes für die Beurteilung der Frage, ob die Voraussetzungen für die Ausnahmeregelung vorliegen oder nicht.

Darüber hinaus sprechen rechtssystematische Gründe für ein Abstellen auf den Zeitpunkt der Ausreise. Soweit kein Ausnahmefall des § 51 Abs. 2 S. 1 AufenthG vorliegt, erlischt nämlich der Aufenthaltstitel mit der Ausreise. Würde man nicht auf diesen Zeitpunkt für die Frage der eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts abstellen, sondern auf den der Wiedereinreise, bliebe möglicherweise für einen längeren Zeitraum in der Schwebe, ob die Aufenthaltstitel erloschen ist oder noch Wirksamkeit beanspruchen kann. Das aber widerspräche der mit den Erlöschensregelung des § 51 AufenthG gerade angestrebten Rechtsklarheit (BVerwG, Urteil vom 30.04.2009 - 1 C 6.08 -, BVerwGE 134, 27). Nur wenn im Falle des § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG auf den Zeitpunkt der Ausreise abgestellt wird, kann jederzeit festgestellt werden, ob der Aufenthaltstitel noch wirksam ist oder ob er schon erloschen ist. Ob auch im Falle des § 51 Abs. 1. Nr. 7 AufenthG, der bestimmt, dass der Aufenthaltstitel erlischt, wenn der Ausländer ausgereist und nicht innerhalb von sechs Monaten oder einer von der Ausländerbehörde bestimmten längeren Frist wieder eingereist ist, auf den Zeitpunkt der Ausreise oder aber auf den Zeitpunkt des Erlöschens des Titels nach Ablauf von sechs Monaten abzustellen ist (für letzteres OVG Münster, Beschluss vom 30.03.2010 - 18 B 111/10 -, EzAR-NF 48 Nr. 16; VG Ansbach, Urteil vom 25.02.2010, AN 5 K 09.01143 -, Juris; BayVGH, Urteil vom 01.10.2008 - 10 BV 08.256, Juris; GK-AufenthG, Stand 2010, § 51 Rdnr. 84 ff.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand 2010, § 51 Rdnr. 39), bedarf für den hier maßgeblichen Fall des § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG, bei dem der Zeitpunkt der Ausreise und des Erlöschens in eins fällt, keiner Entscheidung.

Zwar ist der Auffassung, die auf den Zeitpunkt der Wiedereinreise abstellt, zuzugeben, dass dadurch der Zweck, die Inanspruchnahme von Sozialleistungen zu verhindern, Genüge getan würde. Gleichwohl lässt sie sich mit der Gesetzeshistorie und der Systematik der Erlöschensvorschriften nicht vereinbaren.

Nichts anderes ergibt sich aus dem Hinweis des Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers, dass die Niederlassungserlaubnis auch bei Sozialhilfebezug ohne Ausreise nicht erlischt. Denn es stellt einen sachlichen, eine Ungleichbehandlung rechtfertigenden Grund dar, wenn der Gesetzgeber dann, wenn der Betroffene das Bundesgebiet verlässt, für den Fortbestand der Niederlassungserlaubnis auf die selbständige Sicherung des Lebensunterhalts abstellt.

Soweit die Antragsgegnerin dem Antragsteller in dem angefochtenen Bescheid aber die Abschiebung nach Afghanistan angedroht hat, bestehen ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser Zielstaatsbestimmung. Denn die Antragsgegnerin hat die Abschiebungsandrohung ohne die nach § 72 Abs. 2 AufenthG eigentlich erforderliche vorherige Beteiligung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge erlassen. Allerdings könnte dieses Versäumnis dem Antrag nur dann zum Erfolg verhelfen, wenn der Antragsteller dadurch auch in eigenen Rechten verletzt wäre (dazu - ablehnend - GK-AufenthG, § 72 Rdnr. 55). Das kann hier letztlich offen bleiben. Denn den dem Gericht vorliegenden und durch Übersendung einer entsprechenden Liste an die Beteiligten in das Verfahren eingeführten Erkenntnissen zur Situation in Afghanistan ist zu entnehmen, dass Rückkehrer nach Afghanistan ohne familiäre Anbindung und Unterstützung sich dort regelmäßig keine Lebensgrundlage schaffen können und ihr Überleben dort deshalb ernsthaft bedroht ist. So wird auch in der Rechtsprechung der 3. Kammer des Gerichts, die für Asylverfahren von afghanischen Asylbewerbern zuständig ist, regelmäßig angenommen, dass für diesen Personenkreis ein (verfassungsunmittelbares) Abschiebungsverbot nach Afghanistan gem. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG besteht (z.B. Urteil vom 13.04.2011 - 3 K 752/10.KS.A). Der Antragsteller hat gegenüber der Ausländerbehörde der Antragsgegnerin erklärt, dass er in Afghanistan keine Arbeit gefunden hat, und im vorliegenden Verfahren vorgetragen, dass er in Afghanistan über keine familiären Bindungen verfügt. Ob sich eine andere Beurteilung daraus ergibt, dass der Antragsteller gegenüber der Ausländerbehörde der Antragsgegnerin erklärt hat, er lebe jetzt im Bundesgebiet von Bargeld, das er aus Afghanistan mitgebracht habe, was mit dem Vortrag seines Verfahrensbevollmächtigten im Schriftsatz vom 10.08.2011 nicht ohne weiteres in Einklang gebracht werden kann, bedarf der weiteren Aufklärung im Hauptsacheverfahren. Hinzu kommt, dass der Antragsteller offenbar an insulinpflichtigem Diabetes mellitus erkrankt ist, was angesichts des desolaten Gesundheitswesens in Afghanistan zu einer weiteren ernsthaften Gefährdung des Antragstellers bei einer Rückkehr nach Afghanistan führen müsste. Nach all dem gibt es ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Zielstaatsbestimmung in der Abschiebungsandrohung in dem angefochtenen Bescheid. Dies führt dazu, dass das Interesse des Antragstellers, bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren von Vollstreckungsmaßnahmen verschont zu werden, das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug überwiegt. Im übrigen bleibt die Abschiebungsandrohung davon aber unberührt (§ 59 Abs. Abs. 3 S. 3 AufenthG). [...]