VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 16.06.2011 - 10 K 2090/10 - asyl.net: M18814
https://www.asyl.net/rsdb/M18814
Leitsatz:

1. Die Ausreise eines aus dem Kosovo stammenden Ausländers ist nicht i. S. v. § 25 Abs. 5 AufenthG auf unabsehbare Zeit aus tatsächlichen Gründen unmöglich, wenn eine Rückübernahme auf der Grundlage des am 01.09.2010 in Kraft getretenen deutsch-kosovarischen Rückübernahmeabkommens ernsthaft in Betracht kommt.

2. Ein rechtliches Ausreisehindernis i. S. v. § 25 Abs. 5 AufenthG auf der Grundlage des von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Rechts auf Achtung des Privatlebens kommt nur bei einem rechtmäßigen Aufenthalt des Ausländers und einem schutzwürdigen Vertrauen auf den Fortbestand des Aufenthalts in Betracht.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Kosovo, Rückübernahme, deutsch-kosovarisches Rückübernahmeabkommen, Rückübernahmeabkommen, Ausreisehindernis, rechtliches Ausreisehindernis, Achtung des Privatlebens, rechtmäßiger Aufenthalt, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, häusliche Gemeinschaft, familiäre Lebensgemeinschaft, familiäre Beistandsgemeinschaft, Integration, wirtschaftliche Integration, Sicherung des Lebensunterhalts,
Normen: EMRK Art. 8 Abs. 1, AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 104a,
Auszüge:

[...]

Der Klägerin steht kein Anspruch auf Erteilung der von ihr begehrten Aufenthaltserlaubnis zu. Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 05.08.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.09.2010, mit dem die Anträge der Klägerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf der Grundlage der Altfallregelung des § 104 a Abs. 1 AufenthG bzw. Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Maßgabe des § 25 Abs. 5 AufenthG abgelehnt worden sind, ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin daher nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen, unter denen auf der Grundlage der Altfallregelung des § 104a AufenthG die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Betracht kommt, nicht. [...]

Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf dieser Grundlage kann die Klägerin schon deshalb nicht beanspruchen, weil sie die Bundesrepublik Deutschland nach ihrer Ersteinreise im Jahr 1992 im Februar 2004 wieder verlassen hat und erst im April 2005 erneut in das Bundesgebiet eingereist ist. Damit hat sich die Klägerin aber nicht, wie von § 104 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gefordert, am 01.07.2007 seit mindestens acht bzw. sechs Jahren ununterbrochen im Bundesgebiet aufgehalten.

Das Begehren der Klägerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis lässt sich im Weiteren auch nicht auf die Vorschrift des § 25 Abs. 5 AufenthG stützen. Nach den Sätzen 1 und 2 dieser Vorschrift soll einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer, dessen Abschiebung seit 18 Monaten ausgesetzt ist, abweichend von § 11 Abs. 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit einem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist.

Davon ausgehend ist eine Ausreise der Klägerin zunächst nicht auf unabsehbare Zeit aus tatsächlichen Gründen unmöglich. Zwar besteht für die Klägerin derzeit noch ein tatsächliches Ausreisehindernis, weil sie nicht im Besitz eines gültigen kosovarischen Reisepasses oder eines Passersatzpapieres ist und sich auch die zuständigen kosovarischen Behörden bislang noch nicht mit einer Rückübernahme der Klägerin aufgrund des am 01.09.2010 in Kraft getretenen deutsch-kosovarischen Rücknahmeabkommens einverstanden erklärt haben. Dieses Ausreisehindernis darf jedoch nicht nur für einen überschaubaren Zeitraum bestehen, sondern muss dauerhaft sein. Davon ist vorliegend indes nicht auszugehen. Da die kosovarischen Behörden sowohl hinsichtlich einer Schwester der Klägerin als auch hinsichtlich ihres Bruders, dem Kläger in dem bei Gericht ebenfalls anhängigen Klageverfahren 10 K 2277/10, bereits ihr Einverständnis zu deren Rückübernahme erklärt haben, spricht im konkreten Fall eine nicht unerhebliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass auch auf die Klägerin das seit dem 01.09.2010 Geltung beanspruchende deutsch-kosovarische Rückübernahmeabkommen Anwendung findet, welches gerade eine Rückführung von aus dem Kosovo stammenden ausreisepflichtigen Personen ermöglichen soll. Dem kann die Klägerin nicht durchgreifend entgegenhalten, sie werde mangels fehlender Registrierung im Kosovo nicht als kosovarische Staatsangehörige angesehen und könne daher auch keinen kosovarischen Reiseausweis erhalten. Davon abgesehen, dass die Klägerin es bislang unterlassen hat, einen Antrag auf Ausstellung eines kosovarischen Reisepasses bei der kosovarischen Auslandsvertretung zu stellen, ist vorliegend allein entscheidend, dass auf der Grundlage des deutsch-kosovarischen Rückführungsabkommen hinsichtlich der Klägerin eine Rückführungsmöglichkeit ernsthaft im Raum steht und daher von einem dauerhaften und nicht behebbaren Ausreisehindernis, dem durch eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG Rechnung getragen werden müsste, nicht ausgegangen werden kann. Des ungeachtet können entgegen der Auffassung der Klägerin auch Personen, die den Kosovo bereits vor dem 01.01.1998 verlassen und sich nicht als "Permanent resident of Kosovo" haben registrieren lassen, die kosovarische Staatsangehörigkeit erworben haben. Zwar sieht Art. 155 der kosovarischen Verfassung ebenso wie § 29 des kosovarischen Staatsangehörigkeitsgesetzes vor, dass Staatsangehöriger des Kosovo ist, wer am 01.01.1998 die Staatsangehörigkeit der Bundesrepublik Jugoslawien besaß und an diesem Tag ungeachtet seines derzeitigen Wohnsitzes und seiner derzeitigen Staatsangehörigkeit seinen ständigen Wohnsitz im Kosovo hatte. Nach der die Vorschrift des § 29 des kosovarischen Staatsangehörigkeitsgesetzes näher bestimmenden Verwaltungsvorschrift 05/2009 können die Voraussetzungen für den Erwerb der kosovarischen Staatsangehörigkeit unter bestimmten Umständen aber auch dann erfüllt sein, wenn die betreffende Person gezwungen war, den Kosovo vor dem 01.01.1998 zu verlassen (vgl. dazu ausführlich Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo vom 06.01.2011, 508- 516.80/3 KOS).

Sind danach die Möglichkeiten zum Erwerb der Staatsangehörigkeit der Republik Kosovo weit gefasst, kommt für die Klägerin die kosovarische Staatsangehörigkeit und die Ausstellung eines gültigen kosovarischen Reisepasses im Falle deren Beantragung durchaus in Betracht.

Im Weiteren kann die Klägerin die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auch nicht aufgrund der rechtlichen Unmöglichkeit ihrer Ausreise beanspruchen.

Eine Ausreise ist im Sinne von § 25 Abs. 1 Satz 1 AufenthG aus rechtlichen Gründen unmöglich, wenn sowohl der Abschiebung als auch der freiwilligen Ausreise des Ausländers rechtliche Hindernisse entgegenstehen, welche die Ausreise ausschließen oder diese als unzumutbar erscheinen lassen. Derartige Hindernisse können sich sowohl aus inlandsbezogenen Abschiebungsverboten ergeben, zu denen insbesondere auch diejenigen Verbote zählen, die etwa mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG aus Verfassungsrecht oder aber aus Völkervertragsrecht, beispielsweise aus Art. 8 EMRK, in Bezug auf das Inland herzuleiten sind, als auch aus zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.06.2006, 1 C 14.05, DVBl. 2006; 1509, m.w.N.; ferner OVG Lüneburg, Beschluss vom 11.06.2010, 2 ME 186/10, zitiert nach juris, m.w.N.).

Dies zugrunde legend erweist sich die Ausreise der Klägerin nicht im Verständnis von § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG aus rechtlichen Gründen unmöglich. Insbesondere kann die Klägerin mit ihrem Hinweis in der mündlichen Verhandlung, sie lebe mit ihren über Aufenthaltserlaubnisse verfügenden Eltern noch in häuslicher Gemeinschaft, kein rechtliches Hindernis aus dem sowohl von Art. 6 Abs. 1 GG als auch von Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährleisteten Schutz des Familienlebens herleiten. Die bestehenden familiären Bindungen der volljährigen Klägerin zu ihren in Deutschland aufenthaltsamen Eltern könnten insoweit allenfalls dann ein zwingendes Abschiebungshindernis begründen, wenn entweder die Klägerin selbst aufgrund besonderer Umstände auf Unterstützung und Hilfe ihrer Eltern im Bundesgebiet oder aber ein Elternteil gerade zwingend auf die Lebenshilfe der Klägerin angewiesen wäre und diese Hilfe sich nur in der Bundesrepublik Deutschland erbringen ließe. Lebensverhältnisse, die Grund zu der Annahme bieten würden, dass zwischen der Klägerin und ihren Eltern eine solche, von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK gleichermaßen geschützte familiäre Beistandsgemeinschaft bestünde, hat die Klägerin indes auch nicht ansatzweise dargetan.

Die Klägerin kann sich ferner auch nicht mit ihrem Vorbringen, sie habe als Kleinkind zusammen mit ihren Eltern den Kosovo verlassen und nahezu ihr gesamtes Leben im Bundesgebiet verbracht, mit Erfolg auf Art. 8 EMRK berufen. Das von Art. 8 Abs. 1 EMRK insoweit geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens umfasst zwar, auch soweit es keinen familiären Bezug hat, die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen - angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen – bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt. Ein den Schutz von Art. 8 Abs. 1 EMRK begründendes Privatleben kommt allerdings grundsätzlich nur auf der Grundlage eines rechtmäßigen Aufenthalts und eines schutzwürdigen Vertrauens auf den Fortbestand des Aufenthalts in Betracht (vgl. BVerwG, Urteile vom 30.04.2009, 1 C 3.08, NVwZ 2009, 1239, und vom 26.10.2010, 1 C 18.09, InfAuslR 2011, 92; ferner OVG des Saarlandes, Urteil vom 03.02.2011, 2 A 484/09, m. w. N., sowie OVG Lüneburg, Beschluss vom 18.05.2010, 8 PA 86/10, DVBl. 2010, 926; a. A. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 05.02.2009, 11 S 9244/08, InfAuslR 2009, 178, sowie OVG Bremen, Beschluss vom 22.11.2010, 1 A 383/09, ZAR 2011, 38).

Da der Aufenthalt der Klägerin ausschließlich zur Durchführung ihres Asylverfahrens gestattet und nach erfolglosem Abschluss des Asylverfahrens lediglich geduldet war, konnte schon von daher trotz ihres langjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet kein schutzwürdiges Vertrauen der Klägerin auf dessen Fortbestand begründet werden.

Selbst wenn zugunsten der Klägerin von einem Eingriff in das in Art. 8 Abs. 1 EMRK verankerte Recht auf Privatleben auszugehen wäre, erwiese sich dieser Eingriff aber im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK als verhältnismäßig. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist das Interesse des hier aufgewachsenen Ausländers an der Aufrechterhaltung der entstandenen Bindungen mit den gegenläufigen öffentlichen Interessen abzuwägen, insbesondere dem Interesse an der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern sowie dem Interesse, Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren. Dabei sind das Ausmaß der Verwurzelung bzw. die für den Ausländer mit einer "Entwurzelung" verbundenen Folgen entsprechend ihrer Gewichtung zu berücksichtigen und mit den Gründen, die für eine Aufenthaltsbeendigung sprechen, abzuwägen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.01.2009, 1 C 40.07, BVerwGE 133, 73, und Beschluss vom 19.01.2010, 1 W 25.09, NVwZ 2010, 707).

Eine im Ergebnis im Rahmen einer Abwägung gegenüber dem staatlichen Interesse einer Aufenthaltsbeendigung durchsetzungsfähige Rechtsposition selbst eines im Bundesgebiet geborenen und allein hier aufgewachsenen Ausländers auf dieser Grundlage kommt dabei allerdings nur in Betracht, wenn von seiner abgeschlossenen "gelungenen" Integration in die Lebensverhältnisse in Deutschland ausgegangen werden kann, die nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Grundvoraussetzung für die Annahme eines rechtlichen Abschiebungshindernisses auf der Grundlage des Art. 8 Abs. 1 EMRK ist. Nicht ausreichend ist es, dass sich der Betroffene eine bestimmte, auch längere Zeit im Aufnahmeland aufgehalten hat. Eine Aufenthaltsbeendigung kann vielmehr nur dann einen konventionswidrigen Eingriff in das "Privatleben" im Verständnis des Art. 8 Abs. 1 EMRK darstellen, wenn der Ausländer aufgrund seines (längeren) Aufenthalts über so starke persönliche, soziale und wirtschaftliche Kontakte zum Aufnahmestaat verfügt, dass er aufgrund der Gesamtentwicklung "faktisch" zu einem Inländer geworden ist, dem wegen der Besonderheiten seines Falles ein Leben in dem Staat seiner Staatsangehörigkeit, zu dem er keinen Bezug (mehr) hat, schlechterdings nicht mehr zugemutet werden kann (ständige Rechtsprechung der saarländischen Verwaltungsgerichte, vgl. etwa OVG des Saarlandes, u.a. Beschlüsse vom 11.06.2010, 2 B 124/10, und vom 10.05.2010, 2 A 51/10, m.w.N.; ferner die Beschlüsse der Kammer vom 03.04.2009, 10 L 188/09, und vom 10.09.2010, 10 L 724/10, m.w.N.).

Das ist hier auch unter Berücksichtigung der Bindungen der Klägerin aufgrund ihres langjährigen Aufenthalts in Deutschland erkennbar nicht der Fall. Es fehlt bereits an einer hinreichenden wirtschaftlichen Integration der Klägerin. Die Klägerin verfügt weder über einen sicheren Arbeitsplatz noch ansonsten über ausreichende Mittel, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Vielmehr war sie während ihres gesamten bisherigen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland auf öffentliche Leistungen zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes angewiesen (vgl. die Gesprächsnotizen vom 12.11.2009 und 03.08.2010, Bl. 175 und 182 der Ausländerakten des Beklagten, wonach die Klägerin in keinem Arbeitsverhältnis steht und die vollen Sozialleistungen bezieht sowie alle Familienmitglieder der Familie der Klägerin ohne Anrechnung eines Erwerbseinkommens erhöhte Leistungen nach § 2 AsylblG erhalten).

Auch im Übrigen kann nicht davon ausgegangen werden, dass der mittlerweile 20 Jahre alten Klägerin eine Rückkehr in ihr Heimatland schlechterdings nicht zugemutet werden kann. Zwar hat die Klägerin den Kosovo zusammen mit ihren Eltern bereits im Alter von einem Jahr verlassen und dürfte daher mit den dortigen Lebensverhältnissen nicht allzu vertraut sein. Die Klägerin ist indes volljährig und daher grundsätzlich in der Lage, ein eigenständiges Leben auch außerhalb von Deutschland zu führen. Besondere Umstände, die die Annahme nahelegen würden, dass die Klägerin sich im Kosovo nicht wird zurechtfinden können, sind nicht erkennbar, zumal mangels gegenteiliger Anhaltspunkte davon auszugehen ist, dass ihr in ihrem Elternhaus auch die Heimatsprache sowie – zumindest in rudimentärer Form – die dortigen Gepflogenheiten vermittelt worden sind. Zudem ist nichts dafür ersichtlich ist, dass die Klägerin nicht erwerbsfähig wäre, so dass es ihr möglich sein dürfte, für ihren Lebensunterhalt in ihrem Heimatland selbst zu sorgen. Nach dem Vorbringen des Beklagten in der mündlichen Verhandlung ist darüber hinaus nicht beabsichtigt, die Klägerin alleine, sondern mit ihren ebenfalls ausreisepflichtigen Geschwistern in den Kosovo zurückzuführen. Sie kann daher auch auf deren Hilfe zurückgreifen, um sich in die Lebensverhältnisse im Kosovo einzugewöhnen. [...]