OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Urteil vom 05.07.2011 - 1 A 184/10 - asyl.net: M18808
https://www.asyl.net/rsdb/M18808
Leitsatz:

1.Allein das Fehlen eines Schulabschlusses und einer daran anschließenden Berufsausbildung reicht nicht ohne Weiteres, eine Verwurzelung in Deutschland zu verneinen.

2. Auch die Tatsache, dass eine Ausländerin bislang offenbar ausschließlich von öffentlichen Sozialleistungen gelebt hat, reicht nicht ohne Weiteres aus, ihre Verwurzelung in Deutschland zu verneinen.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Achtung des Privatlebens, Aufenthaltsdauer, Dauer, Dauer des Aufenthalts, Türkei, Einzelfall, Umstände des Einzelfalls, Verwurzelung, Sozialleistungen, Existenzsicherung, Integration, Sicherung des Lebensunterhalts, Kurden, arabisch,
Normen: EMRK Art. 8, EMRK Art. 8 S. 2, AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 2 Abs. 3 S. 1,
Auszüge:

Zu den Voraussetzungen der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 5 AufenthG wegen eines durch Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privatlebens) begründeten Ausreisehindernisses.

(Amtlicher Leitsatz)

[...]

II.

Die Ausreise der Klägerin ist aus rechtlichen Gründen unmöglich. Eine solche Unmöglichkeit besteht auch dann, wenn die freiwillige Ausreise unzumutbar ist, weil ein Abschiebungsverbot nach Art. 8 EMRK besteht (BVerwG, Urt. v. 27.06.2006 – 1 C 14.05 -, BVerwGE 126, 192, Rn 17; Beschl. v. 14.12.2010 – 1 B 30.10). Das ist hier der Fall.

1.

Eine behördlich veranlasste Beendigung des Aufenthalts der Klägerin würde in den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK eingreifen.

Das dort verankerte Recht auf Achtung des Privatlebens umfasst nach ständiger Rechtsprechung des EGMR (vgl. zuletzt Urt. v. 14.06.2011 – 38058/09 – Osman gegen Dänemark <www.echr.coe.int>, Rn 55), der sich auch das Bundesverfassungsgericht (Kammerbeschl. v. 10.05.2007 – 2 BvR 304/07 – NVwZ 2007, 946 947>, das Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 27. 1. 2009 – 1 C 40/07 -, BVerwGE 133, 72, Rn 21) und der beschließende Senat (vgl. zuletzt den zitierten Beschluss vom 22.11.2010 sowie das Urteil vom 10.05.2011 – 1 A 306 und 307/10) angeschlossen haben, die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für die Lebensführung eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt. Diese Bindungen können insbesondere bei hier geborenen oder in ihrer Kindheit zugezogenen Ausländern zu einer Verwurzelung in die hiesigen Verhältnisse führen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn das Hineinwachsen in die hiesigen Lebensverhältnisse mit einer gleichzeitigen Entfremdung vom Heimatland einhergeht, so dass die Ausländer mit diesem im Wesentlichen nur noch durch das formale Band der Staatsangehörigkeit verbunden und faktisch zu Inländern geworden sind (vgl. schon BVerwG, Urt. v. 29.09.1998 – 1 C 8.96 -, NVwZ 1999, 303 305>).

a. Die Klägerin ist in Deutschland verwurzelt und hat außer dem formalen Band der Staatsangehörigkeit keine Beziehungen mehr zur Türkei. Sie ist als kleines Kind mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen und hat seitdem ununterbrochen hier gelebt. Ihre gesamte Familie lebt hier; verwandtschaftliche Beziehungen in die Türkei bestehen nicht. Sie verfügt über keine Kenntnisse der türkischen Sprache; ihre Muttersprache Arabisch kann sie sprechen, aber nicht schreiben. Die deutsche Sprache dagegen beherrscht sie, wie die mündliche Verhandlung gezeigt hat, uneingeschränkt. Sie hat ihre gesamte schulische Ausbildung in Deutschland erfahren. Zwar ist sie in der zehnten Klasse der Schule ferngeblieben und hat deshalb keinen Abschluss erworben. Allein das Fehlen eines Schulabschlusses und einer daran anschließenden Berufsausbildung reicht aber nicht ohne Weiteres, eine Verwurzelung in Deutschland zu verneinen (BVerwG, Beschl. v. 10.01.2010 – 1 B 25.09 -, NVwZ 2010, 707, Rn 4; OVG Bremen; Beschl. v. 22.11.2010, a.a.O.). Nach den besonderen Umständen des Einzelfalls können aus diesem Defizit keine nachteiligen Schlüsse zu Lasten der Klägerin gezogen werden. Wie sie in der mündlichen Verhandlung eindrucksvoll und überzeugend geschildert hat, ist sie seinerzeit von ihren in der Heimat traditionell geprägten Eltern zur Heirat gezwungen und wegen der bevorstehenden Eheschließung nicht zur Schule geschickt worden. Inzwischen haben nicht nur ihre Eltern ihre Einstellung geändert und sich ihren jüngeren Töchtern gegenüber anders verhalten; auch die Klägerin selbst hat sich kritisch mit den damaligen Geschehnissen auseinandergesetzt und sich von der Tradition gelöst, der ihre Eltern verhaftet waren. Wie sie in der mündlichen Verhandlung dargelegt hat, will sie zwar an der damals nicht von ihr gewollten Ehe festhalten, weil sie ihren Ehemann inzwischen schätzen gelernt habe, sie ist aber fest entschlossen, die abgebrochene Schulausbildung nachzuholen, sobald ihre Bemühungen, einen Betreuungsplatz für ihr jüngstes Kind zu finden, erfolgreich seien, und anschließend eine Berufsausbildung zu beginnen. Der Senat hat nach dem Bild, das er in der mündlichen Verhandlung von der Klägerin gewonnen hat, keinen Anlass, an der Ernsthaftigkeit und Zielstrebigkeit zu zweifeln, mit der sie diese Absicht verfolgt. Die Klägerin hat den Eindruck einer Persönlichkeit hinterlassen, die in der deutschen Gesellschaft fest verankert, hinreichend selbstbewusst und aktiv genug ist, ihre Absichten auch erfolgreich zu verwirklichen, sobald sie die Gelegenheit dazu hat.

Besondere Beachtung im Hinblick auf das Ausmaß der Verwurzelung der Klägerin verdient in diesem Zusammenhang ihr Engagement in Schule und Kindergarten ihrer Kinder. Die Klägerin zeigt ein überdurchschnittliches Engagement nicht nur für ihre Kinder, sondern auch für die von ihnen besuchten Einrichtungen insgesamt. Sie erbringt damit eine bemerkenswerte Integrationsleistung in einem gerichtsbekannt schwierigen sozialen Umfeld. Ihr Einsatz wird durch die Erklärungen der von ihren Kindern besuchten Einrichtungen unter Beweis gestellt. [...]

b. Auch die Tatsache, dass die Klägerin bislang offenbar ausschließlich von öffentlichen Sozialleistungen gelebt hat, reicht nicht ohne Weiteres aus, ihre Verwurzelung in Deutschland zu verneinen (BVerwG, Beschl. v. 19.01.2010 – 1 B 25.09 -, NVwZ 2010, 707, Rn 4; OVG Bremen, Beschl. v. 22.11.2010, a.a.O.). Zwar ist grundsätzlich auch die wirtschaftliche Existenzsicherung ein wichtiges Integrationsmerkmal; geboten ist aber auch insoweit eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls.

Dazu gehört hier, dass die Klägerin noch vor Beendigung ihrer Schulpflicht – je nach Geburtsdatum im Alter von 13 oder 17 Jahren - verheiratet worden ist und dann nacheinander vier Kinder bekommen hat, von denen das älteste inzwischen zehn Jahre, das jüngste gerade zwei Jahre alt geworden ist und noch keinen Kindergartenplatz gefunden hat. Dass die Klägerin unter diesen Umständen bis heute keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen ist, sondern sich um die Betreuung ihrer Kinder gekümmert hat, ist nachvollziehbar. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, würde man ein entsprechendes Verhalten einer deutschen Mutter, die sich in einer ähnlichen Situation befände, nicht als Merkmal für eine fehlende Integration werten. Für eine ausländische Mutter kann nichts anderes gelten. An dem erklärten Willen der Klägerin und ihrer Fähigkeit, die fehlende Ausbildung nachzuholen, sobald sie für ihr jüngstes Kind einen Kindergartenplatz gefunden hat, um sich eine wirtschaftliche Existenzgrundlage zu schaffen, hat der Senat, wie dargelegt, keinen Zweifel.

Er ist auch der Frage nachgegangen, ob von der Klägerin die Aufnahme einer Ausbildung oder Erwerbstätigkeit nicht im Hinblick darauf erwartet werden konnte, dass auch ihr Ehemann keiner Beschäftigung nachging. Zwar gilt grundsätzlich, dass nicht beide Elternteile auf eine Erwerbstätigkeit zugunsten der persönlichen Betreuung ihrer Kinder verzichten können, wenn sie den Lebensunterhalt der Familie nicht auf andere Weise sichern können, sondern nach Mitteln und Wegen suchen müssen, Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit miteinander zu verbinden. Dazu gehört auch, dass die Ehefrau eine Erwerbstätigkeit aufnimmt und der Ehemann die Kinder betreut, wenn dieser keine Erwerbstätigkeit findet. Wegen der besonderen Umstände des Einzelfalls muss sich die Klägerin hier aber nicht auf eine solche Arbeitsteilung verweisen lassen. Ihr Ehemann ist nämlich offensichtlich nicht in der Lage, die gemeinsamen Kinder mehr als nur bei gelegentlicher Verhinderung der Klägerin zu beaufsichtigen. Er ist, obwohl seit nunmehr 15 Jahren in Deutschland, der deutschen Sprache nicht mächtig. Er hat erst in allerjüngster Vergangenheit mit einem Sprachkurs begonnen. Er war deshalb bisher nicht fähig, sich um die Belange der Kinder in Schule und Kindergarten zu kümmern und die sozialen Kontakte wahrzunehmen, die für ein erfolgreiches Hineinwachsen der Kinder in die Gesellschaft erforderlich sind. Angesichts dieser Defizite entsprach es dem Kindeswohl, dass die Klägerin die Betreuung der Kinder übernahm. Die Defizite ihres Ehemannes können der Klägerin – im Rahmen der Frage, ob sie in Deutschland verwurzelt ist – auch nicht zugerechnet werden. Ihre Möglichkeiten, auf den Ehemann einzuwirken, damit dieser zur wirtschaftlichen Existenzsicherung der Familie beiträgt, sind begrenzt. Im Hinblick auf den Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) kann ihr auch nicht angesonnen werden, sich von ihrem Ehemann zu trennen, um Bedenken gegen die wirtschaftliche Integration auszuräumen, die allein aus dem Verhalten ihres Ehemannes resultieren.

c. Der Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 8 Abs. 1 EMRK steht auch nicht entgegen, dass die Klägerin bislang nur über einen Aufenthaltstitel verfügte, dessen Erteilung durch die Identitätstäuschung ihrer Eltern veranlasst war.

Die Aufenthaltsbefugnisse, die die Beklagte der Klägerin erteilt hat, sind, nachdem die Täuschung der Eltern bekannt geworden war, nicht von der Beklagten zurückgenommen worden. Sie sind daher bis zum Ablauf ihrer Geltungsdauer wirksam geblieben, so dass der Aufenthalt der Klägerin in den entsprechenden Zeiträumen rechtmäßig war. Dementsprechend hat die Beklagte den Aufenthalt der Klägerin vom Ablauf der letzten Aufenthaltsbefugnis bis zum Erlass des streitgegenständlichen Bescheids nicht geduldet; sie ist vielmehr zutreffend davon ausgegangen, dass der zuletzt erteilte Aufenthaltstitel als fortbestehend galt (§ 81 Abs. 4 AufenthG), und hat der Klägerin entsprechende Fiktionsbescheinigungen erteilt.

Auf die Frage, ob sich ein Ausländer auch dann auf den Schutz des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK berufen kann, wenn er nicht über einen Aufenthaltstitel verfügt, sondern nur einen prekären Aufenthaltsstatus etwa in Form einer Duldung (§ 60a AufenthG) hat, kommt es im Fall der Klägerin daher nicht an. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. zuletzt den schon mehrfach zitierten Beschluss vom 22.10.2010) ist der rechtmäßige Aufenthalt im Übrigen keine zwingende Voraussetzung für die Eröffnung des Schutzbereiches von Art. 8 Abs. 1 EMRK (vgl. auch EGMR, Urteil vom 14.06.2011 – 38058/09 – Osman gegen Dänemark <www.echr.coe.int>, Rn 65); der aufenthaltsrechtliche Status, den ein Ausländer bislang besessen hat, ist lediglich ein Kriterium, das für das Ausmaß seiner Verwurzelung und damit für die Gewichtung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK von Bedeutung ist.

2. Der Eingriff in das geschützte Privatleben der Klägerin ist nach Art 8 Abs. 2 EMRK nur zulässig, wenn er in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, insbesondere verhältnismäßig, ist.

a. Dabei ist, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, insbesondere das öffentliche Interesse an der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland (§ 1 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) mit dem Interesse der Klägerin an der Aufrechterhaltung ihrer faktisch gewachsenen und von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten privaten Bindungen im Bundesgebiet abzuwägen. In diesem Zusammenhang kommt es maßgeblich auf den Grad der Verwurzelung an; je stärker die Klägerin in Deutschland integriert ist, desto schwerer müssen die öffentlichen Interessen wiegen. Weiter ist auf den Grad der Entwurzelung abzustellen, d.h. auf die Möglichkeit und Zumutbarkeit der Reintegration im Herkunftsstaat, insbesondere aufgrund der Vertrautheit mit den dortigen Verhältnissen und noch bestehenden Kontakten in dieses Land. Wegen der Auswirkungen der Entscheidung auf die Kinder der Klägerin ist schließlich auch Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention) von Bedeutung; danach ist bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist (zur Bedeutung dieser Vorschrift für das Aufenthaltsrecht der Mutter vgl. jetzt auch EGMR, Urt. v. 28.06.2011 – 55597/09 – Nunez gegen Norwegen <www.echr.coe.int>, Rn 84).

b. Das öffentliche Interesse an der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern spricht insoweit gegen die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gegen die Klägerin, als ihr Zuzug und Aufenthalt nur deshalb möglich waren, weil ihre Eltern über ihre Identität und Herkunft getäuscht und damit das gesetzliche Steuerungssystem unterlaufen haben (vgl. auch dazu EGMR, Urt. v. 28.06.2011 – 55597/09 – Nunez gegen Norwegen <www.echr.coe.int>, Rn 71). Das Gewicht des öffentlichen Sanktionsinteresses wird jedoch dadurch relativiert, dass die Täuschung nicht der Klägerin persönlich vorgeworfen werden kann, weil sie damals noch ein Kind war. Die Begründung des durch Täuschung erlangten Aufenthalts liegt zudem 22 Jahre zurück. Von der Aufdeckung der Täuschung im Jahre 2002 bis zur Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis im Jahre 2010 sind fast acht Jahre vergangen, in denen die Beklagte untätig geblieben ist. Eine Aufenthaltsbeendigung zum jetzigen Zeitpunkt ist daher wenig geeignet, die Notwendigkeit der Beachtung der Einreisevorschriften zu verdeutlichen (vgl. abermals das Urt. des EGMR v. 28.06.2011 – 55597/09 – Nunez gegen Norwegen <www.echr.coe.int>, Rn 82).

Auch das Interesse, Zahlungen aus öffentlichen Kassen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu vermeiden, ist grundsätzlich geeignet, einen Eingriff in den Schutz des Privatlebens zu rechtfertigen. Die bisher angefallenen öffentlichen Unterstützungsleistungen sind beträchtlich. Sie sind aber zumindest auch darin begründet, dass die Klägerin vier kleine Kinder zu betreuen hat. Wie die mündliche Verhandlung gezeigt hat, ist die Klägerin bereit und in der Lage, die Initiative zu ergreifen, um die Voraussetzungen für die Sicherung ihres Lebensunterhaltes zu schaffen, sobald ihr jüngstes Kind einen Kindergartenplatz erhält. Es besteht daher die begründete Erwartung, dass die Klägerin, nachdem sie eine Ausbildung nachgeholt hat und ihre Kinder größer geworden sind, von öffentlichen Kassen unabhängig wird. Im Übrigen verschafft die zeitliche Befristung der Aufenthaltserlaubnis der Beklagten die Gelegenheit, die Bereitschaft der Klägerin, sich die Voraussetzungen für die wirtschaftliche Sicherung ihrer Existenz zu verschaffen, zu überwachen und ggf. auf sie einzuwirken.

c. Demgegenüber wiegt das private Interesse der Klägerin am Schutz ihrer in Deutschland begründeten Bindungen schwer. Sie ist, wie ihr oben beschriebenes starkes Engagement in Kindergarten und Schule zeigt, fest in ihrem sozialen Umfeld verankert. Die bisher erbrachten Integrationsleistungen sind – gemessen an den Startbedingungen – außerordentlich und geben begründeten Anlass zu der Annahme, dass die Klägerin zukünftig auch wirtschaftlich Fuß fasst. Ihre Kinder sind in ein deutsches Umfeld hineingewachsen. Zu ihrem Heimatland hat die Klägerin, wie dargelegt, außer dem rein formalen Band der Staatsangehörigkeit, keine Bindungen. Sie würde, weil sie Türkisch überhaupt nicht und Arabisch nur mündlich versteht, wie eine Analphabetin in die Türkei zurückkehren müssen.

Angesichts dieser Umstände wäre es ein unverhältnismäßiger Eingriff in das durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Recht der Klägerin, wenn sie Deutschland verlassen müsste. Ihre Ausreise ist daher in absehbarer Zeit aus rechtlichen Gründen unmöglich.

III.

Auch die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG setzt in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist (§ 5 Abs.1 Nr. 1 AufenthG). Der Lebensunterhalt eines Ausländers ist nach der Legaldefinition in § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gesichert, wenn er ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 16.11.2010 - 1 C 21/09 - InfAuslR 2011, 182, Rn 15) ist dabei nicht auf die Person des Ausländers allein abzustellen; lebt er mit seiner Familie zusammen, gelten für die Berechnung seines Anspruchs auf öffentliche Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts grundsätzlich die Regeln über die Bedarfsgemeinschaft nach § 9 Abs. 1 und 2 i. V. m. § 7 Abs. 3 SGB II. Diese Voraussetzungen sind hier unstreitig nicht erfüllt.

Das Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts gilt aber nur "in der Regel". Von dem Regelerfordernis ist dann abzusehen, wenn besondere, atypische Umstände vorliegen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, aber auch dann, wenn die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen höherrangigen Rechts wie etwa Art. 6 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK geboten ist (BVerwG, Urt. v. 26.08.2008 – 1 C 32.07 -, BVerwGE 131, 370 = NVwZ 2009, 248, Rn 27; Urt. v. 30.04.2009 – 1 C 3.08 -, NVwZ 2009, 1239, Rn 13; vgl. auch Urt. v. 16.11.2010 – 1 C 20.09 -, InfAuslR 2011, 144, Rn 28). Die Frage, ob eine Ausnahme von der Regel vorliegt, unterliegt voller gerichtlicher Nachprüfung; der Ausländerbehörde steht insoweit kein Ermessensspielraum zu (BVerwG, Urt. v. 30.04.2009 – 1 C 3.08 -, NVwZ 2009, 1239, Rn 14). Erst wenn ein Ausnahmefall zu verneinen ist, stellt sich – in den Fällen des § 25 Abs. 5 AufenthG - die Frage, ob im Wege des der Ausländerbehörde nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eingeräumten Ermessens von der Anwendung des § 5 Abs. 1 AufenthG abgesehen werden soll.

Das Verwaltungsgericht hat das Vorliegen eines Ausnahmefalls nicht geprüft und stillschweigend einen Regelfall im Sinne des § 5 Abs. 1 AufenthG angenommen. Es hat sodann festgestellt, dass die Beklagte von dem ihr nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG für den Regelfall eingeräumten Ermessen keinen Gebrauch gemacht und sie verpflichtet, eine solche Ermessensentscheidung nachzuholen; die weitergehende Klage hat es abgewiesen. Da nur die Beklagte, nicht aber die Klägerin das Urteil des Verwaltungsgerichts angefochten hat, ist das Urteil, soweit darin die Klage abgewiesen worden ist, rechtskräftig geworden.

Insoweit ist für eine Entscheidung des Berufungsgerichts daher kein Raum. Das Oberverwaltungsgericht kann nur noch über die von der Beklagten aufgeworfenen Frage befinden, ob die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG auch ohne Ermessensentscheidung der Beklagten abgelehnt werden darf. Diese Frage ist zu verneinen, denn für eine Ermessensreduzierung auf Null zu Lasten der Klägerin ist hier nichts erkennbar.

IV.

Die Beklagte ist daher verpflichtet, über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an die Klägerin erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts zu entscheiden.

Auch wenn das Verwaltungsgerichts, dessen Rechtsauffassung die Reichweite des Neubescheidungsanspruchs bestimmt, der Beklagten über die Feststellung eines Ausreisehindernisses nach Art. 8 EMRK und die Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung hinaus keine inhaltlichen Vorgaben gemacht hat, ist das Ermessen der Beklagten nicht ungebunden. Materielle Grenzen für die Ausübung des Ermessens, die die Beklagte zur Vermeidung eines erneuten Rechtsstreits wird beachten müssen, ergeben sich insbesondere aus der Verpflichtung der Beklagten, dem Recht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 EMRK zur Wirksamkeit zu verhelfen sowie Sinn und Zweck des § 25 Abs. 5 AufenthG zu beachten, der darin besteht, bei dauerhaften Abschiebungs- und Ausreisehindernissen den durch aneinandergereihte Duldungen bewirkten prekären Aufenthaltsstatus möglichst zu vermeiden. [...]