VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 21.06.2011 - 20 K 6194/10.A - asyl.net: M18806
https://www.asyl.net/rsdb/M18806
Leitsatz:

Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG wegen allgemeiner Verfolgungsgefahr bei Abschiebung nach Syrien. Das Bundesamt selbst geht in seiner Gefährdungseinschätzung zwischenzeitlich weit über die derzeit noch herrschende Rechtsprechung vor allem der Obergerichte hinaus. Ein bestimmter Verfolgungsmodus lässt sich - bedingt durch die in Syrien herrschende Willkür und das in seinen Auswirkungen nicht abschätzbare Nebeneinander verschiedener Geheimdienste - nicht erkennen. Eine weitere Verschärfung der Situation ist nun auch im Zuge der aktuellen Entwicklungen und der blutigen Niederschlagung der Protestbewegungen in Syrien eingetreten. Es besteht auch für Personen, die sich im Ausland nicht exilpolitisch betätigt haben, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer nicht nur kurzfristigen Inhaftierung bei Rückkehr mit damit einhergehender Folter oder anderer menschenrechtswidriger Behandlung.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Syrien, Wiederaufnahme des Verfahrens, Drei-Monats-Frist, Änderung der Sachlage, deutsch-syrisches Rückübernahmeabkommen, Rückkehrgefährdung, Folter, unmenschliche Behandlung, erniedrigende Behandlung, subsidiärer Schutz, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Zumutbarkeit, Inhaftierung, Asylantrag, Aufenthaltsdauer, Willkür
Normen: AufenthG § 60 Abs. 2, VwVfG § 51 Abs. 3, VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1, RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. b, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 19 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Vorliegend haben sich die Kläger unter Bezugnahme auf zahlreiche Auskünfte und Gerichtsentscheidungen darauf berufen, dass sich die Situation von syrischen Rückkehrern seit Inkrafttreten des Rückübernahmeabkommens verschlechtert habe und Syrern nunmehr unabhängig von einer politischen Betätigung die Gefahr einer Festnahme bei Einreise drohe mit der Gefahr einer längerfristigen Inhaftierung und Folter. Mit diesem - unter Berücksichtigung der Kontinuität dieser Entwicklung ohne feste zeitliche Zäsur - innerhalb der Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG vorgetragenen Sachverhalt haben die Kläger eine Änderung der Sachlage zu ihren Gunsten dargelegt, die zu einem Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungsverboten führt.

Die Kläger haben aufgrund der geltend gemachten allgemeinen Verschärfung der Lage für Rückkehrer vor dem Hintergrund der aktuellen Zuspitzung der politischen Verhältnisse in Syrien auch einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 2 AufenthG. [...]

Es entspricht ständiger Auskunftslage, dass zurückgeführte Personen bei ihrer Einreise nach Syrien zunächst durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt werden, wobei sich diese Befragung über mehrere Stunden hinziehen kann. Ob bzw. in welchem Maße darüber hinaus ohne Vorliegen weiterer besonderer Umstände in der Person des Betroffenen die Gefahr einer länger andauernden Inhaftierung - mit der dann daraus folgenden für Syrien typischen Gefahr von Folter und anderer unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung - besteht, ist unter Berücksichtigung der Entwicklungen seit dem Jahre 2009 unter Geltung des am 03.01.2009 in Kraft getretenen bilateralen Rückführungsabkommens zwischen der Bundesrepublik und Syrien vom 25.07.2008 (BGBl. II 2008, S. 811, 2009 S. 107) in der Rechtsprechung umstritten.

Überwiegend wird davon ausgegangen, dass die in neueren Erkenntnisquellen aus dem Jahre 2009 und Anfang 2010 beschriebenen Fälle, in denen es zu Inhaftierungen gekommen ist (vgl. hierzu Stellungnahmen des Europäischen Zentrums für kurdische Studien (EZKS) vom 25.11.2009 und vom 14.02.2010 an Herrn Rechtsanwalt Walliczek in Minden; Ad-hoc Ergänzungsberichte des Auswärtigen Amtes vom 28.12.2009 und vom 07.04.2010), keinen Schluss darauf zulassen, dass nunmehr jeder syrische Staatsangehörige allein schon wegen der Beantragung von Asyl oder eines längerfristigen Aufenthalts in Deutschland der konkreten Gefahr einer länger andauernden Inhaftierung oder körperlichen Misshandlung ausgesetzt ist. Nur wenn weitere Umstände hinzutreten, die geeignet sind, bei den syrischen Sicherheitskräften den Verdacht zu begründen, dass sich die Betreffenden in Syrien oder im Ausland gegen das syrische Regime politisch betätigt haben, besteht danach für Rückkehrer mit erheblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr politischer Verfolgung. Dabei sind neben einem politischen Engagement des Betroffenen und naher Angehöriger gegebenenfalls weitere Gefährdungsfaktoren in den Blick zu nehmen, die jeweils einer Bewertung im Einzelfall bedürfen (vgl. OVG NRW, Beschlüsse 02.05.2011 - 14 A 958/11.A -, vom 15.04.2010 - 14 A 729/10.A - und vom 19.04.2010 - 14 A 237/10.A - Juris; Sächsisches OVG, Urteil vom 21.02.2011 - A 5 A 444/08 - Juris; OVG des Saarlandes, Beschluss vom 30.08.2010 - 3 A 121/10 - Juris; VG Oldenburg, Urteile vom 18.10.2010 - 4 A 1717/10 und vom 20.07.2010 - 4 A 22/10 - Juris; VG Hannover, Beschluss vom 31.05.2010 - 2 B 2111/10 - Juris; VG Kassel, Urteil vom 19.05.2010) - 3 K 892/09.KS.A - Juris; VG Stade, Urteil vom 12.05.2010 - 6 A 1435/07 - Juris; VG Frankfurt a.M., Urteil vom 12.05.2010 - 2 K 2261/08.F.A Juris.; VG Bayreuth, Urteil vom 29.04.2010 - B 3 K 08.30084 - Juris).

Zum Teil werden dabei die Anforderungen an die Annahme solcher gefahrerhöhenden Umstände aufgrund der aktuellen Erkenntnislage abgesenkt (vgl. Bayerisches VG Regensburg, Urteil vom 10.03.2011 - RO 6 K 10.30350 - Juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 24.09.2010 - 21 K 4217/09.A - Juris; VG Karlsruhe, Urteil vom 17.08.2010 - A 8 K 792/10 - Juris; VG Freiburg, Urteil vom 20.07.2010 - A 5 K 683/09 - Juris; VG Meiningen, Urteile vom 15.04.2010 - 8 K 20176/09.Me - und vom 01.04.2010 - 8 K 2040/09 - Juris).

Zum Teil wird mit Blick auf die Zahl der bekannt gewordenen Verhaftungen und die dabei zu Tage getretene Willkür davon ausgegangen, dass bereits aufgrund der Asylantragstellung und des Aufenthalts in der Bundesrepublik Betroffenen bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Festnahmen und damit einhergehende menschenrechtswidrige Behandlung drohen (so: VG Chemnitz, zuletzt Urteil vom 15.10.2010 - A 5 K 980/10 - Juris, nun auch: VG Stuttgart, Urteil vom 06.05.2011 - A 7 K 510/09 - Juris).

Diese letztgenannte Auffassung teilt auch die erkennende Kammer. Dies beruht maßgeblich darauf, dass es außer den drei in den oben genannten Auskünften und Ad hoc-Lageberichten des Auswärtigen Amtes bestätigten drei Inhaftierungsfällen aus dem Jahre 2009, von denen nach den dortigen Angaben bei einer Gesamtzahl von 38 zurückgeführten Personen 7 Personen betroffen waren, offenbar zu weiteren Inhaftierungen nach Rückführungen aus Deutschland, aber auch aus anderen Ländern, gekommen ist (vgl. hierzu im Einzelnen: Urteil vom 28.10.2010 - 20 K 8637/09.A - Juris).

In jüngsten Auskünften vom Februar 2011 hat zudem das Auswärtige Amt die Festnahmen von zwei Familien am Flughafen Damaskus auf der Grundlage entsprechender Verbalnoten des syrischen Außenministeriums bestätigt. [...] Wenngleich wegen der Schwärzung personenbezogener Daten einschließlich der Daten der Rückführungen in diesen Auskünften eine eindeutige Aussage darüber, ob es sich hier um bereits zuvor bekannt gewordene Inhaftierungsfälle handelt, nicht möglich ist, so spricht doch aufgrund der Aktenzeichen der Auskünfte und der mitgeteilten weiteren Umstände vieles dafür, dass es sich hier um zwei weitere - bis dahin nicht bekannte - Fälle handelt (vgl. Auswärtiges Amt, Auskünfte an das Bundesamt vom 01.02.2011 und 02.02.2011).

In einem aktuellen Bericht des Bundesamtes von April 2011 werden weitere - bislang namentlich nicht bekannte - Inhaftierungsfälle genannt. [...]

Ausweislich des vorgenannten Berichts ist vor dem Hintergrund der dort bestätigten problematischen Rückführungsfälle nunmehr davon auszugehen, dass die Gefahr einer Festnahme und längerfristigen Inhaftierung (über zwei Wochen) nicht ausgeschossen werden kann bei Personen, die im Ausland Straftaten begangen haben, auch wenn diese im Ausland bereits abgeurteilt wurden, bei exilpolitischer Betätigung in Deutschland, auch wenn diese nur in einer ''einfachen'', u.U. auch weit zurückliegenden Demonstrationsteilnahme bestand, und schließlich bei Personen, die illegal aus Syrien ausgereist sind und ohne gültige syrische Reisepässe zurückgeführt werden. Das Bundesamt selbst geht damit in seiner Gefährdungseinschätzung zwischenzeitlich weit über die derzeit noch herrschende Rechtsprechung vor allem der Oberverwaltungsgerichte hinaus.

Nach der Berichterstattung von Kurdwatch, eines vom EZKS ins Leben gerufenen syrisch-kurdischen Menschenrechtsprojekts, dessen Berichte bislang in zahlreichen Fällen u.a. durch den vorstehenden Bericht des Bundesamtes bestätigt wurden, ist zuletzt am 13.04.2011 der syrische Kurde Khalid Hamid Hamid nach seiner Abschiebung aus Lebach (Saarland) am Flughafen Damaskus festgenommen worden. Er soll eine Woche im Far Filastin Gefängnis des Militärischen Geheimdienstes inhaftiert und während der Haft gefoltert worden sein (vgl. Kurdwatch, Berichte vom 14.04.2011 (Damascus: Deportee from Germany arrested in Damascus) und vom 28.04.2011 (Damascus: Deportee released following torture), www.kurdwatch.org). [...]

Wiederholt soll es im Jahr 2010 ferner zu Inhaftierungen von Kurden gekommen sein, die aus wirtschaftlichen Gründen nach Zypern gereist, dort erfolglos um Asyl nachgesucht hatten und von dort abgeschoben worden waren (vgl. Berichte des SHRC (Syrian Human Rights Committee) für den Zeitraum von Januar - Dezember 2010 und des UK Home Office - Syria - Country of Origin Information Report, vom 03.09.2010, zitiert nach: Bundesasylamt Österreich, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Syrien, Bericht vom 29.04.2011, S. 32 f.). [...]

Nach alledem verdichten sich die Befürchtungen hinsichtlich einer Verschärfung im Vorgehen der syrischen Sicherheitskräfte. Es finden offenbar fortlaufend Inhaftierungen statt, von denen eine erhebliche Zahl von Personen betroffen ist. Bei der Bewertung der Zahlen ist zudem zu berücksichtigen, dass diese einerseits selbst von offizieller deutscher Seite unterschiedlich angegeben werden und andererseits die Zahl der bekannt gewordenen Inhaftierungsfälle keinen eindeutigen Rückschluss darauf zulässt, dass die Betroffenen in allen anderen Fällen nicht von asylrelevanten Maßnahmen betroffen waren. Nur ein Teil der Abschiebevorgänge erfolgt überhaupt mit deutschem Begleitpersonal. Außerdem wird regelmäßig der Verbleib und die Situation von zurückgeführten Personen weder durch die Bundesregierung noch durch die Deutsche Botschaft in Damaskus verfolgt (vgl. hierzu im Einzelnen: Urteil vom 28.10.2010 - 20 K 8637/09.A - Juris).

Die dadurch bedingte Unsicherheit ist auch deshalb besonders ernst zu nehmen, weil - wie im Falle des Khalid Kenjo - Festnahmen nicht nur unmittelbar am Flughafen erfolgen, sondern offenbar auch anlässlich von erst danach stattfindenden Einbestellungen beim Sicherheitsdienst. Dadurch reduziert sich die Möglichkeit einer Kenntnisnahme von Inhaftierungen auf ein Minimum, wenn nicht Zufälle zu einer Aufdeckung führen (vgl. zu den Einzelheiten dieses Falles: EZKS, Stellungnahme vom 19.05.2010 an die Republik Österreich. Bundesasylamt; s. auch Kurdwatch, Bericht vom 17.12.2010 betreffend die Inhaftierung des aus Zypern abgeschobenen Juan Yusuf Muhammad (Al-Hasakah: Political Security arrests deportee) (www.kurdwatch.org).

Das Gericht ist nach allem überzeugt davon, dass gegenwärtig ernst zu nehmende Erkenntnisse über willkürliche Verhaftungen durch syrische Stellen bei abgeschobenen syrischen Exilanten bestehen. Zudem mehren sich die Anhaltspunkte dafür, dass es offenbar auch schon bei Inhaftierungen von weniger als zwei Wochen zu Misshandlungen bis hin zur Anwendung von Folter kommt. Ein bestimmter Verfolgungsmodus lässt sich dabei - bedingt durch die in Syrien herrschende Willkür und das in seinen Auswirkungen nicht abschätzbare Nebeneinander verschiedener Geheimdienste - nicht erkennen.

Eine weitere Verschärfung der Situation ist nun auch im Zuge der aktuellen Entwicklungen und der blutigen Niederschlagung der Protestbewegungen in Syrien eingetreten, die inzwischen bereits zu einer vorübergehenden Aussetzung von Abschiebungen geführt haben (vgl. Mitteilung des Bundesministeriums des Innern vom 28.04.2011 - MI 3-125 242 SYR/0; Erlass des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport vom 02.05.2011 - 42.10-12231/3-6 SYR -; vgl. auch: VG Stuttgart, Urteil vom 06.05.2011 - A 7 K 510/09 - Juris; Bayr. VG Regensburg, Beschluss vom 31.03.2011 - RN 6 E 11.30133 - Juris; VG Darmstadt, Beschluss vom 19.04.2011 - 4 L 472/11.DA - Juris).

Die Annahme, dass die syrischen Geheimdienste infolge der innerer Unruhen in Syrien keine Kapazitäten mehr für Einreisekontrollen hätten, ist nach Auffassung des Gerichts angesichts der Vielzahl der militärischen und zivilen Geheimdienste und deren Machtstellung fernliegend.

Es besteht nach alledem auch für Personen, die sich im Ausland nicht exilpolitisch betätigt haben, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer nicht nur kurzfristigen Inhaftierung bei Rückkehr und damit einhergehender Folter oder anderer menschenrechtswidriger Behandlung.

Für den Kläger ist dieses Risiko zur Überzeugung des Gerichts im Hinblick auf die Dauer ihres Aufenthalts in Deutschland von nunmehr ca. 10 Jahre nochmals erhöht und auch deshalb, weil sie voraussichtlich illegal aus Syrien ausgereist sind. Sie gehören damit zu den Personen, für die nunmehr auch nach der Einschätzung des Bundesamtes entsprechend dem oben genannten Bericht vom April 2011 eine längerfristige Inhaftierung bei Rückkehr nicht ausgeschlossen werden kann. [...]