Verwertet ein Gericht seine "richterliche Erfahrung mit Angaben von Asylbewerbern aus Gambia" im Rahmen einer Beurteilung der Glaubhaftigkeit klägerischen Vortrags, so verstößt es jedenfalls gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs, wenn die in anderen Prozessen gewonnene Erfahrung nicht offen gelegt und in das Verfahren eingeführt worden ist.
(Amtlicher Leitsatz)
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Der vom Kläger gestellte Antrag auf Zulassung der Berufung hat Erfolg, weil der gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO statthafte und ordnungsgemäß dargelegte Zulassungsgrund der Verletzung rechtlichen Gehörs vorliegt. Auf diesem Verfahrensfehler kann die angegriffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts auch beruhen.
Der im Grundgesetz verankerte Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs ist eine Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken für das Gebiet des gerichtlichen Verfahrens. Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt eines Gerichtsverfahrens sein, sondern vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen und Einfluss auf das Verfahren nehmen können. Art. 103 Abs. 1 GG garantiert den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens daher als "prozessuales Urrecht", dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden (vgl. BVerfG, Plenumsbeschluss vom 30.04.2003 - 1 PBvU 1/02 -, BVerfGE 107, 395 [408 f.]). Ein Urteil darf deshalb nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten (vgl. § 108 Abs. 2 VwGO). An einer solchen Gelegenheit fehlt es nicht erst dann, wenn ein Beteiligter gar nicht zu Wort gekommen ist oder wenn das Gericht seiner Entscheidung Tatsachen zugrunde legt, zu denen die Beteiligten nicht Stellung nehmen konnten. Eine dem verfassungsrechtlichen Anspruch genügende Gewährung rechtlichen Gehörs setzt vielmehr auch voraus, dass der Verfahrensbeteiligte bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermag, auf welchen Tatsachenvortrag es für die Entscheidung ankommen kann (vgl. Beschluss vom 29.05.1991 - 1 BvR 1383/90 -, BVerfGE 84, 188 [190]; Beschluss vom 08.06.1993 - 1 BvR 878/90 -, BVerfGE 89, 28 [35]). "Überrascht" ein Gericht die Beteiligten in den Urteilsgründen mit Tatsachenfeststellungen oder rechtlichen Gesichtspunkten, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte, so verstößt dies gegen Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.05.1992 - 1 BvR 986/91 -, BVerfGE 86, 133 [144]). Die fehlende Einführung und Offenlegung einer vom Gericht als entscheidungserheblich angesehenen Tatsache oder Erfahrungsregel kann daher nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO zur Zulassung der Berufung führen, weil den Beteiligten hierdurch die Möglichkeit genommen wird, ihre Sicht der Dinge in der mündlichen Verhandlung darzustellen oder Beweisanträge zu stellen.
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Der Vorsitzende Richter als Berichterstatter hat in der angefochtenen Entscheidung zum Vortrag des Klägers abschließend ausgeführt:
"Unter Berücksichtigung auch des vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks und der richterlichen Erfahrung mit Angaben von Asylbewerbern aus Gambia betrachtet das Gericht den Kläger als unglaubwürdig und seinen Vortrag als unglaubhaft."
Wie im Zulassungsantrag zutreffend dargelegt, hat das Verwaltungsgericht damit seine "richterliche Erfahrung mit Angaben von Asylbewerbern aus Gambia" entscheidungstragend eingeführt. Denn es hat ausdrücklich klargestellt, dass die Einschätzung des klägerischen Vortrags als unglaubhaft auch auf der Berücksichtigung der richterlichen Erfahrung mit Angaben von Asylbewerbern aus Gambia beruht. Damit kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Gericht ohne die benannte Berücksichtigung nicht zu demselben Ergebnis gelangt wäre.
Nicht offen gelegt hat das Verwaltungsgericht indes, um welche Erfahrung es sich dabei handelt und ob diese als Tatsache oder als "Erfahrungssatz" berücksichtigt worden ist. In beiden Fällen hätte es dem Kläger indes Gelegenheit zur Stellungnahme geben müssen, so dass die Entscheidung jedenfalls verfahrensfehlerhaft zustande gekommen ist. Das Verwaltungsgericht hat durch die Verwertung des aus anderen Prozessen geschöpften Wissens den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, weil es die Grundlagen seiner Feststellungen den Beteiligten nicht zugänglich gemacht und ihnen nicht die Möglichkeit eingeräumt hat, sich dazu vor der Verwertung in der Entscheidung zu äußern. Dies gilt auch, wenn sich ein Gericht auf seine eigene, ihm durch vorangegangene Verfahren vermittelte Sachkunde stützt. Auch in einem derartigen Fall muss der Richter sein (vermeintliches) Fachwissen grundsätzlich in den Rechtsstreit einführen, um den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.04.1978 - 1 BvR 596/77 -, BVerfGE 48, 206 [209]; BGH, Urteil vom 16.05.1991 - III ZR 125/90 -, NJW 1991, 2824). Hiergegen hat das Verwaltungsgericht mit der nicht offen gelegten Verwertung seiner "richterlichen Erfahrung mit Angaben von Asylbewerbern aus Gambia" verstoßen.
Im Übrigen lässt die Formulierung nur den Schluss zu, dass das Verwaltungsgericht - angesichts seiner (angeblichen) Erfahrung mit Angaben von Asylbewerbern aus Gambia - das Vorbringen des Klägers an erhöhten Glaubwürdigkeitsanforderungen gemessen hat. Denn der vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gewonnene Eindruck alleine hätte danach nicht genügt, um seinen Vortrag als unglaubhaft zu bewerten. Das Verwaltungsgericht hat seiner Entscheidung damit eine nicht existierende Beweiswürdigungsregel zugrunde gelegt, so dass die Entscheidung nicht nur wegen der dargelegten Verletzung rechtlichen Gehörs, sondern auch wegen der objektiv willkürlichen Rechtsanwendung einer Nachprüfung im Berufungsverfahren bedarf (vgl. zur Bedeutung der Individualrechtsschutzgewährung im Rahmen des Rechtsmittelzulassungsrechts auch BVerfG, Beschluss vom 29.09.2010 - 1 BvR 2649/06 -). [...]