VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 29.06.2011 - 55 K 288.09 - asyl.net: M18768
https://www.asyl.net/rsdb/M18768
Leitsatz:

Zu den Anforderungen an die Beweisbarkeit der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung oder der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung und zu den Maßstäben an die Schlussfolgerungen aus einem Sicherheitsgespräch.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Familiennachzug, terroristische Vereinigung, Unterstützung, Ausweisungsgrund, Sicherheitsgespräch, Untätigkeitsklage, offensichtlich unbegründet, Sperrwirkung, Wohnungsdurchsuchung, Beweismittel, Passpflicht
Normen: VwGO § 75, AufenthG § 28 Abs. 1 Nr. 3, AufenthG § 10 Abs. 3 S. 2, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 54 Nr. 5, AufenthG § 104a Abs. 1 Nr. 5, AufenthG § 54 Nr. 6, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 4, AufenthG § 3
Auszüge:

[...]

Der Versagung der Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug ist rechtswidrig und verletzt den Kläger dadurch in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der Personensorge über seine deutschen Kinder Y… und A….

Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG liegen vor. Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass der Kläger in familiärer Gemeinschaft mit seinem deutschen Kind lebt, für das er das gemeinsame Sorgerecht hat und dass er auch sein Sorgerecht für seinen Sohn Y… regelmäßig ausübt.

Der Umstand, dass der Antrag auf Anerkennung als Asylbewerber mit Bescheid vom 23. Februar 2000 als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden ist, steht der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen, weil § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG diesen Fall, der vor Inkrafttreten der Regelung bestandskräftig geworden ist, nicht erfasst (Vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Februar 2010 – 1 C 13.09 – Juris, Rn. 9).

Ohne Erfolg wendet der Beklagte ein, dass der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis entgegen stehe, dass der Kläger einen Ausweisungsgrund verwirklicht habe (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG).

Nach § 54 Nr. 5 AufenthG wird ein Ausländer ausgewiesen, wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass er einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt, oder er eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat. Auf zurückliegende Mitgliedschaften oder Unterstützungshandlungen kann die Ausweisung nur gestützt werden, soweit diese eine gegenwärtige Gefährlichkeit begründen. Ob die Voraussetzungen des § 54 Nr. 5 AufenthG vorliegen, ist eine Frage des Einzelfalls und unterliegt voller gerichtlicher Kontrolle (BVerwG, Urteil vom 13. Januar 2009 – 1 C 2/08 – Juris, Rn. 14). Dabei kann offen bleiben, ob insoweit auf die strafrechtliche Rechtsprechung zu §§ 129, 129 a StGB zurückgegriffen werden kann (ebenso offen gelassen BVerwG, Beschluss vom 28. Juli 2010 – 1 B 9/10 – Juris). Maßgeblich für die insoweit anzustellende Gefahrenprognose ist, dass mit Rücksicht auf die Erscheinungsformen des international organisierten Terrorismus und der damit verbundenen Nachweisschwierigkeiten ein geringeres Beweismaß für die Verwirklichung des Ausweisungsgrundes ausreicht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. Januar 2011, - 1 B 17/10 – Juris, Rn. 5; Bayer. VGH, Beschluss vom 1. Februar 2011 – 10 ZB 10.1555 – Juris). Daher kommt es auf die Anzahl und die Gewichtung der einzelnen Indizien an, die die genannte Schlussfolgerung rechtfertigen. § 54 Nr. 5 AufenthG ist jedoch enger auszulegen als § 104 a Abs. 1 Nr. 5 AufenthG, der lediglich „Bezüge“ zu terroristischen Gruppen ausreichen lässt (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 2010 – 1 C 19/09 –, Juris). Die Tatsachen müssen einen gewissen Grad an aktiver Unterstützung belegen, weil allein eine negative Gesinnung oder bloße Mutmaßungen nicht usreichen

(vgl. VG Berlin, Urteil vom 3. März 2006 – 31 V 82.04 – Juris).

Belastbare Tatsachen, die die genannte Schlussfolgerung rechtfertigen können, hat der Beklagte nicht nachweisen können. Die anlässlich der Wohnungsdurchsuchungen am 7. Oktober 2009 gefundenen Dateien sind zwar schon aufgrund der großen Anzahl und der Fundorte dem Kläger zuzurechnen, der den Besitz auch selbst nicht in Abrede stellt. Aus dem Bericht des LKA Berlin vom 27. März 2011 lässt sich jedoch der konkrete Inhalt der Dateien nur vage beurteilen. Soweit in dem Bericht angegeben wird, dass es sich dabei um zahlreiche salafistische und jihadverherrlichende Dateien handelt, aus denen der Zeuge S… eine islamistisch-jihadistische Grundeinstellung des Klägers schließt, handelt es sich um eine wertende Bemerkung des Zeugen, nicht aber um konkrete Tatsachen, die eine Mitgliedschaft oder auch nur eine Unterstützung einer terroristischen Vereinigung belegen. Der Beklagte hat auch auf die Auflage des Gerichts nach § 87 b VwGO vom 17. Mai 2011 keine konkrete Auswertung der einzelnen Dateien vorgelegt, sondern sich erneut auf den genannten Bericht bezogen, in dem u.a. bis zu 127 Dateien zusammenfasssend und allgemein kommentiert werden.

Der Kläger hat auch die persönlichen Kontakte zu Herrn M… und Herrn F… nicht bestritten. Ein persönlicher Kontakt zu verdächtigen Personen reicht indessen noch nicht aus, um daraus die Schlussfolgerung ziehen zu können, dass der Kläger Mitglied einer terroristischen Vereinigung ist oder diese unterstützt (hat).

Der Zeuge S… hat in der mündlichen Verhandlung eingeräumt, dass bis auf die gefundenen Dateien und die Kontakte zu den genannten Personen keine weiteren Erkenntnisse gegen den Kläger vorliegen und er daher nicht als strafrechtlich Verdächtiger geführt wird. Auf die konkrete Frage, aus welchen Erkenntnissen der Zeuge S… schließt, dass die Kontakte über eine bloße Freundschaft bzw. Bekanntschaft hinausgehen und der Kläger angeblich einer Gruppe angehöre, die junge Muslime für Terrorlager rekrutiere, konnte der Zeuge S… lediglich eigene Schlussfolgerungen und Wertungen wiedergeben.

Zwar besteht für das Gericht kein ernstlicher Zweifel daran, dass der Kläger offensichtlich mit salafistischen und islamistischen Strömungen sympathisiert und dass er auch persönliche Kontakte zu verdächtigen Personen hat/hatte. Gleichwohl reichen die festgestellten Tatsachen trotz des verminderten Beweismaßes nicht aus, auf eine Mitgliedschaft oder Unterstützung einer terroristischen Vereinigung schließen zu können. Im Hinblick auf den aufenthaltsrechtlichen Zweck des § 54 Nr. 5 AufenthG, bestimmten Gefahren des internationalen Terrorismus im Vorfeld zu begegnen, können die ausländerrechtlichen Anforderungen zwar geringer sein als diejenigen einer strafrechtlichen Verfolgung. Liegt jedoch nicht einmal ein strafrechtlicher Anfangsverdacht vor, müssen zumindest Tatsachen vorliegen, die eine Mitgliedschaft oder eine Unterstützung im Sinne einer aktiven Handlung oder jedenfalls einer psychischen Beihilfe durch Anwerben, Fördern oder aktives Eintreten für eine terroristische Vereinigung belegen oder plausibel machen. Der Besitz und das Betrachten extremistischer Dateien sind jedoch allein noch nicht ausreichend, solange diese Dateien nicht weiter verbreitet werden. Auch ein persönlicher Kontakt zu verdächtigen Personen genügt nicht, wenn sich nicht belegen lässt, dass dieser Kontakt über eine bloße Freundschaft oder Bekanntschaft hinaus geht. Erforderlich ist auch insoweit, dass der Kontakt zumindest auch der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung dient. Ein solcher Kontakt lässt sich im vorliegenden Fall nicht belegen.

Ohne Erfolg wendet der Beklagte ein, dass der Kläger einen Ausweisungsgrund nach § 54 Nr. 6 AufenthG gesetzt hat, weil er in der Befragung am 12. Mai 2011 in wesentlichen Punkten falsche oder unvollständige Angaben über Verbindungen zu Personen oder Organisationen gemacht hat, die der Unterstützung des Terrorismus verdächtig sind.

Das Sicherheitsgespräch hat gerade den Zweck, bestehenden sicherheitsrechtlichen Bedenken gegen die Einreise oder den weiteren Aufenthalt aufgrund bestimmter Anknüpfungspunkte Rechnung zu tragen und festzustellen, ob der Betroffene auf gezielte Fragen und Vorhalte in wesentlichen Punkten bewusst falsche oder unvollständige Angaben macht, um bestimmte Tatsachen zu verschleiern. Die Regelung ist eine Sanktion für den Fall, dass der mitwirkungspflichtige Ausländer bei der Befragung bestimmte Tatsachen verschleiert. § 54 Nr. 6 AufenthG ist kein Auffangtatbestand zu § 54 Nr. 5 AufenthG und rechtfertigt insbesondere keine bloße „Verdachtsausweisung“, die die Schwelle des § 54 Nr. 5 AufenthG nicht überschreitet. Es muss vielmehr feststehen, dass die Angaben des Betroffenen mit der Realität nicht übereinstimmen. Bloße Mutmaßungen darüber, was der Betreffende wissen müsste oder könnte, reichen insoweit nicht aus (vgl. Alexy, HK-AuslR, § 54 Rn. 41).

Nach diesem Maßstab hat das Gespräch am 12. Mai 2011 entgegen der Auffassung (und Erwartung) des Beklagten nicht ergeben, dass der Kläger in wesentlichen Punkten falsche oder unvollständige Angaben über Verbindungen zu Personen oder Organisationen gemacht hat, die der Unterstützung des Terrorismus verdächtig sind. Die in den Vermerk des Beklagten vom 13. Mai 2011, des LKA Berlin vom 14. Juni 2011 und des Verfassungsschutzes vom 8. Juni 2011 vorgenommenen Bewertungen tragen einen Ausweisungsgrund nach § 54 Nr. 6 AufenthG nicht. Sie sind offenbar von einem vorgefassten Bild des Klägers als Mitglied einer bestimmten Gruppe geprägt. Es ist angesichts der in Rede stehenden Mutmaßungen nicht überraschend, dass sich der Kläger in dem Gespräch zurückhaltend und nicht als glühender Anhänger des gewalttätigen Dschihad geriert hat. Die Kontakte zu Personen, der er nach den bisherigen Erkenntnissen kennen muss, hat er nicht abgestritten, sondern jeweils eingeräumt. Soweit er die Personen nach eigenen Angaben nicht kennt, ist nicht belegt, dass er diese Personen in Wahrheit kennt. Hinsichtlich der Intensität der Kontakte und das Wissen des Klägers über die persönlichen Verhältnisse und Einstellungen der Kontaktpersonen liegen dem Beklagten und den Sicherbehörden offenkundig nur wenig valide Kenntnisse vor. Auch insoweit ergibt sich aus dem Gesprächsvermerk jedoch nicht, dass der Kläger bewusst Angaben verschwiegen hat. Soweit der Beklagte meint, dass der Kläger wissen müsste, welche Staatsangehörigkeit oder Einstellung bestimmte Kontaktpersonen haben, beruht diese Bewertung auf einer bloßen Mutmaßung. Es ist keineswegs lebensfremd anzunehmen, dass der Kläger nicht über die Staatsangehörigkeit und politischen Einstellung aller 31 Personen, deren Lichtbilder gezeigt wurden, informiert ist. Schließlich sind auch die Fragen zu seiner eigenen religiösen Einstellung und die von dem Kläger gegebenen Antworten kein ausreichendes Indiz dafür, dass der Kläger unwahre oder unvollständige Angaben gemacht hat. Vielmehr unterstellt der Beklagte, dass der Kläger aufgrund des bei den Durchsuchungen gefundenen Bild- und Tonmaterials detaillierte Kenntnisse über die Scharia, den Koran und den gewalttätigen Dschihad haben muss. Bestimmte Kenntnisse und Einstellungen entziehen sich eine Kategorisierung von richtigen oder falschen, vollständigen oder unvollständigen Angaben. Im Übrigen sind die eigenen (mangelnde) Kenntnisse über bestimmte politische Richtungen unerheblich, weil es auf konkrete Verbindungen zu Personen oder Organisationen ankommt.

Schließlich steht der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen, dass der Kläger derzeit nicht über einen gültigen Pass verfügt (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG). Der Kläger kann zwar der Ausweispflicht nach § 3 AufenthG nicht nachkommen, weil er keinen gültigen Pass oder Passersatz hat. Er hat aber durch die Bestätigung der algerischen Botschaft vom 30. Mai 2011 nachgewiesen, dass er ohne Aufenthaltserlaubnis keinen Pass erhalten kann. Da ihm der Beklagte auch die Ausstellung eines Passersatzes verweigert, liegt ein atypischer Fall vor, bei dem die Aufenthaltserlaubnis auch dann beansprucht werden kann, wenn der Ausländer – wie hier - unverschuldet gehindert ist, seiner Passpflicht nachzukommen. [...]