VG Gießen

Merkliste
Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 22.06.2011 - 2 K 2084/10.GI.A - asyl.net: M18717
https://www.asyl.net/rsdb/M18717
Leitsatz:

Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG, da der Kläger - jedenfalls bei der aktuell schlechten Sicherheitslage - im Falle einer Abschiebung nach Syrien aufgrund seines Verbleibens im Ausland und der Asylantragstellung in Deutschland mit eingehender Befragung durch den syrischen Geheimdienst und damit einhergehend mit willkürlicher Inhaftierung rechnen muss, in deren Verlauf die konkrete Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung besteht.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Syrien, Christen, Kurden, politische Verfolgung, Sicherheitslage, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Zumutbarkeit, Folter, unmenschliche Behandlung, deutsch-syrisches Rückübernahmeabkommen, Inhaftierung, Rückkehrgefährdung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Es liegt jedoch ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG im Hinblick auf die Arabische Republik Syrien zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes (Ziffern 3 und 4) war deshalb insoweit aufzuheben.

Nach § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für diesen die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Ausländer, die wie der Kläger ihr Heimatland unverfolgt verlassen haben, genießen Abschiebungsschutz nur, wenn ihnen bei verständiger, nämlich objektiver Würdigung der gesamten Umstände ihres Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei der Rückkehr in ihr Heimatland die genannte Gefahr konkret droht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13.08.1990 - 9 B 100/90 -, juris). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ist dann anzunehmen, wenn bei zusammenfassender Bewertung die für eine solche Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht haben und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidendes Kriterium ist hierbei der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 - InfAuslR 2010, 410 - 412). Entscheidend soll danach sein, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Ergibt sich bei Würdigung der Gesamtumstände die reale Möglichkeit einer politischen Verfolgung, bzw. hier der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung, so wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände dabei auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in seine Betrachtung einbeziehen.

Gemessen an diesen Kriterien und vor dem Hintergrund der aktuellen Lage in Syrien, deren Entwicklung derzeit nicht absehbar ist, droht dem Kläger aktuell mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefahr im oben ausgeführten Sinne.

Nach dem letzten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27.09.2010 werden Personen, die im Rahmen des Anfang 2009 in Kraft getretenen deutsch-syrischen Rückübernahmeabkommens nach Syrien zurückgeführt werden, bei ihrer Einreise zunächst durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt. Diese Befragungen können sich über mehrere Stunden hinziehen und häufiger wird zu einer weiteren Befragung einbestellt. In einigen Fällen werden Einreisende durch die Behörden bis zu zwei Wochen festgehalten und vereinzelt kommt es auch zu Inhaftierungen unmittelbar bzw. kurz nach der Rückführung (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27.09.2010, Seite 16 ff.). Insgesamt häufen sich die Angaben über willkürliche Verhaftungen durch die syrischen Stellen bei abgeschobenen syrischen Staatsangehörigen, wobei ein bestimmter Verfolgungsmodus nicht erkennbar ist. Die Verhaftungen betreffen sowohl exilpolitisch tätige Syrer als auch andere Personen. Während der Haftzeit kommt es häufig zu körperlichen und psychischen Misshandlungen (vgl. hierzu auch VG Chemnitz, Urteil vom 22.12.2010 - A 5 K 495/10 -; VG Regensburg, Urteil vom 09.03.2011 [richtig: 10.03.2011] - RO 6 K 10.30350 -).

Die Gefährdungslage hat sich nach Überzeugung des Gerichts durch die aktuellen politischen Entwicklungen in Syrien stetig verschärft, wobei spätestens seit den Massenprotesten in Daraa im April 2011 von einer Revolte gesprochen werden kann, die von den Sicherheitskräften mit allen Mitteln bekämpft wird (vgl. dazu die Ausführungen im Urteil des VG Köln [richtig: Stuttgart] vom 6. Mai 2011 - A 7 K 510/09 - sowie dort zitierte Quellen aus allgemein zugänglichen Medien).

Mittlerweile warnt das Auswärtige Amt vor Reisen nach Syrien und empfiehlt allen Deutschen in Syrien dringend die sofortige Ausreise. Ausweislich eines Schreibens des Bundesinnenministeriums vom 28.04.2011 an die Ministerien und Senatsverwaltungen der Länder sieht das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vor dem Hintergrund der aktuellen Lageentwicklung derzeit davon ab, Asylentscheidungen zum Herkunftsland Syrien zu treffen. Darüber hinaus wird auch von Seiten des Bundesinnenministeriums angeraten, vorläufig bis zur Klärung der Verhältnisse in Syrien tatsächlich keine Abschiebungen vorzunehmen.

Im Falle des Klägers bedeutet dies, dass er - jedenfalls bei der aktuell schlechten Sicherheitslage - im Falle einer Abschiebung nach Syrien aufgrund seines Verbleibens im Ausland und seiner Asylantragstellung in Deutschland mit eingehender Befragung durch den syrischen Geheimdienst und damit einhergehend mit willkürlicher Inhaftierung rechnen muss, in deren Verlauf die konkrete Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung besteht. Im Hinblick auf die aktuellen Entwicklungen in Syrien, wonach der syrische Staat derzeit mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln versucht, Protestbewegungen zu unterdrücken, erhöht sich die Gefahr von Übergriffen bzw. wird zunehmend unberechenbarer.

Das Gericht ist mithin davon überzeugt, dass der Kläger im heutigen Zeitpunkt im Falle seiner Rückkehr der Gefahr von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von § 60 Abs. 2 AufenthG ausgesetzt wäre. [...]