VG Stuttgart

Merkliste
Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 29.06.2011 - A 7 K 3804/10 - asyl.net: M18716
https://www.asyl.net/rsdb/M18716
Leitsatz:

Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG für Kurden wegen konkreter Verfolgungsgefahr in Syrien aufgrund der allgemeinen Lage. In der derzeitigen aufgeheizten Situation sind Personen, die im Ausland einen Asylantrag gestellt oder sich dort lange aufgehalten haben oder der kurdischen Minderheit angehören, noch stärker als bisher gefährdet. In absehbarer Zeit ist keine Besserung zu erwarten, daher ist über die entscheidungsreife Asylklage zu entscheiden. Hinzu kommt, dass der Kläger mit einer staatenlosen Kurdin yezidischer Religionszugehörigkeit aus Syrien traditionell verheiratet ist, die vom BAMF als politischer Flüchtling anerkannt wurde.

---

Die Berufung des BAMF gegen diese Entscheidung wurde zugelassen vom VGH Baden-Württemberg mit Beschluss vom 14.9.2011 (A 11 S 2172/11, M19026).

---

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Syrien, Kurden, Sicherheitslage, Yeziden, Verfolgungshandlung, Asylrelevanz, Diskriminierung, Glaubhaftmachung, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab
Normen: AufenthG § 60 Abs. 2, AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Beim Kläger liegt im Hinblick auf Syrien zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung jedoch ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG vor. Ziffer 3 des angefochtenen Bescheids des Bundesamtes war deshalb aufzuheben. [...]

Nach alledem liegen bereits aus der Zeit vor dem Erstarken der Protestbewegung gegen die syrische Regierung im März/April 2011 (vgl. dazu im Einzelnen "Revolte in Syrien 2011", Wikipedia Stand 5.5.2011) ernst zu nehmende Erkenntnisse über willkürliche Verhaftungen durch die syrischen Stellen bei abgeschobenen syrischen Staatsangehörigen vor, wobei sich ein bestimmter Verfolgungsmodus nicht erkennen lässt. Die Verhaftungen betreffen sowohl exilpolitisch tätige Exilsyrer als auch Personen, die sich im Ausland nicht exilpolitisch betätigt haben. Soweit konkrete Vorwürfe gegenüber den Betroffenen überhaupt erhoben werden, reichen diese vom Vorwurf des illegalen Verlassens des Landes bis hin zum Vorwurf der wissentlichen Verbreitung von falschen oder übertriebenen Informationen im Ausland. Während der Haftzeit kommt es zu körperlichen und psychischen Misshandlungen (vgl. dazu auch VG Chemnitz, Urteil vom 22.12.2010, a.a.O.; VG Regensburg, Urteil vom 10.3.2011 - RO 6 K 10.30350 -; VG Köln, Urteil vom 11.4.2011 - 20 K 2727/10.A -).

Die Gefährdungslage bei Rücküberstellungen nach Syrien hat sich nach Überzeugung des Gerichts durch die dortigen aktuellen politischen Ereignisse weiter verschärft. Die Unruhen in Syrien haben sich ausweislich der zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen spätestens seit den Massenprotesten in Daraa im April 2011 zu einer Revolte entwickelt, die von den Sicherheitskräften blutig und mit allen Mitteln bekämpft wird (vgl. dazu "Revolte in Syrien 2011", Wikipedia Stand 5.5.2011; Auswärtiges Amt, Reisewarnung Syrien, Stand 5.5.2011; "Unruhen gehen weiter", Hamburger Abendblatt vom 1.5.2011; "Syrische Regierung kündigt Reformen an", Focus online vom 1.5.2011; "Massenproteste fordern bereits mehr als 500 Opfer", Spiegel online vom 30.4.2011; "USA bringen Botschaftspersonal in Sicherheit", Spiegel online vom 26.4.2011; "Syriens Diktator zündelt am Pulverfass", Spiegel vom 26.4.2011). Danach wird von Sicherheitskräften wahllos auf Demonstranten geschossen; Stadtteile und Städte wie etwa Daraa und Banias werden von Armeepanzern und Sicherheitskräften abgeriegelt und ohne Strom, Wasserversorgung, Telefon- und Internetverbindung gelassen; es gibt nächtliche Hausdurchsuchungen mit Verhaftungen und Verschleppungen von Regimegegnern. Nach Angaben von Menschenrechtsgruppen haben die Demonstrationen gegen das Regime mittlerweile etwa 500 Menschen das Leben gekostet. Der Uno-Menschenrechtsrat billigte am 29.4.2011 Ermittlungen zur blutigen Niederschlagung der Proteste in Syrien. Zudem wurde die Regierung aufgefordert, umgehend alle politischen Gefangenen freizulassen und die Beschränkungen für Journalisten und das Internet aufzuheben. Wegen "fortgesetzter Menschenrechtsverletzungen" haben die USA Sanktionen gegen Vertraute von Präsident Assad verhängt. Auch die EU brachte Sanktionen gegen das syrische Regime auf den Weg (vgl. im Einzelnen Spiegel online vom 30.4.2011, a.a.O.; Hamburger Abendblatt vom 1.5.2011, a.a.O.; s. auch "Wieder Tote bei Protesten", Stuttgarter Zeitung vom 7.5.2011; "Syrische Armee besetzt Städte", Stuttgarter Zeitung vom 9.5.2011). Das Auswärtige Amt warnt vor Reisen nach Syrien und empfiehlt allen Deutschen in Syrien dringend die sofortige Ausreise.

Ausweislich eines Schreibens des Bundesinnenministeriums vom 28.4.2011 u.a. an die Ministerien und Senatsverwaltungen für Inneres der Länder sieht vor dem Hintergrund der aktuellen Lageentwicklung das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorläufig davon ab, Asylentscheidungen zum Herkunftsland Syrien zu treffen. Darüber hinaus erscheine es aus Sicht des Bundesinnenministeriums ratsam, vorläufig bis zur Klärung der Verhältnisse in Syrien tatsächlich keine Abschiebungen vorzunehmen.

Der Kläger muss im Falle einer Abschiebung nach Syrien aufgrund seiner Ausreise aus Syrien im Jahre 2009, seiner kurdischen Volkszugehörigkeit und der Asylantragstellung in Deutschland im Falle der Abschiebung mit eingehenden Befragung durch den syrischen Geheimdienst und ggf. mit Inhaftierung rechnen, in deren Verlauf schon in der Vergangenheit die konkrete Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bestand. In Ansehung der o.g. Erkenntnisse über die derzeitige Lage in Syrien, in der die Sicherheitskräfte mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen, Protestbewegungen zu unterdrücken, ist nach Überzeugung des Gerichts die Gefahr von Übergriffen nochmals erhöht. In der derzeitigen aufgeheizten Situation werden Personen, die im Ausland einen Asylantrag gestellt oder sich lange Zeit im Ausland aufgehalten haben oder die der kurdischen Minderheit angehören, die im Nordosten des Landes an den derzeitigen Protesten beteiligt ist, noch stärker als bisher Veranlassung zur Überprüfung geben, ob sie Gegner des syrischen Regimes sind oder ob von ihnen eine weitere Verschärfung der innerstaatlichen Probleme erwartet werden kann - mit der geschilderten Gefahr von Inhaftierung und menschenrechtswidriger Behandlung durch den syrischen Geheimdienst. Beim Kläger ist die Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung aus einem weiteren Grund erhöht: Er ist mit einer staatenlosen Kurdin yezidischer Religionszugehörigkeit aus Syrien nach traditionellem Ritus verheiratet, wobei eine wirksame Eheschließung bislang nicht erfolgt ist. Die Frau des Klägers ist vom Bundesamt als politischer Flüchtling anerkannt (Bescheid vom 3.4.2008, 5250262-475). Es ist naheliegend, dass syrische Stellen die Verbindung des Klägers zu seiner Frau aufdecken. Der Kläger muss deshalb damit rechnen, dass die syrischen Behörden versuchen, die Hintergründe der Flüchtlingsanerkennung seiner Frau und ihres Bruders, mit dem sie geflohen war, in Erfahrung zu bringen. Nach Einschätzung des Einzelrichters des Verwaltungsgerichts Karlsruhe war der Bruder der Frau des Klägers in das "Visier" des syrischen Geheimdienstes geraten (vgl. Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 12.3.2008 in den Verfahren A 11 K 4025/07 und A 11 K 4185/07). Unter diesen Umständen und in Anbetracht der geschilderten allgemeinen Lage in Syrien droht dem Kläger bei den nach einer Abschiebung zu erwartenden Verhören Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG.

Dass angesichts der aktuellen Lage Abschiebungen nach Syrien nicht "sicher" und den Betroffenen nicht zumutbar sind, sieht im Übrigen auch das Bundesministerium des Inneren so, da andernfalls nicht mit Rundschreiben vom 28.4.2011 ein faktischer Abschiebungsstopp angeraten worden wäre, auch wenn "die zwingende Notwendigkeit einer förmlichen Beschlussfassung nach § 60a Abs. 1 AufenthG derzeit nicht gesehen" wird. Da nicht erkennbar ist, dass sich in absehbarer Zeit die Situation in Syrien zum Besseren wenden wird, hat der Kläger einen Anspruch darauf, dass das Gericht über seine entscheidungsreife Asylklage entscheidet und das vorliegend gegebene Abschiebungshindernis förmlich feststellt. Einer Entscheidung über die weiteren Hilfsanträge bedarf es danach nicht mehr. [...]