BlueSky

BGH

Merkliste
Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 12.05.2011 - V ZB 309/10 - asyl.net: M18706
https://www.asyl.net/rsdb/M18706
Leitsatz:

1. Im Haftverfahren muss ein Dolmetscher nicht erst bei gänzlich unzureichenden Deutschkenntnissen hinzugezogen werden, sondern schon dann, wenn ein Beteiligter die deutsche Sprache nicht so weit beherrscht, dass er dem Verfahren folgen und erforderliche Erklärungen in deutscher Sprache abgeben kann. Das Tatgericht hat nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob ein Dolmetscher hinzuzuziehen ist.

2. Ist verwaltungsgerichtlicher Eilrechtsschutz beantragt, hat der Haftrichter den Stand und voraussichtlichen Fortgang des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens aufzuklären und bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen. Unzureichende Ermittlungen entziehen der Haftanordnung jedoch nicht von vornherein jede Grundlage und drücken der vollzogenen Haft nicht ohne weiteres den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung auf. Vielmehr bedarf es der Entscheidungserheblichkeit des Verfahrensfehlers. Daran fehlt es hier, da anders als seinerzeit bei Zurückschiebungen nach Griechenland keine Praxis der Verwaltungsgerichte in Eilverfahren besteht, Abschiebungen in die Russische Föderation auszusetzen.

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Sicherungshaft, Anhörung, Dolmetscher, Deutschkenntnisse, Ermessen, Haftgründe, unerlaubte Einreise, Drei-Monats-Frist, Prognose, Passbeschaffung, Russische Föderation, Georgien, Rückübernahmeabkommen, Verfahrensfehler, Entscheidungserheblichkeit, Verhältnismäßigkeit, Beschleunigungsgebot,
Normen: FamFG § 420 Abs. 1 S. 1, GVG § 185 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 62 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, AufenthG § 62 Abs. 2 S. 4, FamFG § 72 Abs. 1 S. 1, GG Art. 2 Abs. 2, FamFG § 26
Auszüge:

[...]

bb) Ist ein Betroffener der deutschen Sprache nicht mächtig, muss für die Gewährleistung eines rechtsstaatlichen, fairen Verfahrens ein Dolmetscher zugezogen werden (vgl. § 185 Abs. 1 Satz 1 GVG; BVerfG, NJW 1983, 2762, 2763; Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152, 154 Rn. 15). Dies ist nicht erst bei gänzlich unzureichenden Deutschkenntnissen geboten, sondern schon dann, wenn ein Beteiligter die deutsche Sprache nicht so weit beherrscht, dass er dem Verfahren folgen und seine zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung erforderlichen Erklärungen abgeben und Angaben in deutscher Sprache machen kann; sie ist auch notwendig, wenn ein Beteiligter Deutsch zwar ausreichend versteht, sich in dieser Sprache aber nur unzureichend auszudrücken vermag (BVerfG, NJW 1983, 2762, 2763). Die Entscheidung, ob ein Beteiligter der deutschen Sprache mächtig ist, hat das Tatgericht nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen. Dieses Ermessen kann vom Rechtsbeschwerdegericht nur dahin überprüft werden, ob seine rechtlichen Grenzen eingehalten sind (vgl. BGH, Urteil vom 11. November 1952, NJW 1953, 114, 115; OLG Stuttgart, NJW 2006, 3796, 3798; OLG Frankfurt a.M., NJW 1952, 1310; MünchKomm-ZPO/Zimmermann, 3. Auflage, § 185 GVG Rn. 9, 10; Zöller/Lückemann, ZPO, 28. Auflage, § 185 GVG, Rn. 3),

cc) Es ist nicht ersichtlich, dass das Amtsgericht den Rechtsbegriff der Sprachkundigkeit verkannt oder sonst sein tatrichterliches Ermessen überschritten hätte. Wie das Anhörungsprotokoll des Amtsgerichts zeigt, hat der Betroffene in deutscher Sprache Ausführungen zu den Gründen gemacht, die ihn aus seiner Sicht an einer Rückkehr nach Russland hinderten. Das Amtsgericht hat hieraus rechtsfehlerfrei die Schlussfolgerung gezogen, dass sich der seit Ende 2004 in Deutschland lebende Betroffene hinreichend der deutschen Sprache mächtig zeigte, um der Anhörung zu folgen und seine Interessen zu formulieren (vgl. Nichtabhilfeentscheidung des Amtsgerichts vom 6. Oktober 2010). Die Ansicht der Rechtsbeschwerde, das Protokoll der Anhörung durch das Beschwerdegericht belege, dass die Hinzuziehung eines Dolmetschers erforderlich gewesen sei, um eine Reihe von Missverständnissen aufzuklären, auf denen die Entscheidung des Amtsgerichts aufbaue, trifft nicht zu. Weder dem Anhörungsprotokoll des Beschwerdegerichts noch der Beschwerdeentscheidung ist zu entnehmen, dass sprachlich bedingte Missverständnisse mit Hilfe des von dem Beschwerdegericht zugezogenen Dolmetschers aufgeklärt werden mussten. Soweit die Rechtsbeschwerde auf die Fragestellung des Beschwerdegerichts zum Geburtsort des Betroffenen hinweist, ging es nicht um die Aufklärung eines anlässlich der Anhörung vor dem Amtsgericht entstandenen Missverständnisses. Vielmehr bezogen sich die Fragen auf die in dem Bescheid des Bundesamtes vom 28. Oktober 2010 aufgeführten unterschiedlichen Geburtsorte des Betroffenen; dieser Bescheid war nicht Gegenstand der Anhörung vor dem Amtsgericht, da er in diesem Zeitpunkt noch nicht existierte.

d) Anders als die Rechtsbeschwerde meint, haben die Vorinstanzen zu Recht die Voraussetzungen des Haftgrundes der unerlaubten Einreise gemäß § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG bejaht. An der erforderlichen Ursächlichkeit der unerlaubten Einreise für die vollziehbare Ausreisepflicht (vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Asylverfahrens, BT-Drucks. 12/2062, S. 45; Senat, Beschluss vom 28. Oktober 2010 - V ZB 210/10, InfAuslR 2011, 71, 73 Rn. 19) fehlt es nicht. Zwar lässt eine zwischenzeitliche Aufenthaltsgenehmigung die Ursächlichkeit entfallen (Senat, Beschluss vom 28. Oktober 2010 - V ZB 210/10, InfAuslR 2011, 71, 73 Rn. 19). Aus der dem Betroffenen bewilligten Duldung (§ 60a AufenthG) folgt jedoch kein Recht zum Aufenthalt; eine solche Duldung lässt die Pflicht zur Ausreise unberührt. Sie stellt lediglich einen befristeten Verzicht der Behörde auf die an sich gebotene Durchsetzung der Ausreisepflicht dar (Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27, 28 Rn. 13 mwN). Auch der von dem Betroffenen während der Sicherungshaft gestellte Asylantrag unterbricht die Ursächlichkeit der unerlaubten Einreise nicht, da er innerhalb von vier Wochen von dem Bundesamt als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde (vgl. Senat, Beschluss vom 28. Oktober 2010 - V ZB 210/10, InfAuslR 2011, 71, 73 Rn. 20).

e) Das Beschwerdegericht hat mit zutreffender Begründung auch den Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG bejaht. Die Rechtsbeschwerde erhebt insoweit keine Einwendungen.

f) Die Rechtsbeschwerde rügt aber zu Recht, dass das Amtsgericht und das Beschwerdegericht die Vorschrift des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG fehlerhaft angewendet haben. Danach darf die Haft nicht angeordnet werden, wenn feststeht, dass die Abschiebung aus Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann. Der Haftrichter hat dazu eine Prognose anzustellen und diese auf alle im konkreten Fall ernsthaft in Betracht kommenden Umstände zu erstrecken, die der Abschiebung entgegenstehen oder sie verzögern können (Senat, Beschluss vom 20. Januar 2011 - V ZB 226/10, Rn. 18, juris mwN). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prognose, ob die Abschiebung innerhalb der nächsten drei Monate möglich erscheint, ist der Erlass der Haftanordnung, nicht der mutmaßliche Beginn des Vollzugs der Abschiebungshaft (Senat, Beschluss vom 14. Oktober 2010 - V ZB 261/10, Rn. 11, juris). Dies gilt auch im Fall der Anordnung von Sicherungshaft als Überhaft im Anschluss an eine Strafhaft (OLG München, Beschluss vom 24. Mai 2005 - 34 Wx 052/05, Rn. 9, juris; OLG Köln, OLGR Köln 2002, 364). Die Prognose ist im Rechtsbeschwerdeverfahren zwar nur eingeschränkt überprüfbar (Senat, Beschluss vom 20. Januar 2011 - V ZB 226/10, Rn. 18, juris), in diesem Rahmen aber zu beanstanden.

aa) Das Amtsgericht hat lediglich festgestellt, dass das Rückübernahmeverfahren erfahrungsgemäß eine entsprechende Dauer in Anspruch nehme. Diese - in keiner Weise näher konkretisierte - formelhafte Wendung ist nicht geeignet, konkrete Angaben zum Ablauf des Verfahrens und zu dem Zeitraum, in welchem die einzelnen Schritte unter normalen Bedingungen durchlaufen werden (vgl. Senat, Beschluss vom 8. Juli 2010 - V ZB 203/09, Rn. 9, juris), zu ersetzen.

bb) Auch das Beschwerdegericht hat den Umfang seiner Pflichten bei der Prüfung des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG verkannt.

(1) Im Ergebnis ohne Erfolg macht die Rechtsbeschwerde allerdings geltend, dass das Beschwerdegericht den von dem Betroffenen bei dem Verwaltungsgericht gestellten Eilantrag in seine Prognose nicht mit einbezogen hat.

Ist über die Fortdauer der Abschiebungshaft eines Ausländers zu entscheiden, der zur Verhinderung der Abschiebung einstweiligen Rechtsschutz bei dem Verwaltungsgericht beantragt hat, setzt eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Anwendung des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG voraus, dass der Haftrichter den Stand und voraussichtlichen Fortgang des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens aufklärt und bei seiner Entscheidung berücksichtigt (BVerfG, NJW 2009, 2659, 2660 Rn. 26; Senat, Beschluss vom 3. Februar 2011 - V ZB 12/10, Rn. 8, juris; Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09, NVwZ 2010, 726, 728 Rn. 24). Wird solchen Eilanträgen regelmäßig entsprochen, darf er, wenn die Sache bei dem Verwaltungsgericht anhängig gemacht worden ist, eine Haft zur Sicherung der Abschiebung nicht anordnen (Senat, Beschluss vom 6. Mai 2010 - V ZB 213/09, NVwZ 2010, 1510, 1511 Rn. 14).

Dieser Aufklärungspflicht ist das Beschwerdegericht nicht gerecht geworden. Allerdings rechtfertigt nicht schon dieser Verfahrensmangel die Feststellung der Rechtswidrigkeit. Unzureichende Ermittlungen im Zusammenhang mit der nach § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG zu treffenden Prognose entziehen der Haftanordnung nicht von vorneherein jede Grundlage und drücken der vollzogenen Haft nicht ohne weiteres den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung auf (Senat, Beschluss vom 8. Juli 2010 - V ZB 203/09, Rn. 11, juris). Vielmehr bedarf es der Entscheidungserheblichkeit des Verfahrensfehlers (§ 72 Abs. 1 Satz 1 FamFG). Daran fehlt es hier. Anders als in den von dem Senat entschiedenen Fällen, in denen Betroffene mit Eilanträgen bei den Verwaltungsgerichten ihre Zurückschiebung nach Griechenland verhindern wollten und diesen Anträgen durch die Verwaltungsgerichte regelmäßig stattgegeben wurde (vgl. zuletzt Senat, Beschluss vom 3. Februar 2011 - V ZB 12/10, Rn. 9, juris mwN), legt die Rechtsbeschwerde eine solche Praxis der Verwaltungsgerichte bei Eilanträgen, die sich gegen die Abschiebung in die Russische Föderation richten, nicht dar. Hierfür ist auch nach dem zu berücksichtigenden späteren tatsächlichen Geschehensablauf, aus dem auf den mutmaßlichen Inhalt einer gebotenen, aber unterlassenen Prognose geschlossen werden kann (vgl. Senat, Beschluss vom 20. Januar 2011 - V ZB 226/10, Rn. 19, juris; Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27, 29 Rn. 24), nichts ersichtlich.

(2) Mit Erfolg rügt die Rechtsbeschwerde jedoch, die Entscheidung des Beschwerdegerichts enthalte keine Feststellungen zu der Frage, ob die Abschiebung des Betroffenen - ausgehend von der Haftanordnung - noch innerhalb des in seinem Entscheidungszeitpunkt verbleibenden Zeitraums von zwölf Tagen möglich war. Hieran musste das Beschwerdegericht Zweifel haben, nachdem zur Beschaffung der erforderlichen Passersatzpapiere unter Umständen noch die Vorführung des Betroffenen bei der Botschaft oder dem Konsulat Georgiens zur Klärung seiner Identität erforderlich werden konnte.

g) Verfahrensfehlerhaft ist die Entscheidung ferner, weil das Amtsgericht und das Beschwerdegericht nicht geprüft haben, ob die Sicherungshaft unverhältnismäßig war, weil das Abschiebungsverfahren möglicherweise nicht mit der gebotenen Beschleunigung betrieben worden ist. Das aus Art. 2 Abs. 2 GG abzuleitende Beschleunigungsgebot bei Freiheitsentziehungen ist verletzt, wenn die Ausländerbehörde nicht alle notwendigen Anstrengungen unternommen hat, um Ersatzpapiere zu beschaffen, damit der Vollzug der Abschiebungshaft auf eine möglichst kurze Zeit beschränkt werden kann (Senat, Beschluss vom 28. Oktober 2010 - V ZB 210/10, InfAuslR 2011, 71, 74 Rn. 25; Beschluss vom 18. August 2010 - V ZB 119/10, Rn. 18, juris) oder ganz entbehrlich wird (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22. April 1996 - 3 Wx 151/96, juris Rn. 28; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 3. Juli 2006 - 3 W 109/06, juris Rn. 9).

aa) Da die dem Betroffenen erteilte Duldung bereits am 6. März 2010 abgelaufen war, hätte Anlass zu der Prüfung bestanden, welche Maßnahmen der Beteiligte zu 2 seitdem in die Wege geleitet hatte, um die Identität des Betroffenen zu klären und die fehlenden Passersatzpapiere zu beschaffen und so eine Abschiebung des Betroffenen vorzubereiten. Dazu fehlen Feststellungen sowohl des Amtsgerichts als auch des Beschwerdegerichts. Hat die Ausländerbehörde ihr mögliche Anstrengungen unterlassen, ist die Haftanordnung bzw. die Fortsetzung der Haft unzulässig, wenn oder sobald der Zeitraum abgelaufen ist, der bei ordnungsgemäßer Behandlung für die Vorbereitung und Durchführung der Abschiebung notwendig gewesen wäre (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22. April 1996 - 3 Wx 151/96, juris Rn. 28).

bb) Ob der Beteiligte zu 2 dem Beschleunigungsgebot gerecht geworden ist, musste dem Beschwerdegericht auch deshalb zweifelhaft erscheinen, weil der Betroffene, der sich seit dem 26. August 2010 in Haft befand, erst 20 Tage später, nämlich am 16. September 2010, bei dem russischen Generalkonsulat zum Zweck der Identitätsfeststellung vorgeführt worden ist. Weshalb eine frühere Vorführung unterblieben ist, hätte weiterer Aufklärung (§ 26 FamFG) bedurft. Verzögerungen wären der Ausländerbehörde in diesem Zusammenhang dann nicht zuzurechnen, wenn diese auf die Bearbeitung des Verfahrens durch die ausländischen Behörden zurückzuführen sind (vgl. Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZA 2/10, Rn. 16, juris). [...]