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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 16.06.2011 - Pehlivan gg. Niederlande, C-484/07 - asyl.net: M18685
https://www.asyl.net/rsdb/M18685
Leitsatz:

Die Eheschließung eines Familienangehörigen (hier der Tochter) eines assoziationsberechtigten türkischen Arbeitnehmers vor Ablauf der dreijährigen Frist des Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich ARB 1/80 hat keinen Einfluss auf das Aufenthaltsrecht, solange das Zusammenleben mit dem türkischen Arbeitnehmer nicht beendet wird.

Schlagwörter: Vorabentscheidungsverfahren, Assoziationsberechtigte, Familienangehörige, Türkischer Arbeitnehmer, Aufenthaltsrecht, praktische Wirksamkeit, Wanderarbeitnehmer, familiäre Lebensgemeinschaft, Niederlande,
Normen: ARB 1/80 Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich, EG Art. 234
Auszüge:

[...]

Vorbemerkungen

35 Gemäß der Vorlageentscheidung betrifft das Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank ’s-Gravenhage die Situation einer türkischen Staatsangehörigen, die als Kind und damit Familienangehörige zugewanderter türkischer Eheleute, von denen zumindest einer der beiden dem regulären Arbeitsmarkt der Niederlande angehörte, aufgrund von Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 die Erlaubnis erhielt, im Wege der Familienzusammenführung zu ihren Eltern in den Aufnahmemitgliedstaat zu ziehen.

36 Das vorlegende Gericht hat festgestellt, dass Frau Pehlivan mehr als drei Jahre lang ununterbrochen mit ihren Eltern zusammengewohnt hat. Die niederländischen Behörden haben jedoch ihr Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat mit der Begründung in Frage gestellt, dass sie vor Ablauf der nach Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 vorgesehenen Frist von drei Jahren geheiratet habe. Sie haben sich hierbei auf das nationale Recht gestützt, wonach die tatsächliche Familiengemeinschaft eines volljährigen Kindes mit seinen Eltern durch die Heirat dieses Kindes als aufgelöst betrachtet werde, da eine moralische und finanzielle Abhängigkeit dieses Kindes von seinen Eltern nicht mehr bestehe, mit der Folge, dass die Aufenthaltserlaubnis dann nicht mehr wirksam auf der Familienzusammenführung beruhen könne.

37 Unter diesen Umständen ist, worauf das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage abzielt, zunächst zu entscheiden, ob sich eine türkische Staatsangehörige in einer Situation wie der der Klägerin im Ausgangsverfahren wirksam auf Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 berufen kann.

38 Dazu ist insbesondere zu prüfen, ob Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 dahin ausgelegt werden kann, dass die Tatsache, dass ein in einem Mitgliedstaat im Rahmen der Familienzusammenführung mit seinen Eltern zugelassener Familienangehöriger eines türkischen Wanderarbeitnehmers vor Ablauf der in dieser Vorschrift vorgesehenen dreijährigen Frist heiratet, automatisch zur Folge hat, dass der Betroffene in dem Aufnahmemitgliedstaat keinen ordnungsgemäßen Wohnsitz im Sinne dieser Vorschrift mehr hat und dass dieser Staat demzufolge berechtigt ist, eine nationale Aufenthaltsregelung wie die in Randnr. 20 dieses Urteils beschriebene auf eine türkische Staatsangehörige wie im Ausgangsverfahren anzuwenden, von der feststeht, dass sie während dieser gesamten Zeit tatsächlich bei ihren Eltern gewohnt hat.

Zur ersten Frage

39 Um auf die in den beiden vorstehenden Randnummern dargelegte erste Frage eine zweckdienliche Antwort zu geben, ist daran zu erinnern, dass Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 unmittelbare Wirkung hat, so dass türkische Staatsangehörige, für die diese Vorschrift gilt, sich vor den Gerichten der Mitgliedstaaten auf diese Vorschrift unmittelbar berufen können, um die Anwendung entgegenstehender inländischer Rechtsvorschriften auszuschließen (vgl. in diesem Sinne u.a. Urteile vom 17. April 1997, Kadiman, C-351/95, Slg. 1997, I-2133, Randnr. 28, und vom 22. Dezember 2010, Bozkurt, C-303/08, Slg. 2010, I-0000, Randnr. 31).

40 Wie sich bereits aus dem Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ergibt, hängt der Erwerb der in dieser Vorschrift vorgesehenen Rechte von zwei kumulativen Voraussetzungen ab: Zum einen muss die betreffende Person Familienangehöriger eines bereits dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers sein und zum anderen muss sie von den zuständigen Behörden dieses Staates die Genehmigung erhalten haben, zu diesem Arbeitnehmer zu ziehen (vgl. Urteil Bozkurt, Randnr. 26). Es steht fest, dass Frau Pehlivan, wie in den Randnrn. 21 bis 23 dieses Urteils erwähnt, diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllte.

41 Sind diese Voraussetzungen erfüllt, ist für die Anwendung von Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 noch zu prüfen, ob der betroffene türkische Staatsangehörige seit einer bestimmten Zeit im Aufnahmemitgliedstaat seinen ordnungsgemäßen Wohnsitz hat (vgl. u.a. Urteil vom 7. Juli 2005, Aydinli, C-373/03, Slg. 2005, I-6181, Randnr. 29).

42 Die unter den beiden Gedankenstrichen des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 genannten Wohnzeiten setzen allerdings, da ihnen sonst jede praktische Wirksamkeit genommen würde, voraus, dass die Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers, die im Wege der Familienzusammenführung zu diesem in den Aufnahmemitgliedstaat ziehen dürfen, während dieser Zeiten ein entsprechendes Aufenthaltsrecht haben (vgl. Urteile Kadiman, Randnr. 29, und Bozkurt, Randnrn. 31 und 36). Wollte man ihnen ein solches Recht verweigern, würde dies nämlich die vom betroffenen Mitgliedstaat einem Familienangehörigen eines türkischen Wanderarbeitnehmers gegebene Erlaubnis, mit diesem zusammenzuziehen, ihrer Wirkung berauben und die dem Familienangehörigen mit der Erlaubnis eröffnete Möglichkeit, im Aufnahmemitgliedstaat zu wohnen, zunichte machen.

43 Demzufolge besitzt ein Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers, der wie Frau Pehlivan die beiden in Randnr. 40 dieses Urteils genannten Voraussetzungen erfüllt und seit mehr als drei Jahren seinen ordnungsgemäßen Wohnsitz im Aufnahmemitgliedstaat hat, im genannten Staat zwangsläufig ein auf der genannten Vorschrift unmittelbar beruhendes Aufenthaltsrecht.

44 Was das Kriterium des ordnungsgemäßen Wohnsitzes vor Ablauf des in Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 genannten anfänglichen Zeitraums von drei Jahren angeht, handelt es sich nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei den in den einzelnen Vorschriften des Beschlusses Nr. 1/80 verwendeten Begriffen um unionsrechtliche Begriffe, die in der Europäischen Union unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der in Rede stehenden Vorschriften und des Zusammenhangs, in den sie sich einfügen, einheitlich auszulegen sind, um deren homogene Anwendung in den Mitgliedstaaten sicherzustellen (vgl. u.a. Urteile vom 30. September 1997, Ertanir, C-98/96, Slg. 1997, I-5179, Randnr. 59, sowie vom 30. September 2004, Ayaz, C-275/02, Slg. 2004, I-8765, Randnrn. 39 und 40).

45 Das insbesondere durch Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 eingeführte System soll gemäß dem allgemeinen Zweck dieses Beschlusses, die im sozialen Bereich bestehende Regelung für die türkischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen zu verbessern, um schrittweise die Freizügigkeit der Arbeitnehmer herzustellen (vgl. u.a. Urteil vom 16. März 2000, Ergat, C-329/97, Slg. 2000, I-1487, Randnr. 43), für Voraussetzungen sorgen, die die Familienzusammenführung im Aufnahmemitgliedstaat erleichtern. In der ersten Zeit, d. h. vor Ablauf des in Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich genannten anfänglichen Zeitraums von drei Jahren, sollen nach dieser Vorschrift die Beschäftigung und der Aufenthalt des türkischen Arbeitnehmers, der sich bereits ordnungsgemäß in dem Aufnahmemitgliedstaat aufhält, durch die Anwesenheit seiner Familienangehörigen gefördert werden. Danach soll nach dem zweiten Gedankenstrich dieser Vorschrift die Stellung der Familienangehörigen des türkischen Wanderarbeitnehmers dadurch gefestigt werden, dass ihnen selbst Zugang zum Arbeitsmarkt dieses Mitgliedstaats gewährt wird, damit sie sich eine gegenüber der Stellung des Wanderarbeitnehmers selbständige Stellung aufbauen können und auf diese Weise eine nachhaltige Integration der Familie im Aufnahmemitgliedstaat erreicht wird (vgl. Urteil Bozkurt, Randnrn. 33 und 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

46 Der Gerichtshof hat daraus gefolgert, dass der Familienangehörige grundsätzlich – vorbehaltlich berechtigter Gründe – tatsächlich mit dem Wanderarbeitnehmer zusammenwohnen muss, solange er nicht selbst das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt hat, d. h. bis zum Ablauf des nach Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 vorgesehenen Zeitraums von drei Jahren (vgl. Urteil Bozkurt, Randnr. 35). Wie der Gerichtshof in den Randnrn. 42 und 44 des Urteils Kadiman festgestellt hat, gilt etwas anderes nur dann, wenn objektive Gegebenheiten es rechtfertigen, dass der türkische Wanderarbeitnehmer und sein Familienangehöriger im Aufnahmemitgliedstaat nicht zusammenleben.

47 Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass nach dem grundlegenden Sinn und Zweck des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 die Familienzusammenführung, die der Grund für die Einreise des Familienangehörigen in den Aufnahmemitgliedstaat war, dadurch konkret zum Ausdruck kommen muss, dass sich der Familienangehörige bei dem Arbeitnehmer durchgehend aufhält, d.h. mit ihm zusammenlebt, bis er sich nach Ablauf von drei Jahren eine von seinem Elternteil, der ihm die Integration in den Aufnahmemitgliedstaat ermöglicht hat, unabhängige Existenz aufbauen kann (vgl. Urteil Ergat, Randnr. 36).

48 Ferner hat der Gerichtshof Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 dahin ausgelegt, dass diese Vorschrift es dem Aufnahmemitgliedstaat nicht verwehrt, das Aufenthaltsrecht des Familienangehörigen in den ersten drei Jahren an Bedingungen zu knüpfen, durch die gewährleistet werden kann, dass die Anwesenheit des Familienangehörigen in seinem Hoheitsgebiet Sinn und Zweck des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 entspricht (Urteil Kadiman, Randnr. 33).

49 Um die genaue Tragweite dieser Auslegung zu bestimmen, ist die Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 zugrunde liegende Systematik zu berücksichtigen, wie sie von den Vertragsparteien festgelegt wurde.

50 Dazu ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs eindeutig, dass zum einen die erstmalige Zulassung der Einreise in einen Mitgliedstaat im Fall eines Familienangehörigen eines bereits dem regulären Arbeitsmarkt dieses Staates angehörenden türkischen Arbeitnehmers grundsätzlich dem nationalen Recht dieses Staates unterliegt, dessen Zuständigkeit durch die dem Betroffenen von den zuständigen nationalen Behörden gewährte Erlaubnis zum Ausdruck kommt, zu diesem Arbeitnehmer zu ziehen (vgl. Urteil Ayaz, Randnrn. 34 und 35).

51 Zum anderen sind die Mitgliedstaaten nach Ablauf des nach Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 vorgesehenen anfänglichen Zeitraums von drei Jahren nicht mehr berechtigt, den Aufenthalt eines Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers im Inland von irgendwelchen Voraussetzungen abhängig zu machen (vgl. Urteile Ergat, Randnr. 38, und vom 11. November 2004, Cetinkaya, C-467/02, Slg. 2004, I-10895, Randnr. 30).

52 Hinsichtlich der Zwischenzeit hat der Aufnahmemitgliedstaat in den drei Jahren ab der Einreise des Familienangehörigen in diesen Staat bestimmte Befugnisse zur Regelung des Aufenthalts des Betroffenen, die jedoch nicht unbegrenzt sind.

53 Insbesondere ergibt sich aus dem Wortlaut von Randnr. 33 des Urteils Kadiman, dass der Aufnahmemitgliedstaat den Aufenthalt eines Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers nur von Voraussetzungen abhängig machen darf, die die vollständige Einhaltung des Ziels des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 gewährleisten sollen, wobei er darauf zu achten hat, dass der Betroffene in seinem Gebiet nicht unter Missachtung des in Randnr. 45 des vorliegenden Urteils genannten Sinns und Zwecks dieser Vorschrift wohnt.

54 Da die Familienangehörigen des betroffenen türkischen Arbeitnehmers in den ersten drei Jahren grundsätzlich und vorbehaltlich einer günstigeren Regelung wie der nach Art. 14 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 nicht berechtigt sind, durch die Aufnahme einer Beschäftigung ein selbständiges Leben zu führen, ist ihr Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat während dieser Zeit allein durch die Familienzusammenführung gerechtfertigt, die dem türkischen Arbeitnehmer, dessentwegen sie in diesen Staat einreisen konnten, die Möglichkeit bietet, sich dort zusammen mit seinen Familienangehörigen aufzuhalten.

55 Demzufolge kann der Aufnahmemitgliedstaat zu Recht verlangen, dass der Familienangehörige in den ersten drei Jahren weiterhin tatsächlich bei dem betroffenen türkischen Wanderarbeitnehmer wohnt.

56 Dieser Mitgliedstaat darf jedoch insoweit keine andere Regelung erlassen oder andere Bedingungen aufstellen als die, die im Beschluss Nr. 1/80 vorgesehen sind. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs folgt nämlich sowohl aus dem Vorrang des Unionsrechts als auch aus der unmittelbaren Wirkung einer Bestimmung wie Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80, dass es den Mitgliedstaaten nicht gestattet ist, den Inhalt des Systems zur schrittweisen Integration türkischer Staatsangehöriger im Aufnahmemitgliedstaat einseitig zu verändern, so dass sie keine Maßnahmen ergreifen können, die den Rechtsstatus beeinträchtigen könnten, der solchen Staatsangehörigen nach dem Recht der Assoziation EWG–Türkei ausdrücklich zuerkannt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Juni 2000, Eyüp, C-65/98, Slg. 2000, I-4747, Randnrn. 40 und 41, vom 19. November 2002, Kurz, C-188/00, Slg. 2002, I-10691, Randnrn. 66 bis 68, sowie vom 4. Februar 2010, Genc, C-14/09, Slg. 2010, I-0000, Randnrn. 36 bis 38).

57 Dies ist jedoch gerade der Fall bei einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren. Die Regelung in Abschnitt B2/8.3 Vc 2000 schreibt dem Familienangehörigen des türkischen Wanderarbeitnehmers keineswegs bloß vor, dass er mit diesem in den ersten drei Jahren seines Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat tatsächlich zusammenleben muss, sondern stellt auch die Regel auf, dass allein die Tatsache, dass das volljährige Kind heiratet oder eine Beziehung eingeht, als Auflösung der tatsächlichen Familiengemeinschaft gilt. Demzufolge sind die nationalen Behörden nach dieser Regelung berechtigt, dem Familienangehörigen, der sich in einer solchen Situation befindet, ohne Weiteres die Aufenthaltserlaubnis zu entziehen, selbst wenn er weiterhin mit diesem Arbeitnehmer zusammenwohnt.

58 Eine derartige Regelung geht offensichtlich über den Rahmen der Maßnahmen hinaus, die der Aufnahmemitgliedstaat gemäß dem Beschluss Nr. 1/80 ergreifen darf. Bedingungen wie die in der vorstehenden Randnummer genannten sind in Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80, der gerade allgemein und frei von Bedingungen formuliert ist, keineswegs vorgesehen und werden auch nicht durch Sinn und Zweck gedeckt, die für den Erlass dieser Vorschrift bestimmend waren.

59 Was insbesondere die Situation eines Familienangehörigen wie der Klägerin des Ausgangsverfahrens angeht, so hat Frau Pehlivan nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts seit ihrer Einreise in die Niederlande im Jahr 1999 und bis zum 1. April 2005, als sie den Familienwohnsitz aufgab, um einen neuen Wohnsitz zu nehmen, zu keiner Zeit die häusliche Gemeinschaft mit ihren Eltern, die sich im Aufnahmemitgliedstaat ordnungsgemäß aufgehalten haben und von denen zumindest einer dem regulären Arbeitsmarkt dieses Staates angehörte, aufgegeben und getrennt von ihnen gewohnt.

60 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Angaben ergibt sich somit, dass sich Frau Pehlivan über einen ununterbrochenen Zeitraum von mehr als drei Jahren in vollem Einklang mit Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 und dem dieser Vorschrift zugrunde liegenden Zweck, der Familienzusammenführung, im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat.

61 Unter diesen Umständen hat Frau Pehlivan stets einen ordnungsgemäßen Wohnsitz in den Niederlanden gehabt. Die Ehe, die sie vor Ablauf der nach dem ersten Gedankenstrich der genannten Vorschrift vorgesehenen dreijährigen Frist geschlossen hat, hat daher unter den Umständen des Ausgangsverfahrens keinerlei Einfluss auf ihr Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat, weil die Eheschließung im vorliegenden Fall nicht zu einer Beendigung ihres tatsächlichen Zusammenlebens mit dem türkischen Arbeitnehmer geführt hat, durch den sie im Rahmen der Familienzusammenführung in diesen Staat einreisen durfte.

62 Diese Auslegung steht im Übrigen im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach ein Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers, der die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 erfüllt, die ihm nach dieser Vorschrift zustehenden Rechte nur in zwei Fällen verlieren kann, wenn entweder die Anwesenheit des türkischen Migranten im Aufnahmemitgliedstaat wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne von Art. 14 Abs. 1 desselben Beschlusses darstellt oder der Betroffene diesen Staat für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen hat (vgl. u. a. Urteil Bozkurt, Randnr. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

63 Daraus folgt insbesondere, dass– wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat und entgegen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung – die Tatsache, dass der Betroffene zum fraglichen Zeitpunkt volljährig ist, keinen Einfluss auf die von ihm nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 erworbenen Rechte hat (vgl. in diesem Sinne u.a. Urteile Ergat, Randnrn. 26 und 27, sowie vom 16. Februar 2006, Torun, C-502/04, Slg. 2006, I-1563, Randnr. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

64 All diese Gründe führen zu der Schlussfolgerung, dass unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die Eheschließung eines Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers vor Ablauf der nach Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 vorgesehenen dreijährigen Frist keinen Einfluss auf die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts des Familienangehörigen hat, wenn er während dieser gesamten Zeit tatsächlich mit diesem Arbeitnehmer zusammenwohnt. Der betroffene Mitgliedstaat war daher im vorliegenden Fall nicht berechtigt, das Aufenthaltsrecht in Frage zu stellen, das die Klägerin des Ausgangsverfahrens auf das Unionsrecht stützt. Es ist Sache der nationalen Gerichte, dieses Recht uneingeschränkt anzuwenden und die Rechte, die es den Einzelnen verleiht, zu schützen, indem sie jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts außer Anwendung lassen (vgl. Urteile Eyüp, Randnr. 42, und Kurz, Randnr. 69).

65 Schließlich ist die in der vorstehenden Randnummer dargelegte Auslegung mit den Anforderungen des Art. 59 des am 23. November 1970 unterzeichneten Zusatzprotokolls nicht unvereinbar. Aus ähnlichen Gründen wie denen, die der Gerichtshof in den Randnrn. 62 bis 67 des Urteils vom 18. Juli 2007, Derin (C-325/05, Slg. 2007, I-6495), in Randnr. 21 des Urteils vom 4. Oktober 2007, Polat (C-349/06, Slg. 2007, I-8167), und in Randnr. 45 des Urteils Bozkurt dargelegt hat, ist nämlich angesichts der erheblichen Unterschiede in der jeweiligen Rechtsstellung die Situation eines Familienangehörigen eines türkischen Wanderarbeitnehmers mit der eines Familienangehörigen eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats nicht zu vergleichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Januar 2010, Bekleyen, C-462/08, Slg. 2010, I-0000, Randnrn. 37, 38 und 43).

66 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass

- diese Vorschrift einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der ein Familienangehöriger eines bereits dem regulären Arbeitsmarkt dieses Staates angehörenden türkischen Wanderarbeitnehmers, dem ordnungsgemäß die Genehmigung erteilt worden war, zu Letzterem zu ziehen, die nach dieser Vorschrift im Rahmen der Familienzusammenführung vorgesehenen Rechte allein deshalb, weil er nach Eintritt der Volljährigkeit geheiratet hat, verliert, obwohl er während der ersten drei Jahre seines Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat bei diesem Arbeitnehmer wohnen bleibt;

- ein türkischer Staatsangehöriger, der wie die Klägerin des Ausgangsverfahrens unter die genannte Vorschrift fällt, ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat auf der Grundlage dieser Vorschrift geltend machen kann, auch wenn er vor Ablauf der in dem genannten Abs. 1 erster Gedankenstrich vorgesehenen dreijährigen Frist geheiratet hat, sofern er während dieser gesamten Zeit tatsächlich mit dem türkischen Wanderarbeitnehmer zusammenwohnt, durch den er im Rahmen der Familienzusammenführung in diesen Mitgliedstaat einreisen durfte.

67 Aufgrund der Antwort auf die erste Frage erübrigt sich die Beantwortung der übrigen Fragen des vorlegenden Gerichts. [...]

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 des durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation ist dahin auszulegen, dass

- diese Vorschrift einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der ein Familienangehöriger eines bereits dem regulären Arbeitsmarkt dieses Staates angehörenden türkischen Wanderarbeitnehmers, dem ordnungsgemäß die Genehmigung erteilt worden war, zu Letzterem zu ziehen, die nach dieser Vorschrift im Rahmen der Familienzusammenführung vorgesehenen Rechte allein deshalb, weil er nach Eintritt der Volljährigkeit geheiratet hat, verliert, obwohl er während der ersten drei Jahre seines Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat bei diesem Arbeitnehmer wohnen bleibt;

- ein türkischer Staatsangehöriger, der wie die Klägerin des Ausgangsverfahrens unter die genannte Vorschrift fällt, ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat auf der Grundlage dieser Vorschrift geltend machen kann, auch wenn er vor Ablauf der in dem genannten Abs. 1 erster Gedankenstrich vorgesehenen dreijährigen Frist geheiratet hat, sofern er während dieser gesamten Zeit tatsächlich mit dem türkischen Wanderarbeitnehmer zusammenwohnt, durch den er im Rahmen der Familienzusammenführung in diesen Mitgliedstaat einreisen durfte.