SG Köln

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Zitieren als:
SG Köln, Beschluss vom 17.01.2011 - S 20 AS 80/11 ER [= ASYLMAGAZIN 2011, S. 270 f.] - asyl.net: M18674
https://www.asyl.net/rsdb/M18674
Leitsatz:

Anspruch auf Sozialgeld bei einer Fiktionsbescheinigung gemäß § 81 Abs. 4 AufenthG bzw. einem Visum. Die fehlende Erwerbsberechtigung ("Erwerbstätigkeit nicht gestattet") steht einer fehlenden Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 28 SGB II gleich.

Schlagwörter: SGB II, Sozialgeld, vorläufiger Rechtsschutz, einstweilige Anordnung, erwerbsfähig, Fiktionswirkung, Bedarfsgemeinschaft, Familienzusammenführung, Visum, gewöhnlicher Aufenthalt,
Normen: SGB II § 28 Abs. 1, SGB II § 7 Abs. 1 S. 1, SGB II § 8 Abs. 1, SGB II § 8 Abs. 2, AufenthG § 81 Abs. 4, SGB II § 7 Abs. 2 S. 1, SGB II § 1 Abs. 1 S. 2, SGB II § 7 Abs. 1 S. 2, SGB II § 30 Abs. 3 S. 2
Auszüge:

[...]

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruches (d.h. eines materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird) sowie das Vorliegen des Anordnungsgrundes (d.h. der Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten) voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bzw. die besondere Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO),

Die Antragstellerin hat eine Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Insoweit kann dahinstehen, ob sie einen Anspruch nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II i.V.m. §§ 19, 20 SGB II geltend machen kann. Danach erhalten Leistungen nach diesen Vorschriften Personen, die u.a. erwerbsfähig sind. Die Erwerbsfähigkeit ist in § 8 SGB II geregelt. Nach deren Abs. 2 können Ausländer nur erwerbstätig und erwerbsfähig nach Maßgabe des Abs. 1 sein, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte. Die Antragstellerin verfügt aber zurzeit über keine Erlaubnis, eine Erwerbstätigkeit in der Bundesrepublik aufzunehmen. Ihre Fiktionsbescheinigung enthält vielmehr ausdrücklich die Bestimmung, dass eine Erwerbstätigkeit nicht gestattet ist. Ob in einem solchen Fall die 2. Alternative des § 8 Abs. 2 SGB II Anwendung findet und zu prüfen ist, ob gleichwohl der Antragstellerin die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt werden könnte, ist bislang in der Rechtsprechung nicht abschließend entschieden (vgl. dazu ablehnend LSG Hamburg, Urteil vom 24.06.2010, L 5 AS 67/07, LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27.01.2010, L 29 AS 1820/09 B ER, www.juris.de; vgl. aber Hinweise der Bundesagentur zu § 8 SGB, Ziffer 2.4.1).

Dies bedarf hier aber keiner Entscheidung, da jedenfalls die Bewilligung von Sozialgeld nicht ausgeschlossen ist.

Nach § 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II erhalten nämlich auch Personen Leistungen, die mit erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Nicht erwerbsfähige Angehörige, die mit erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, erhalten nach § 28 Abs. 1 SGB II Sozialgeld, soweit sie - wie die Antragstellerin - nicht Anspruch auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches haben. Die Antragstellerin lebt - wovon auch die Antragsgegnerin ausgeht - mit ihrem Ehemann in einer Bedarfsgemeinschaft. Sie ist zwar nicht erwerbsunfähig im gesundheitlichen Sinne nach § 8 Abs. 1 SGB II. Der Gesetzgeber hat aber den Ausschluss der Erwerbstätigkeit nach 8 Abs. 2 SGB II unter dem Begriff der Erwerbsfähigkeit geregelt. Daher kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass ein Anspruch auf Sozialgeld nur dann besteht, wenn der Hilfebedürftige im Sinne von § 8 Abs. 1 SGB II nicht erwerbsfähig ist (vgl. im Ergebnis s auch SG Nürnberg, Urteil vom 26.08.2009, S 20 AS 906/09,www.juris.de; SG Köln, Beschluss vom 05.01.2011, S 15 AS 4859/10 ER).

Ihr Anspruch ist auch nicht nach § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB II ausgeschlossen. Danach sind von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen Ausländer und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts (Nr. 1), Ausländer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, (Nr. 2) und Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes (Nr. 3). Alle Ausschlusstatbestände liegen hier aber nicht vor. Die ersten drei Monate sind abgelaufen. Das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin ergibt sich aus der Fiktionsbescheinigung, die dem zum Zwecke der Familienzusammenführung, also nicht zur Arbeitssuche ausgestellten Visum nachgefolgt ist. Die Voraussetzungen des § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes liegen ebenfalls nicht vor.

Gegen die Annahme, dass die fehlende Erwerbsfähigkeit nach § 8 Abs. 2 SGB II dem Anspruch auf Sozialgeld nicht entgegensteht, spricht nicht die von der Antragsgegnerin angeführte Kommentierung. Dort stützt sieh Birk in LPK-SGB II § 28 Rdnr. 6 auf die auch von der Antragsgegnerin erwähnte klare Formulierung des § 7 Abs. 1 Satz 2 HS 1 SGB II "Leistungen nach diesem Buch". Diese Formulierung fand sich jedoch in der Ursprungsfassung des 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II, als für Ausländer noch bestimmt war, dass sie "Leistungen nach diesem Buch" nur dann erhalten, wenn die Voraussetzungen des § 8 Abs. 2 SGB II vorliegen. Für diese bis zum 31.03.2006 geltende Bestimmung hat sich auch das BSG dieser Auffassung angeschlossen (Urteil vom 21.12.2009, B 14 AS 66/08 R). Diese Regelung hat der Gesetzgeber aber durch die genannten Ausnahmeregelungen der Nr. 1 bis 3 ersetzt, die hier gerade nicht vorliegen. Auch wenn daher der Auffassung gefolgt wird, dass die Ausnahmeregelungen auch für die Hilfebedürftigen Anwendung finden, die Sozialgeld in der Bedarfsgemeinschaft mit einem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen beziehen wollen (vgl. etwa LSG NRW, Urteil vom 28.07.2008, L 19 AS 13/08), würden im Falle der Antragstellerin keine Ausschlussgründe eingreifen.

Die Antragstellerin hat auch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Nach § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB II hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Die Antragstellerin selbst will unzweifelhaft im Bundesgebiet bleiben. Auch ihre aufenthaltsrechtliche Situation steht der Annahme des gewöhnlichen Aufenthalts nicht entgegen. Die Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 4 des Aufenthaltsgesetzes bewirkt, dass der durch das Visum zur Familienzusammenführung erlaubte Aufenthalt weiterhin erlaubt ist. Bis zu einer Entscheidung über einen Aufenthaltstitel kann - auch nach der telefonischen Auskunft des Ausländeramtes - davon ausgegangen werden, dass die Fiktionsbescheinigung wie auch schon in der Vergangenheit verlängert wird und dass daher gegenwärtig von der für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts notwendigen Zukunftsoffenheit des Aufenthalts ausgegangen werden kann (vgl. SG Nürnberg, Urteil vom 26.08.2009, S 20 AS 906/09, www.juris.de; SG Köln, Beschluss vom 05.01.2011, S 15 A 4859/10 ER).

Wenn daher nach Auffassung der Kammer eher von einem Anspruch der Antragstellerin auf Bewilligung von Sozialgeld ausgegangen werden muss, würde aber ohnehin, auch bei Annahme jedenfalls offener Erfolgsaussichten bei der dann vorzunehmenden Folgenabwägung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05) das Interesse der Antragstellerin am Erlass der Regelungsanordnung überwiegen. Bei der Folgenabwägung sind die grundrechtlichen Belange der Antragstellerin umfassend in die Abwägung einzubeziehen. Die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende dienen der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens. Diese Sicherstellung ist eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, die aus dem Gebot zum Schutz der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot folgt (vgl. BVerfG Beschluss vom 12.05.2005).

Die Dauer der Verpflichtung hat die Kammer nicht nur auf die Zeit der Gültigkeit der Fiktionsbescheinigung, sondern auf die Zeit des Bewilligungsbescheides vom 23.12.2010 beschränkt. Dies erfolgt im Hinblick darauf, dass das Ausländeramt nach wie vor prüft, ob der Antragstellerin ein Aufenthaltstitel zusteht oder ob dieser zu verweigern ist, weil sie nicht mehr - wie bei der Einreise - den Unterhalt durch ihren Ehemann nachweisen kann, denn dieser ist selbst hilfebedürftig geworden. Es kann davon ausgegangen werden, dass in die Entscheidung des Ausländeramts einfließen wird, dass die Antragstellerin schwanger ist und Anfang April mit ihrem Ehemann ein Kind erwartet. Die von der Kammervorsitzende dazu gehörte Mitarbeiterin des Ausländeramts hat dargelegt, dass im Allgemeinen jedenfalls bis zur Entbindung die Fiktionsbescheinigung verlängert wird. Das Gericht geht davon aus, dass die Antragsgegnerin der Antragstellerin auch nach Verlängerung der Fiktionsbescheinigung weiterhin Sozialgeld gewährt, sofern keine wesentliche Änderung in den Verhältnissen eintritt (vgl. LSG NRW, Beschluss vom 17.042008, L 7 B 70/08 AS ER). [...]