EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 05.05.2011 - Kommission gg. Deutschland, C-206/10 - asyl.net: M18543
https://www.asyl.net/rsdb/M18543
Leitsatz:

Verurteilung Deutschlands wegen mittelbarer Diskriminierung von Wanderarbeitnehmern (Arbeitnehmerfreizügigkeit) bei der Gewährung von Leistungen für Blinde, Gehörlose und Behinderte, da für die Leistungsgewährung auf den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt abgestellt wird.

Schlagwörter: Vertragsverletzungsverfahren, Sozialleistungen, gewöhnlicher Aufenthalt, Leistungen bei Krankheit, Gleichheitsgrundsatz, Diskriminierung, Diskriminierungsverbot, freizügigkeitsberechtigt, Arbeitnehmer, Wanderarbeitnehmer
Normen: VO 1612/68/EWG Art. 7 Abs. 2, VO 1408/71/EWG Art. 4 Abs. 1 Bst. a
Auszüge:

[...]

Zu dem Verstoß gegen die Verordnung Nr. 1612/68

Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

32 Die Kommission macht geltend, dass die Gewährung der fraglichen Leistungen allein aufgrund des Wohnsitzes in dem betreffenden Land nicht gerechtfertigt sei. Unter Art. 7 der Verordnung Nr. 1612/68 fielen nämlich alle Vergünstigungen, die ein Mitgliedstaat seinen Bürgern wegen ihrer objektiven Arbeitnehmereigenschaft oder einfach wegen ihres Wohnorts im Inland gewähre, so dass diese Vergünstigungen Grenzgängern ebenso wie jedem anderen Arbeitnehmer, der im Beschäftigungsstaat wohne, zustünden.

33 Die Bundesrepublik Deutschland trägt lediglich vor, die Verordnungen Nr. 1612/68 und Nr. 1408/71 hätten unterschiedliche Anwendungsbereiche und gälten unabhängig voneinander.

Würdigung durch den Gerichtshof

34 Es steht fest, dass die Leistungen, die die Länder Blinden, Gehörlosen und Behinderten gewähren, eine soziale Vergünstigung im Sinne des Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68 darstellen.

35 Die Bundesrepublik Deutschland bestreitet insoweit nicht, dass die Gewährung dieser Leistungen davon abhängt, dass der Empfänger seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt in dem betreffenden Land hat.

36 Nach ständiger Rechtsprechung verbietet der Grundsatz der Gleichbehandlung, der in Art. 7 der Verordnung Nr. 1612/68 niedergelegt ist, nicht nur offensichtliche Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle verschleierten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungskriterien tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen (vgl. insbesondere Urteile vom 27. November 1997, Meints, C-57/96, Slg. 1997, I-6689, Randnr. 44, und vom 10. September 2009, Kommission/Deutschland, C-269/07, Slg. 2009, I-7811, Randnr. 53).

37 Eine Vorschrift des nationalen Rechts ist, sofern sie nicht objektiv gerechtfertigt ist und in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Zweck steht, als mittelbar diskriminierend anzusehen, wenn sie sich ihrem Wesen nach eher auf Wanderarbeitnehmer als auf inländische Arbeitnehmer auswirken kann und folglich die Gefahr besteht, dass sie Wanderarbeitnehmer besonders benachteiligt (vgl. insbesondere Urteile Meints, Randnr. 45, und Kommission/Deutschland, Randnr. 54).

38 Dies trifft auf die in den streitigen Rechtsvorschriften enthaltene Wohnsitzvoraussetzung für die Gewährung der Leistungen an Blinde, Gehörlose und Behinderte zu, deren Erfüllung für deutsche Arbeitnehmer einfacher ist als für Arbeitnehmer anderer Mitgliedstaaten als der Bundesrepublik Deutschland.

39 Zum Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland, die Verordnungen Nr. 1612/68 und Nr. 1408/71 hätten unterschiedliche Geltungsbereiche, genügt der Hinweis, dass die beiden Verordnungen zwar nicht denselben persönlichen Geltungsbereich haben, dass Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68, da diese für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer allgemeine Bedeutung hat, aber auf soziale Vergünstigungen Anwendung finden kann, die zugleich in den besonderen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fallen (Urteile vom 10. März 1993, Kommission/Luxemburg, C-111/91, Slg. 1993, I-817, Randnrn. 20 und 21, und vom 12. Mai 1998, Martínez Sala, C-85/96, Slg. 1998, I-2691, Randnr. 27).

40 Die von der Kommission erhobene Rüge eines Verstoßes gegen die Verordnung Nr. 1612/68 ist daher begründet.

41 Nach alledem hat die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Titel III Kapitel 1 der Verordnung Nr. 1408/71 und aus Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68 verstoßen, dass sie die Gewährung von Leistungen nach den streitigen Rechtsvorschriften an Personen, für die die Bundesrepublik Deutschland der zuständige Mitgliedstaat ist, von der Voraussetzung abhängig macht, dass die Begünstigten ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in dem betreffenden Land haben. [...]