OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.04.2011 - OVG 12 B 46.09 - asyl.net: M18525
https://www.asyl.net/rsdb/M18525
Leitsatz:

Vorlage an den EuGH zur Klärung, ob unter den Begriff des freien Dienstleistungsverkehrs im Sinne des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls auch die passive Dienstleistungsfreiheit fällt und ggf. der entsprechende assoziationsrechtliche Schutz aus der Stillhalteklausel sich auch auf türkische Staatsangehörige erstreckt, die nicht zur Inanspruchnahme einer konkreten Dienstleistung, sondern nur zum Besuch von Verwandten einreisen wollen.

Schlagwörter: Vorabentscheidungsverfahren, Vorlagebeschluss, EuGH, Dienstleistungsfreiheit, türkische Staatsangehörige, Kurzaufenthalt, Besuchsvisum, Schengen-Visum, Visumspflicht, Stillhalteklausel
Normen: AEUV Art. 267, ZP Art. 41 Abs. 1, AufenthG § 4 Abs. 1 S. 1, VO 539/2001/EG Art. 1 Abs. 1, AEUV Art. 56
Auszüge:

[...]

Das Verfahren wird ausgesetzt.

Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgenden Fragen eingeholt:

1. Fällt unter den Begriff des freien Dienstleistungsverkehrs im Sinne des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zu dem Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei vom 23. November 1970 (Zusatzprotokoll) auch die passive Dienstleistungsfreiheit?

2. Für den Fall, dass Frage 1 zu bejahen ist: Erstreckt sich der assoziationsrechtliche Schutz der passiven Dienstleistungsfreiheit nach Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls auch auf türkische Staatsangehörige, die - wie die Klägerin - nicht zur Inanspruchnahme einer konkreten Dienstleistung, sondern zum Besuch von Verwandten für einen Aufenthalt bis zu drei Monaten in die Bundesrepublik Deutschland einreisen wollen und sich auf die bloße Möglichkeit der Empfangnahme von Dienstleistungen im Bundesgebiet berufen? [...]

Die Entscheidung über die zulässige Berufung hängt von der Auslegung des Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll ab. Der auf ein Recht zur visumsfreien Einreise gerichtete Hauptantrag der Klägerin kann nur dann Erfolg haben, wenn die nach der derzeitigen Rechtslage bestehende Visumspflicht für türkische Staatsangehörige eine neue Beschränkung im Sinne des Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll darstellt, die der Klägerin nicht entgegengehalten werden kann. Insoweit steht in Frage, ob unter den Begriff des freien Dienstleistungsverkehrs im Sinne der Stillhalteklausel auch die von der Klägerin allein in Anspruch genommene passive Dienstleistungsfreiheit fällt. Sollte dies zu bejahen sein, steht weiter in Frage, ob auch türkische Staatsangehörige, die - wie die Klägerin - zum Besuch von Verwandten für einen Aufenthalt bis zu drei Monaten in das Bundesgebiet einreisen wollen, als Dienstleistungsempfänger anzusehen sind. Über den auf Erteilung eines Besuchsvisums gerichteten Hilfsantrag der Klägerin kann der Senat erst dann entscheiden, wenn sich der Hauptantrag als unbegründet erweist.

1. Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die Klägerin nach derzeit geltendem Recht visumspflichtig ist. Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 sowie Anhang I der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 des Rates vom 15. März 2001 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumspflicht befreit sind (ABl EG Nr. L 81, S. 1), bedürfen türkische Staatsangehörige für die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich der vorherigen Erteilung eines Visums.

2. Ein Recht der Klägerin auf visumsfreie Einreise kann sich danach allein aus Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls ergeben. Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll sieht vor, dass die Vertragsparteien untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des - hier allein in Betracht kommenden - freien Dienstleistungsverkehrs einführen werden. Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hat die Stillhalteklausel unmittelbare Wirkung in den Mitgliedstaaten; türkische Staatsangehörige, die in den Anwendungsbereich der Bestimmung fallen, können sich vor den nationalen Gerichten auf die dadurch verliehenen Rechte berufen (EuGH, Urteil vom 19. Februar 2009 - Rs. C-228/06 [Soysal] - InfAuslR 2009, 135 Rn. 45). Dabei kommt der Stillhalteklausel keine materiell-rechtliche Wirkung zu. Sie verleiht einem türkischen Staatsangehörigen weder ein eigenständiges Aufenthaltsrecht noch ein Recht zur Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates. Die Klausel verbietet es jedoch, neue Maßnahmen einzuführen, die die Ausübung der geschützten Dienstleistungsfreiheit in einem Mitgliedstaat strengen Voraussetzungen unterwirft, als sie zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls in dem betreffenden Mitgliedstaat galten (EuGH, Urteil vom 19. Februar 2009, a.a.O., Rn. 47 m.w.N.). Als verfahrensrechtliche Vorschrift legt die Stillhalteklausel damit in zeitlicher Hinsicht fest, welche Bestimmungen zur Anwendung kommen, wenn ein türkischer Staatsangehöriger in einem Mitgliedstaat von der Dienstleistungsfreiheit Gebrauch machen will (vgl. zur Ausübung der Niederlassungsfreiheit: EuGH, Urteil vom 20. September 2007 - Rs. C-16/05 [Tum und Dari] - InfAuslR 2007, 428 Rn. 55).

Nach der Rechtslage bei Inkrafttreten des Zusatzprotokolls im Bundesgebiet am 1. Januar 1973 unterlag der von der Klägerin beabsichtigte Besuchsaufenthalt nicht der Visumspflicht. Türkische Staatsangehörige waren nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes (DVAuslG) vom 10. September 1965 (BGBl I S. 1341) in der Fassung vom 13. September 1972 (BGBl I S. 1743) i.V.m. der dazu erlassenen Anlage (sog. Positivliste) nur dann verpflichtet, vor der Einreise eine Aufenthaltserlaubnis in der Form des Sichtvermerks einzuholen, wenn sie im Bundesgebiet eine Erwerbstätigkeit ausüben wollten. Für sonstige Aufenthalte konnten sie visumsfrei einreisen. Eine allgemeine Visumspflicht ist für türkische Staatsangehörige - durch Streichung der Türkei in der Anlage zur Verordnung - erst im Jahre 1980 mit der Elften Verordnung zur Änderung der DVAuslG vom 1. Juli 1980 (BGBl I S. 782) eingeführt worden. Eine Verfestigung der bis dahin geltenden Rechtslage zu Gunsten der Klägerin setzt voraus, dass die von ihr allein geltend gemachte Inanspruchnahme der passiven Dienstleistungsfreiheit in den Anwendungsbereich der Stillhalteklausel des Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll fällt und auch Besuchsaufenthalte der hier in Rede stehenden Art erfasst.

3. In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist bislang noch nicht ausdrücklich geklärt, ob sich der Schutz des freien Dienstleistungsverkehrs im Sinne des Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll auch auf die passive Dienstleistungsfreiheit erstreckt. In den im Zusammenhang mit der Stillhalteklausel ergangenen Entscheidungen zum freien Dienstleistungsverkehr musste sich der Gerichtshof dazu nicht verhalten. Die Entscheidungen in der Rechtssache Soysal (Urteil vom 19. Februar 2009, a.a.O., Rn. 46) und der Rechtssache Abatay (Urteil vom 21. Oktober - Rs. C-317/01 u.a. - InfAuslR 2004, 32 Rn. 104 ff.) betrafen jeweils Fälle der aktiven Dienstleistungsfreiheit.

Eine abschließende Stellungnahme zum assoziationsrechtlichen Schutz der passiven Dienstleistungsfreiheit lässt sich auch dem Urteil des Gerichtshofs vom 29. April 2010 (Rs. C-92/07, InfAuslR 2010, 270) nicht entnehmen lassen. Die Entscheidung, die in einem von der Europäischen Kommission eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren gegen die Niederlande ergangen ist, betraf die Erhebung von Gebühren für die Ausstellung oder Verlängerung von Aufenthaltserlaubnissen. Der Gerichtshof hat diese Gebühren sowohl an dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 9 des Assoziierungsabkommens, der Stillhalteklausel des Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll als auch den für türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen geltenden Regelungen in Art. 10 Abs. 1 und Art. 13 ARB 1/80 gemessen. Dabei hat er auf das Ziel des Assoziierungsabkommens verwiesen, die Lage der türkischen Staatsangehörigen durch die schrittweise Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und die Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs an die Lage der Unionsbürger anzunähern (Rn. 67). In diesem Zusammenhang wird in der Entscheidung zum einen auf die schrittweise Integration der türkischen Wanderarbeitnehmer abgestellt, zum anderen auf die Integration der türkischen Staatsangehörigen, die sich in einem Mitgliedstaat niederlassen oder dort Dienstleistungen anbieten (Rn. 68). Die letztgenannte Gruppe betrifft ersichtlich die türkischen Staatsangehörigen, die von der Niederlassungsfreiheit oder der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls Gebrauch machen wollen (vgl. auch Rn. 75). Dass der Gerichtshof insoweit allein die Erbringung von Dienstleistungen erwähnt, könnte darauf hindeuten, dass nur die aktive Dienstleistungsfreiheit unter den Begriff des freien Dienstleistungsverkehrs im Sinne des Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll fällt. Diese Auslegung erscheint indes nicht zwingend; insbesondere bestand in der Entscheidung für den Gerichtshof kein Anlass, ausdrücklich zur Einbeziehung der passiven Dienstleistungsfreiheit Stellung zu nehmen.

Für die gemeinschaftsrechtliche Gewährleistung der Dienstleistungsfreiheit in Art. 59 des EWG-Vertrages (nach Änderung: Art. 49 EG-Vertrag, jetzt: Art. 56 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV) ist in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hingegen geklärt, dass auch die passive Dienstleistungsfreiheit erfasst wird. Der Schutz des freien Dienstleistungsverkehrs im Gemeinschaftsrecht schließt die Freiheit der Leistungsempfänger ein, sich zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, ohne durch Beschränkungen darin gehindert zu werden (EuGH, Urteil vom 31. Januar 1984 - Rs. C-286/82 [Luisi und Carbone] - NJW 1984, 1288 Rn. 16; Urteil vom 2. Februar 1989 - Rs. C-186/87 [Cowan] - NJW 1989, 2183 Rn. 15; Urteil vom 24. November 1998 - Rs. C-274/96 [Bickel und Franz] - NStZ 1999, 315 Rn. 15; Urteil vom 19. Januar 1999 - Rs. C-348/96 [Calfa] - InfAuslR 1999, 165 Rn. 16; Urteil vom 17. Februar 2005 - Rs. C-215/03 [Oulane] - InfAuslR 2005, 126 Rn. 37). Bei einer der Begriffsbestimmung im Gemeinschaftsrecht entsprechenden Auslegung des Anwendungsbereichs von Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll wäre danach auch die Inanspruchnahme von Dienstleistungen von dem assoziationsrechtlichen Schutz der Dienstleistungsfreiheit erfasst. Für diese Auslegung könnte sprechen, dass der Gerichtshof bereits in seinem Urteil vom 21. Oktober 2003 in der Rechtssache Abatay (a.a.O., Rn. 111, 112) auf die einschlägigen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts verwiesen hat. Unter Bezugnahme auf den Zweck der Assoziation EWG-Türkei und den Wortlaut des Art. 14 des Assoziierungsabkommens, auf das sich das Zusatzprotokoll bezieht, hat er in der Entscheidung ausdrücklich klargestellt, dass die im Rahmen der Bestimmungen des EG-Vertrages über den freien Dienstleistungsverkehr geltenden Grundsätze so weit wie möglich auf türkische Staatsangehörige übertragen werden sollen, um zwischen den Vertragsparteien die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs zu beseitigen. Dies entspricht im Ergebnis der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum assoziationsrechtlichen Schutz der Niederlassungsfreiheit, die nach den Vorschriften des EG-Vertrages bestimmt wird (BVerwG, Urteil vom 26. Februar 2002 - 1 C 21/00 - BVerwGE, 116, 55 Rn. 10).

In der bislang vorliegenden Rechtsprechung und Literatur ist die Einbeziehung der passiven Dienstleistungsfreiheit streitig. Unter Hinweis auf die Begriffsbestimmung des Gemeinschaftsrechts wird überwiegend die Auffassung vertreten, dass die Stillhalteklausel des Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll sowohl die aktive als auch die passive Dienstleistungsfreiheit erfasse (vgl. VG München, Urteil vom 9. Februar 2011 - M 23 K 10.1983 - juris; VG Frankfurt, Urteil vom 22. Mai 2009 - 7 K 3732/08.F - InfAuslR 2009, 327; VG Berlin, Beschluss vom 25. Februar 2009 - VG 19 V 61.08 - juris; VG Darmstadt, Beschluss vom 28. Oktober 2005 - 8 G 1070/05 - InfAuslR 2006, 45; VGH Mannheim, Beschluss vom 15. Februar 2001 - 13 S 2500/00 - InfAuslR 2001, 262; Dienelt, ZAR 2009, 182, 183 f.; ders./Röseler, in: Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl. 2011, § 4 AufenthG Rn. 206 ff.; Westphal, InfAuslR 2009, 133, 134; Mielitz, NVwZ 2009, 276, 279; Gutmann, ZAR 2008, 5, 8; ders., in: GK-AufenthG, Art. 13 ARB 1/80 Rn. 54.1 unter Aufgabe der früheren Auffassung in InfAuslR 2000, 318; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 14 Rn. 13.4; Blechinger/Weißflog, Das neue Zuwanderungsrecht, Rn. 3.5.1.6.2). Gegen ein derartiges Verständnis von Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll wird allerdings eingewandt, dass eine Regelung in einem Gemeinschaftsabkommen nicht ohne weiteres mit einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts gleichgesetzt werden könne; die Einbeziehung der passiven Dienstleistungsfreiheit stehe zwar in Übereinstimmung mit dem freien Binnenmarkt der Gemeinschaft, sie widerspreche jedoch dem System und dem gegenwärtigen Stand des Assoziationsrechts (vgl. Hailbronner, NVwZ 2009, 760, 763 f.; ders., AuslR, Kommentar, D 5.1 Rn. 29; Armbruster, HTK-AuslR, Assoziationsabkommen EWG/Türkei, Art. 41 Zusatzprotokoll 01/2011 Nr. 2; Hecker, ZAR 2009, 142, 143; Welte, ZAR 2009, 249, 250/253).

4. Sollte die Frage zu 1. zu bejahen sein und unter den Begriff des freien Dienstleistungsverkehrs im Sinne des Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll auch die passive Dienstleistungsfreiheit fallen, ist für das Berufungsverfahren weiter entscheidungserheblich, ob auch türkische Staatsangehörige, die - wie die Klägerin - zum Besuch von Verwandten für einen Aufenthalt bis zu drei Monaten in die Bundesrepublik Deutschland einreisen wollen und sich auf die bloße Möglichkeit der Inanspruchnahme von Dienstleistungen berufen, vom Anwendungsbereich der Stillhalteklausel erfasst werden.

Die Frage, ob auch Einreise- und Aufenthaltsbegehren, die dem Besuch im Bundesgebiet lebender Familienangehöriger dienen, dem Schutz der passiven Dienstleistungsfreiheit unterliegen, ist in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs noch nicht geklärt. Die in den bereits vorgenannten, zum Gemeinschaftsrecht ergangenen Entscheidungen des Gerichtshofs anerkannten Fallkonstellationen betreffen touristische Aufenthalte, die Inanspruchnahme medizinischer Behandlungen sowie Studien- und Geschäftsreisen (EuGH, Urteil vom 31. Januar 1984, a.a.O., Rn. 16; vgl. zu weiteren Beispielen: Holoubek, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 49/50 Rn. 37). Soweit der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung darauf verweist, dass der freie Dienstleistungsverkehr die Freiheit der Dienstleistungsempfänger einschließe, sich zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, erscheint fraglich, ob auch der Besuch von Familienangehörigen "zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung" erfolgt. Anders als die bisher anerkannten Fallkonstellationen sind derartige Besuchsaufenthalte gerade nicht dadurch gekennzeichnet, dass sich der Betroffene in einen anderen Mitgliedstaat begibt, "um Dienstleistungen entgegenzunehmen" (so die ausdrückliche Formulierung in Art. 1 Abs. 1 der - inzwischen außer Kraft getretenen - Richtlinie 64/221/EWG). Für ein weitergehendes Verständnis des Inhalts der passiven Dienstleistungsfreiheit könnten allerdings die Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs in seinem Urteil vom 24. November 1998 in der Rechtssache Bickel und Franz (a.a.O., Rn. 15) sprechen. Nach dieser Entscheidung fallen alle Angehörigen der Mitgliedstaaten unter die passive Dienstleistungsfreiheit, die sich, ohne ein anderes gemeinschaftsrechtlich gewährleistetes Freiheitsrecht in Anspruch zu nehmen, in einen anderen Mitgliedstaat begeben und dort Dienstleistungen in Empfang nehmen wollen oder die Möglichkeit haben, diese in Empfang zu nehmen. Die bloße Möglichkeit der Empfangnahme von Dienstleistungen lässt sich auch bei familiären Besuchsaufenthalten nicht von vornherein verneinen.

Insbesondere die letztgenannte Entscheidung wird in der Literatur als Beleg für eine Anwendbarkeit der Stillhalteklausel auf Besuchsaufenthalte herangezogen. Da der Gerichtshof auch die Möglichkeit der Empfangnahme von Dienstleistungen anerkannt habe, sei für ein - in der angegriffenen Entscheidung vom Verwaltungsgericht gefordertes - "finales Element" kein Raum. Abzustellen sei allein auf die äußeren Umstände, die bei touristischen und Besuchsaufenthalten keine Unterschiede aufwiesen; ein Besuchsaufenthalt mit der Möglichkeit der Inanspruchnahme von Dienstleistungen unterliege der passiven Dienstleistungsfreiheit (vgl. Gutmann, in: GK-AufenthG, Art. 13 ARB 1/80 Rn. 54.4). Soweit eine Erstreckung des Verschlechterungsverbots auf Besuchsaufenthalte befürwortet wird, wird im Übrigen auf die praktischen Schwierigkeiten einer Trennung von touristischen Aufenthalten, die dem gemeinschaftsrechtlichen Begriff der passiven Dienstleistungsfreiheit unterfallen, und besuchsweisen Aufenthalten bei Verwandten verwiesen. Eine bereits bei Einreise vorzunehmende Differenzierung sei praktisch nicht durchführbar, da auch bei einem Besuch von Verwandten touristische Zwekke vorliegen könnten (Dienelt, ZAR 2009, 182, 185; Funke-Kaiser, in: GKAufenthG, § 14 Rn. 13.6).

In der bislang wohl überwiegenden Rechtsprechung und Literatur wird dagegen darauf verwiesen, dass der Schutzbereich der passiven Dienstleistungsfreiheit erst dann eröffnet sei, wenn die Einreise primär der wirtschaftlichen Inanspruchnahme von Dienstleistungen diene. Besuchsweise Aufenthalte bei Verwandten seien nicht vom Anwendungsbereich der Stillhalteklausel des Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll erfasst, da der Reisezweck in diesen Fällen nicht durch den Dienstleistungsempfang geprägt sei, sondern die Inanspruchnahme von Dienstleistungen lediglich eine untergeordnete - quasi zwangsläufige - Begleiterscheinung des eigentlichen Aufenthaltszwecks darstelle. Dabei wird mit der hier angegriffenen Entscheidung entweder auf ein der passiven Dienstleistungsfreiheit innewohnendes "finales Element" (OVG Bautzen, Beschluss vom 14. Dezember 2009 - 3 B 508/09 - juris; Mielitz, NVwZ 2009, 276, 278; Völker, Passive Dienstleistungsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1990, S. 168) oder auf den Hauptzweck der Einreise abgestellt (VG München, Urteil vom 9. Februar 2011 - M 23 K 10.1983 - juris; VGH Kassel, Beschluss vom 22. Januar 2010 - 3 B 2948/09 - juris; VG Frankfurt, Urteil vom 22. Mai 2009 - 7 K 3732/08.F - InfAuslR 2009, 327; VG Berlin, Beschluss vom 25. Februar 2009 - VG 19 V 61.08 - juris; VG Darmstadt, Beschluss vom 28. Oktober 2005 - 8 G 1070/05 - InfAuslR 2006, 45; Armbruster, HTK-AuslR, Assoziationsabkommen EWG/Türkei, Art. 41 Zusatzprotokoll 01/2011 Nr. 2; Welte, ZAR 2009, 249, 251; Hailbronner, NVwZ 2009, 760, 764). Soweit der Dienstleistungsempfang lediglich untergeordnete Begleiterscheinung des eigentlichen Aufenthaltszwecks sei, fehle es bereits an der erforderlichen Nachhaltigkeit der Inanspruchnahme der passiven Dienstleistungsfreiheit (VGH Kassel, Beschluss vom 22. Januar 2010, a.a.O.; vgl. zur Nachhaltigkeit bei der Ausübung des unionrechtlichen Freizügigkeitsrechts in den sog. Rückkehrerfällen auch BVerwG, Urteil vom 16. November 2010 - 1 C 17/09 - juris).

5. Die Einholung einer Vorabentscheidung zur Klärung der vorstehend aufgeworfenen Fragen erscheint schließlich nicht deshalb entbehrlich, weil die Visumspflicht für türkische Staatsangehörige auf geltendem Gemeinschaftsrecht beruht. Der Einwand der Beklagten, dass die Stillhalteklausel des Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll nur einseitige mitgliedstaatliche Maßnahmen verbiete und daher nicht zu einer einschränkenden Interpretation gemeinschaftsrechtlicher Einreisevorschriften verpflichte, ist bereits mit Blick auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Soysal (Urteil vom 19. Februar 2009, a.a.O., Rn. 58 f.) nicht überzeugend. Auch in diesem Verfahren stellte sich die Frage, ob eine auf der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 und damit auf sekundärem Gemeinschaftsrecht beruhende Visumspflicht eine "neue Beschränkung" des freien Dienstleistungsverkehrs im Sinne Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll darstellt. Dies ist vom Gerichtshof unter Hinweis auf den Vorrang der von der Gemeinschaft geschlossenen völkerrechtlichen Übereinkommen vor den Rechtsakten des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts eindeutig bejaht worden. Danach ist davon auszugehen, dass die Stillhalteklausel nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Gemeinschaft bindet, das Assoziationsrecht dem sekundären Gemeinschaftsrecht vorgeht und die Regelung der Visumspflicht in der EG-Visums-VO dem Verschlechterungsverbot unterliegt.