OVG Hamburg

Merkliste
Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 11.10.2010 - 3 Bf 112/10.Z - asyl.net: M18467
https://www.asyl.net/rsdb/M18467
Leitsatz:

Ein Folgeschutzgesuch, dass sich allein auf krankheitsbedingte Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 7 AufenthG stützt, löst die Sperrwirkung des § 10 Abs. 1 AufenthG nicht aus. Zur Bindunswirkung nach § 42 AsylVfG und Abgrenzung von inlands- und zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten.

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis, Abschiebungshindernis, Krankheit, Familieneinheit, Asylfolgeantrag, Zuständigkeit, Bindungswirkung, Sperrwirkung, Kosovo, Integration, faktischer Inländer, Verwurzelung, rechtliche Unmöglichkeit,
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5, GG Art. 2 Abs. 2 S. 1, AsylVfG § 42 S. 1, GG Art. 6 Abs. 1, AufenthG § 10 Abs. 1, AsylVfG § 13, AufenthG § 60 Abs. 7, AufenthG § 25 Abs. 3, EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

b) Im Verhältnis zwischen den Klägern zu 1) und 2) einerseits und der Beklagten andererseits entspricht es billigem Ermessen, der Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen. Die insoweit mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung vorgetragenen Argumente legen es nicht nahe, den Klägern zu 1) und 2) Verfahrenskosten aufzuerlegen.

Das Verwaltungsgericht hatte die Beklagte mit dem Urteil dazu verpflichtet, beiden Klägern eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen. Zur Begründung hatte es ausgeführt, eine Abschiebung der Klägerin zu 2) sei mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar. Die von ihr geltend gemachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Falle einer Abschiebung stellten ggf. Folgen der Abschiebung als solcher dar und seien daher ein von der Beklagten zu berücksichtigendes inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis. Dementsprechend stehe dieser Wertung auch keine Bindungswirkung (gemäß § 42 Satz 1 AsylVfG) aus dem Bescheid des Bundesamts vom 7. Mai 2002 (das entschieden hatte, dass die Voraussetzungen des § 53 AuslG 1990 nicht vorlägen) entgegen, denn die Bindungswirkung dieser Entscheidung reiche nur soweit, als damit zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse verneint worden seien. Der Abschiebung des Klägers zu 1) stehe ein rechtliches Abschiebungshindernis aus Art. 6 Abs. 1 GG entgegen, da er von der Klägerin zu 2), seiner Ehefrau, nicht getrennt werden dürfe. Der Anspruch beider Kläger scheitere auch nicht an der Bestimmung des § 10 Abs. 1 AufenthG. Zwar hätten sie mit Schreiben ihrer Bevollmächtigten vom 30. Oktober 2010 beim Bundesamt beantragt, unter Abänderung des Bescheides vom 7. Mai 2002 festzustellen, dass bezüglich ihrer Personen Abschiebungshindernisse vorlägen; damit hätten sie aber keine Asylanträge im Sinne des § 10 Abs. 1 AufenthG gestellt. Denn unter einem Asylantrag sei gemäß § 13 AsylVfG ein Antrag zu verstehen, dem sich entnehmen lasse, dass der betreffende Ausländer im Bundesgebiet Schutz vor Abschiebung oder einer sonstigen Rückführung in einen Staat begehre, in dem ihm die in § 60 Abs. 1 AufenthG bezeichneten Gefahren drohten. Die Kläger zu 1) und 2) begehrten jedoch ausweislich ihres Antrags vom 30. Oktober 2010 allein die Feststellung, dass in ihrer Person Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 7 AufenthG vorlägen (zu alldem vgl. den Urteilsabdruck S. 6, 11 f.).

aa) Die Beklagte hat dagegen zur Begründung ihres Antrags auf Zulassung der Berufung vorgetragen, es bestünden ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils. Zu Unrecht habe das Verwaltungsgericht angenommen, dass der Antrag vom 30. Oktober 2009 nicht die Sperrwirkung des § 10 Abs.1 AufenthG ausgelöst habe. Auch ein Folgeantrag löse diese Sperrwirkung aus. Streitig sei es, ob bei bereits unanfechtbar erfolgter Feststellung des Vorliegens zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse bei gleichzeitiger Fortführung des Asylbegehrens bereits eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 3 AufenthG erteilt werden könne; ein solcher Fall liege hier allerdings nicht vor. Selbst wenn man mit dem Verwaltungsgericht der Ansicht sei, dass bei der Klägerin zu 2) krankheitsbedingt ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis vorliege, scheide die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auch zur Vermeidung einer doppelten Prüfung durch Bundesamt und Ausländerbehörde aus, wenn wegen der gleichen Erkrankungen ein Verfahren beim Bundesamt auf Feststellung von Abschiebungshindernissen anhängig sei und § 10 Abs. 1 AufenthG daher bis zum Abschluss des Verfahrens beim Bundesamt der Erteilung entgegenstehe.

Mit dieser Argumentation hätte der Zulassungsantrag wahrscheinlich keinen Erfolg gehabt. Sie tritt der für das Verwaltungsgericht maßgeblichen, auf die Legaldefinition des Asylantrags in § 13 Abs. 1 AsylVfG gestützten Erwägung nicht substantiiert entgegen, dass, die Kläger zu 1) und 2) mit ihren Anträgen vom 30. Oktober 2010 keine Asylanträge im Sinne des § 10 Abs. 1 AufenthG gestellt hätten. Der Hinweis darauf, dass auch "Folgeanträge" die Sperrwirkung des § 10 Abs. 1 AufenthG auslösten, ändert nichts daran, dass es sich hierfür wohl um Asylfolgeanträge handeln müsste, während die Kläger zu 1) und 2) mit den letztgenannten Anträgen keinen Schutz vor Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, sondern sich allein auf Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG berufen haben. Dass auch ein solches Folgeschutzgesuch die Sperrwirkung des § 10 Abs. 1 AufenthG auslösen würde, hat die Beklagte nicht hinreichend dargelegt; solches wird auch von der aufenthaltsrechtlichen Literatur, soweit sie sich mit dieser Frage befasst, nicht angenommen (vgl. Wenger in: Storr/Wenger u.a., ZuwG, 2. Aufl. 2008, § 10 AufenthG Rn. 4; HK-AuslR/Müller, 2008, § 10 AufenthG Rn. 4; Discher in: GK-AufenthG, 2005, § 10 Rn. 41 f.).

Der Hinweis der Beklagten auf eine zu vermeidende doppelte Prüfung durch Bundesamt und Ausländerbehörde im Falle geltend gemachter Erkrankungen führt insofern nicht weiter, als der jeweilige Gegenstand der Prüfung von zielstaatsbezogenen Afbschiebungsverboten einerseits und inlandsbezogenen Vollstreckungshindernissen andererseits verschieden ist, auch worin u.U. in beiden Fällen an vorgetragene Erkrankungen angeknüpft werden muss. Im Übrigen bezieht sich im Falle geltend gemachter Erkrankungen die besondere Sachkompetenz des Bundesamts auf die Behandlungs- und Versorgungsmöglichkeiten hinsichtlich der Krankheit in dem jeweiligen Zielstaat, nicht aber auf die Feststellung der Krankheit und ggf. ihrer Schwere an sich.

bb) Die Beklagte hat vorgetragen, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils ergäben sich auch daraus, dass das Verwaltungsgericht (unter Zugrundelegung der Psychologischen Stellungnahme der Psychologin ... vom 27.7.2009) zu Unrecht davon ausgegangen sei, dass es im Fall einer Rückführung der Klägerin zu 2) in den Kosovo zwingend zu einer Trennung von ihren Familienangehörigen komme. Eine solche Trennung stehe nämlich nicht fest. Vielmehr könnten auch der Kläger zu 1), die Klägerin zu 3) und der volljährige Sohn ... mit der Klägerin zu 2) in den Kosovo zurückkehren. Der Umstand, dass Letzterer eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 104a AufenthG habe, stehe einer gemeinsamen Rückkehr nicht entgegen. Aus diesem Aufenthaltstitel ergebe sich nur ein Aufenthaltsrecht, aber keine Aufenthaltspflicht; dass ihm eine Rückkehr dauerhaft unzumutbar sei, stehe nicht fest. Gleiches gelte für die Klägerin zu 3). Ob ihre Rückkehr wegen Verwurzelung im Bundesgebiet und Entwurzelung in Bezug auf das Heimatland unmöglich sei, sei noch nicht abschließend geklärt. Sie sei die ersten sieben Lebensjahre im Heimatland aufgewachsen, Außerdem werde die Rechtsansicht vertreten, dass ein schutzwürdiges Vertrauen auf einen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet voraussetze, dass der Aufenthalt wenigstens zeitweise erlaubt gewesen sei; insoweit verweise die Beklagte auf eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. April 2009 (1 C 3.08). An dieser Voraussetzung fehle es bei der Klägerin zu 3), der bislang keine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden sei. Die Beklagte habe (mit Schriftsatz vom 17.3.2010) die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Aussicht gestellt; diese Zusage werde nunmehr insoweit modifiziert, dass die Klägerin zu 3) bis zum Schulabschluss geduldet werde, die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG jedoch erst in Betracht komme, wenn entweder das angefochtene Urteil vom 20. November 2009 mangels Zulassung der Berufung rechtskräftig werde oder wenn das Bundesamt für die Kläger zu 1) und 2) unanfechtbar zielstaatsbezogene Ausreisehindernisse festgestellt habe.

Auch diese Argumentation bietet keinen hinreichenden Anlass dafür, nach billigem Ermessen den Klägern zu 1) und 2) Verfahrenskosten aufzuerlegen. Es erscheint zweifelhaft, ob die Beklagte damit hinreichend substantiiert ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils dargelegt hat. Die Beklagte hat nicht in Abrede gestellt, dass die Klägerin zu 2) im Falle einer Abschiebung aus Deutschland und einer damit verbundenen Trennung von der Klägerin zu 3) und/oder ihrem Sohn ... in eine schwere, ihren derzeitigen gesundheitlichen Zustand deutlich verschärfende Krise geraten würde.

Ebensowenig hat die Beklagte hinreichend substantiierte Argumente gegen die Einschätzung des Verwaltungsgerichts vorgebracht, dass der Klägerin zu 3) eine Verlagerung ihres Lebens aus Deutschland in den Kosovo nicht zumutbar sei, weil es sich bei ihr um eine faktische Inländerin handele, die - angesichts ihrer hochgradig gelungenen Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse und ihrer fehlerfreien Beherrschung der deutschen Sprache auf hohem Niveau - einer deutschen Staatsangehörigen im Grunde gleichzustellen sei, während sie mit dem Kosovo nur noch durch das formale Band der Staatsangehörigkeit verbunden werde, und dass angesichts dessen (auch unter Berücksichtigung von Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts) eine Beendigung ihres Aufenthalts im Bundesgebiet einen unverhältnismäßigen Eingriff im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK darstellen würde (vgl. UA S. 9 f.), Der von der Beklagten hervorgehobene Umstand, dass die Klägerin zu 3) im Alter von knapp sieben Jahren nach Deutschland gekommen ist, steht der Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass sie (jedenfalls) zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im November 2009 (im Alter von 17 Jahren) bereits eine faktische Inländerin gewesen ist, nicht ohne weiteres entgegen. Auch erscheint es zweifelhaft, ob der Hinweis der Beklagten, es sei noch nicht abschließend geklärt, ob eine die Aufenthaltsbeendigung nach Art. 8 EMRK hindernde Verwurzelung angenommen werden könne, wenn der Aufenthalt des Ausländers bis dato nicht wenigstens zeitweise rechtmäßig gewesen ist, genügt hat, um ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Einschätzung des Verwaltungsgerichts darzulegen, der Klägerin zu 3) sei als faktischer Inländerin eine Beendigung ihres Aufenthalts in Deutschland nicht zumutbar. Im Übrigen hat offenbar auch die Beklagte noch kurze Zeit vor dem Erhalt des angefochtenen Urteils angenommen, dass die Klägerin zu 3) in einem hohen Maße in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert und es deshalb angebracht sei, ihren Aufenthalt durch Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu legalisieren, sofern sie im Anschluss an ihren Schulabschluss ihre Integration durch Nachweis eines Ausbildungsplatzes bestätige (vgl. die mit Schriftsatz vom 17.3.2010 seitens der Beklagten erteilte Zusage); für das dann mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung (vom 16.5.2010) erfolgte Abrücken von dieser Zusage (das jedenfalls nicht durch ein Verhalten der Klägerin zu 3) veranlasst gewesen sein kann) hat die Beklagte keine Begründung gegeben.

Hat die Beklagte somit nicht hinreichend substantiiert dargelegt, dass der Klägerin zu 3) entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ein (endgültiges) Verlassen des Bundesgebiet zumutbar war, so wäre eine Beendigung des Aufenthalts der Klägerin zu 2) im Bundesgebiet doch auf eine Trennung von der Klägerin zu 3) hinausgelaufen (bei dieser Betrachtung dürfte nicht unterstellt werden, dass die Klägerin zu 3) sich tatsächlich doch auf ein ihr an sich nicht zumutbares Verhalten eingelassen hätte, um die Gesundheit der Klägerin zu 2) nicht zusätzlich zu gefährden). Damit hätten die vom Verwaltungsgericht angenommenen (und von der Beklagten für den Fall der Trennung nicht in Abrede gestellten) schweren gesundheitlichen Gefährdungen der Klägerin zu 2) im Raum gestanden, die nach der Einschätzung des Verwaltungsgerichts mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar gewesen wären und somit für die Klägerin zu 2) eine rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise im Sinne des § 25 Abs. 5 AufenthG begründeten. Dann wiederum bestand auch für den Kläger zu 1) als Ehemann der Klägerin zu 2) eine (auf Art. 6 GG beruhende) rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise im Sinne des § 25 Abs. 5 AufenthG, da er nicht durch Aufenthaltsbeendigung von seiner Ehefrau hätte getrennt werden dürfen. [...]