VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 09.02.2011 - M 23 K 10.1983 [ASYLMAGAZIN 2011, S. 211 ff.] - asyl.net: M18465
https://www.asyl.net/rsdb/M18465
Leitsatz:

1. Visumsfreie Einreise von türkischen Staatsangehörigen, die Inhaber von gültigen Nationalpässen sind, zu Zwecken des Dienstleistungsempfangs, insbesondere zu touristischen Zwecken.

2. Kein Erfordernis einer Aufenthaltserlaubnis für einen Aufenthaltszeitraum von bis zu drei Monaten zu Zwecken des Dienstleistungsempfangs.

3. Unmittelbare Wirkung des Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll zum Assoziierungsabkommen EWG-Türkei.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Visumspflicht, türkische Staatsangehörige, Assoziationsberechtigte, Dienstleistungsfreiheit, Schengen-Visum, Aufenthaltserlaubnis, Feststellungsklage, Einreiseverweigerung, Stillhalteklausel,
Normen: ZP Art. 41 Abs. 1, VwGO § 43 Abs. 1, AufenthG § 4 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 4 Abs. 1 S. 2, AufenthG § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, EG-VisoVO Art. 1 Abs. 1, RL 2004/38/EG Art. 5 Abs. 1, RL 2004/38/EG Art. 6 Abs. 1, ARB 1/80 Art. 13, DVAuslG 1965 § 1 Abs. 2 Nr. 1, DVAuslG 1965 § 2, DVAuslG 1965 § 5 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die Klage ist gemäß § 43 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) als vorbeugende Feststellungsklage zulässig.

Der Klägerin war es nicht möglich, die Rechtmäßigkeit der ihr am ... 2009 am... Flughafen verwehrten Einreise im Wege der nachträglichen Feststellungsklage überprüfen zu lassen. Die Beklagte hat vorgetragen, über keine Sachakte und keinen Verwaltungsvorgang zu einer Anfrage der Klägerin auf Einreise am ... 2009 zu verfügen. Zudem würden telefonische Anfragen der ... zu diesem Thema lediglich unverbindlich beantwortet.

Gegenstand einer vorbeugenden Feststellungsklage kann auch ein hinreichend konkreter, zukünftiger Sachverhalt sein. Grundsätzlich können sich auch und gerade aus zukünftigen Sachverhalten feststellungsfähige Rechtsverhältnisse ergeben (Eyermann/Happ, § 43 VwGO, 13. Auflage 2010, RdNr. 21). Der von der Klägerin geschilderte Sachverhalt, aufgrund ihrer weltweiten Flugtätigkeiten immer wieder in das Bundesgebiet zum Dienstleistungsempfang, insbesondere zu touristischen Zwecken einreisen zu wollen, ist vor allem durch ihre Bezugnahme auf den Vorfall im ... 2009 hinreichend konkret genug, um die Frage der Visumspflicht und die Notwendigkeit einer Aufenthaltserlaubnis beurteilen zu können. [...]

Die Feststellungsklage ist auch begründet, da die Klägerin als Inhaberin eines gültigen türkischen Nationalpasses für einen Aufenthaltszeitraum bis zu drei Monaten zum Dienstleistungsempfang, insbesondere zu touristischen Zwecken, ohne Aufenthaltserlaubnis, insbesondere visumsfrei, in die Bundesrepublik Deutschland einreisen und sich aufhalten darf.

Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) bedarf ein Ausländer für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet grundsätzlich eines Aufenthaltstitels, sofern nicht durch Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung etwas anderes bestimmt ist oder aufgrund des Abkommens vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei ein Aufenthaltsrecht besteht. Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG wird der Aufenthaltstitel u.a. als Visum (Nr. 1) oder als Aufenthaltserlaubnis (Nr. 2) erteilt.

Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG kann einem Ausländer für Aufenthalte bis zu drei Monaten innerhalb einer Frist von sechs Monaten von dem Tag der Einreise an (kurzfristige Aufenthalte) ein Schengen-Visum erteilt werden, wenn die Erteilungsvoraussetzungen des Schengener Durchführungsübereinkommens und der dazu ergangenen Ausführungsvorschriften erfüllt sind. Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 des Rates vom 15. März 2001 (EG-VisaVO) bestimmt, dass die Staatsangehörigen der Drittländer, die in der Liste in Anhang I aufgeführt sind, beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten im Besitz eines Visums sein müssen. Die Türkei gehört nach Anhang I Nr. 1 EG-VisaVO zu den Staaten, deren Staatsangehörige ein Visum benötigen.

Art. 1 Abs. 1 EG-VisaVO ist auf die Klägerin nicht anwendbar. Als türkische Staatsangehörige kann sich die Klägerin auf Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation vom 23. November 1970 (Zusatzprotokoll), ratifiziert am 1. Januar 1973, berufen. Diese Regelung sieht vor, dass die Vertragsparteien untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen. Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hat Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll unmittelbare Wirkung. Türkische Staatsangehörige, auf die die Bestimmung anwendbar ist, können sich folglich vor den nationalen Gerichten auf die Rechte berufen, die Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll ihnen verleiht (EuGH, "Savas", Urteil vom 11.5.2000 InfAuslR 2000, 326; EuGH, "Abatay", Urteil vom 21.10.2003 InfAuslR 2004, 32; EuGH, "Tum und Dari", Urteil vom 20.9.2007 InfAuslR 2007, 428; EuGH, "Soysal", Urteil vom 19.2.2009 InfAuslR 2009, 135).

Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll, der selbst unmittelbar kein Einreise- bzw. Aufenthaltsrecht begründet, sondern ein solches voraussetzt (EuGH, "Tum und Dari", a.a.O.), verwehrt allgemein die Einführung neuer Maßnahmen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Niederlassungsfreiheit oder des freien Dienstleistungsverkehrs durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls, also am 1. Januar 1973, in dem betreffenden Mitgliedstaat galten (EuGH, "Soysal", a.a.O. m.w.N.).

Bis zum Inkrafttreten des Zusatzprotokolls am 1. Januar 1973 richtete sich die Frage von Visumspflicht und Erfordernis einer Aufenthaltserlaubnis nach § 2 Ausländergesetz (AuslG 1965) und der u.a. auf § 2 Abs. 3 und 4 AuslG 1965 gestützten Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes (DVAuslG 1965) in der zum 1. Januar 1973 geltenden Fassung. Da die Türkei zu den in der Anlage zur DVAuslG 1965 (sog. Positivliste) aufgeführten Staaten gehörte, bedurfte ein türkischer Staatsangehöriger, der Inhaber eines Nationalpasses war, nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 DVAuslG 1965 keiner Aufenthaltserlaubnis und damit auch keines Visums, wenn er sich nicht länger als drei Monate im Bundesgebiet aufhalten und keiner Erwerbstätigkeit nachgehen wollte (Westphal, InfAuslR 2009, 133 ff.; Hailbronner, NVwZ 2009, 760 ff.; Funke-Kaiser in GK-AuslR, II-§ 3 RdNr. 40.1).

Die im März 2001 gemeinschaftsrechtlich durch Art. 1 Abs. 1 EG-VisaVO eingeführte Visumspflicht unterwirft die Klägerin bei Einreise strengeren Voraussetzungen als die am 1. Januar 1973 in der Bundesrepublik Deutschland geltende Rechtslage. Im Vergleich zur damaligen Rechtslage bringt die Notwendigkeit eines Schengen-Visums für die Klägerin einen zusätzlichen und wiederholten Verwaltungs- und finanziellen Aufwand mit sich. Wird zudem der Visumsantrag abgelehnt, wird die Klägerin daran gehindert, in das Bundesgebiet einzureisen (EuGH, "Soysal", a.a.O.). Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll verbietet auch neue Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs, die sich aus dem Gemeinschaftsrecht ergeben. Das Zusatzprotokoll ist gemäß Art. 62 Zusatzprotokoll Bestandteil des Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei vom 12. September 1963 (Assoziierungsabkommen). Das Assoziierungsabkommen wurde als ein sogenanntes gemischtes Abkommen zwischen der Gemeinschaft und deren Mitgliedstaaten sowie der Türkei geschlossen und verpflichtet in Ermangelung eindeutiger Trennungsklauseln sowohl die Gemeinschaft als auch die einzelnen Mitgliedstaaten (EuGH, "Demirel", Urteil vom 30.9.1987 NVwZ 1988, 235; Mielitz, NVwZ 2009, 276 ff.; Funke-Kaiser, a.a.O., RdNr. 40.4; Dienelt, ZAR 2009, 182 ff.).

Wegen des in Art. 59 Zusatzprotokoll enthaltenen Besserstellungsverbots untersagt die in Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll enthaltene Stillhalteklausel allerdings nur solche Verschlechterungen für türkische Staatsangehörige, die in gleicher Weise nicht für Gemeinschaftsangehörige gelten. Unionsbürger, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, genießen nach Art. 5 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 Richtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004 (UnionRL) Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Für die Einreise von Unionsbürgern darf weder ein Visum noch eine gleichartige Formalität verlangt werden (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 UnionRL). Für einen Zeitraum von drei Monaten hat ein Unionsbürger, der im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses ist, das Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ohne weitere Bedingungen oder Formalitäten (Art. 6 Abs. 1 UnionRL). Für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft gibt es keine dem Art. 1 Abs. 1 EG-VisaVO entsprechende Regelung.

Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll verbietet neue Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs. Durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs im Verfahren "Soysal" (EuGH, a.a.O.) ist geklärt, dass es Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll untersagt, die Ausübung der aktiven Dienstleistungsfreiheit im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats durch türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in der Türkei strengeren Voraussetzungen zu unterwerfen, als sie im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls, also am 1. Januar 1973, in dem betreffenden Mitgliedstaat bestanden haben. Nach dieser Entscheidung stellt die Einführung einer Visumspflicht, die am 1. Januar 1973 nicht bestand, eine "neue Beschränkung" im Sinne des Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll für das Recht türkischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in der Türkei dar, in der Bundesrepublik Deutschland frei Dienstleistungen zu erbringen. Zwischen den Beteiligten ist allerdings streitig, inwieweit der assoziationsrechtliche Begriff des freien Dienstleistungsverkehrs auch die passive Dienstleistungsfreiheit umfasst.

Maßgeblich für die Interpretation des freien Dienstleistungsverkehrs in Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll ist das Verständnis der Vertragsparteien von der Dienstleistungsfreiheit im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls. Das Assoziationsrecht selbst enthält keine eigenständigen Definitionen von Niederlassungs- bzw. Dienstleistungsfreiheit. Aus der in Art. 14 Assoziierungsabkommen enthaltenen Verweisung auf die Artikel 55, 56 und 58 bis 65 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (jetzt geregelt in den Art. 45 ff. des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union), die die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs zum Gegenstand haben, ergibt sich jedoch die Absicht der Vertragsparteien, den assoziationsrechtlichen Begriff des freien Dienstleistungsverkehrs nach den gemeinschaftsrechtlichen Normen zu bestimmen. Der assoziationsrechtliche Begriff des freien Dienstleistungsverkehrs folgt somit dessen gemeinschaftsrechtlicher Bedeutung (Mielitz. a.a.O.; Westphal, a.a.O.).

Unstreitig ist, dass heute der freie Dienstleistungsverkehr für Unionsbürger die Freiheit des Leistungsempfängers einschließt, sich zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben. Damit beinhaltet der freie Dienstleistungsverkehr heute gemeinschaftsrechtlich sowohl die aktive als auch die passive Dienstleistungsfreiheit.

Der freie Dienstleistungsverkehr schloss die passive Dienstleistungsfreiheit gemeinschaftsrechtlich aber auch schon im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls als Rechtsposition ein. Dies ergibt sich aus der auf Art. 56 Abs. 2 EWG-Vertrag gestützten Richtlinie Nr. 64/221/EWG vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind. In den Erwägungsgründen und in Art. 1 der Richtlinie werden ausdrücklich grenzüberschreitende Dienstleistungsempfänger in die Regelungsmaterie einbezogen. Auch in der Richtlinie Nr. 73/148/EWG vom 21. Mai 1973 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs wird die passive Dienstleistungsfreiheit ausdrücklich anerkannt und aufenthaltsrechtlich verwirklicht (Dienelt, a.a.O.; Funke-Kaiser, a.a.O., RdNr. 40.3). Der Europäische Gerichtshof hat durch die Entscheidungen "Luisi und Carbone" (EuGH Urteil vom 31.1.1984 NJW 1984, 1288) sowie "Cowan und Tresor public" (EuGH Urteil vom 2.2.1989 InfAuslR 1989, 147) oder "Calfa" (EuGH Urteil vom 19.1.1999 InfAuslR 1999, 147) den von Anbeginn der gemeinschaftlichen Rechtsetzung bekannten und verwendeten Inhalt der Dienstleistungsfreiheit, zu dem auch der Dienstleistungsempfang gehört, bestätigt (Dienelt, a.a.O.; Mielitz, a.a.O.; Gutmann, ZAR 2008, 5 ff.; Funke-Kaiser, a.a.O., RdNr. 40.3). Wäre es der Wille der Vertragsparteien gewesen, Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll ausschließlich auf neue Beschränkungen der aktiven Dienstleistungsfreiheit zu begrenzen, hätten sie die Stillhalteklausel insoweit einschränkend formulieren müssen. Dass sie dies im Bewusstsein beider Ausprägungen des freien Dienstleistungsverkehrs nicht getan haben, belegt die Einbeziehung der passiven Dienstleistungsfreiheit in Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll.

Auch dem Assoziierungsabkommen und der Präambel des Zusatzprotokolls lässt sich nicht entnehmen, dass Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll ausschließlich neue Beschränkungen der aktiven Dienstleistungsfreiheit verbieten sollte. Gemäß Art. 2 Abs. 1 ist Ziel des Assoziierungsabkommens, durch die schrittweise Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und durch die Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien zu fördern, um die Lebenshaltung des türkischen Volkes zu bessern und später den Beitritt der Republik Türkei zur Gemeinschaft zu erleichtern. Aus der Präambel des Zusatzprotokolls ergibt sich, dass die Vertragsparteien während der Übergangsphase aufgrund gegenseitiger, ausgewogener Verpflichtungen die schrittweise Erreichung einer Zollunion zwischen der Türkei und der Gemeinschaft sowie die Annäherung der türkischen Wirtschaftspolitik und derjenigen der Gemeinschaft sicherstellen wollen, um das ordnungsgemäße Funktionieren der Assoziation und die Entwicklung des dazu erforderlichen gemeinsamen Handelns zu gewährleisten. Assoziierungsabkommen und Präambel des Zusatzprotokolls betonen die Gegenseitigkeit des Ausbaus der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien.

Diese Gegenseitigkeit der wirtschaftlichen Beziehungen von Mitgliedstaaten und der Türkei hat auch der Europäische Gerichtshof in einer seiner jüngsten Entscheidungen deutlich hervorgehoben (EuGH, "Tropak", Urteil vom 9.12.2010 InfAuslR 2011, 48), in der er betont, "dass die Stillhalteklauseln in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/180 und Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls dasselbe Ziel verfolgen, nämlich dadurch günstigere Bedingungen für die schrittweise Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, des Niederlassungsrechts und des freien Dienstleistungsverkehrs zu schaffen, dass den innerstaatlichen Stellen verboten wird, neue Hindernisse für die Freiheiten einzuführen, um die schrittweise Herstellung dieser Freiheiten zwischen den Mitgliedstaaten und der Türkei nicht zu erschweren". Die gegenseitige Gewährleistung bestimmter wirtschaftlicher Grundfreiheiten und der gegenseitige Abbau von Beschränkungen dieser Freiheiten dienen dem Ziel, die wirtschaftlichen Beziehungen von Mitgliedstaaten und der Türkei auf beiden Seiten auszubauen. Nach dem Willen der Vertragsparteien soll auch der freie Dienstleistungsverkehr als eine wirtschaftliche Grundfreiheit gegenseitig gewährleistet werden. Dem freien Dienstleistungsverkehr kommt im Gefüge der gemeinschaftsrechtlich garantierten Grundfreiheiten nicht nur eine Auffangfunktion, sondern eine selbständige Rolle zu. Die Vertragsparteien von Assoziierungsabkommen und Zusatzprotokoll haben mit Art. 14 Assoziierungsabkommen zugleich den gemeinschafts- und assoziationsrechtlichen Gleichklang der Begrifflichkeiten statuiert. Nur wenn Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll sowohl auf neue Beschränkungen der aktiven als auch der passiven Dienstleistungsfreiheit Anwendung findet, kann der völkerrechtlich vereinbarte gegenseitige Ausbau der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien auf beiden Seiten gewährleistet werden. Auch der Dienstleistungsempfänger macht von einer wirtschaftlichen Grundfreiheit Gebrauch. Als notwendig Beteiligter des Austauschverhältnisses ist er potentiell Nutznießer des freien Dienstleistungsverkehrs. Dass er die Leistung ausschließlich an seinem Wohnort in Empfang nehmen kann, ergibt sich nicht aus dem Gemeinschaftsrecht. Beschränkungen der Freiheit des (türkischen) Leistungsempfängers wirken im Übrigen als faktische Beschränkungen der Freiheit des (deutschen) Leistungserbringers.

Allerdings wurde weder durch das Assoziierungsabkommen selbst noch durch Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll oder andere Stillhalteklauseln des Vertrags ein Binnenmarkt geschaffen, in dem der freie Verkehr von Personen ohne Grenzkontrollen oder ohne weitere Einreisebedingungen möglich ist. Die faktische Einführung einer Personenfreizügigkeit war durch Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll nicht beabsichtigt. Die Wirkungen der Stillhalteklausel sind daher zwingend auf die "echte" Inanspruchnahme der passiven Dienstleistungsfreiheit zu begrenzen, die nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs durch folgende Merkmale geprägt ist: Von der passiven Dienstleistungsfreiheit ist nicht umfasst, wenn sich der Leistungsempfänger dauerhaft in den anderen Mitgliedstaat begibt, um dort für eine unbestimmte Zeit Dienstleistungen zu empfangen (EuGH, “Steymann“, Urteil vom 5.10.1988 NVwZ 1990, 53; EuGH, "Sodemare", Urteil vom 17.6.1997 EuZW 1998, 124). Passiver Dienstleistungsempfänger ist zudem nur derjenige, der mit einer "bestimmten dienstleistungsbezogenen Zielsetzung, mit der Absicht der Entgegennahme einer bestimmten Art von Leistung(en)" in den Mitgliedstaat einreist. Der Zweck zum Dienstleistungsempfang, z.B. als Tourist oder Empfänger von medizinischen Leistungen in das Bundesgebiet einzureisen, muss den tatsächlichen Aufenthalt prägen (EuGH, Schlussanträge des GA Lenz vom 6.12.1988 im Verfahren "Cowan und Tresor public", zitiert bei Juris; Mielitz, a.a.O. m.w.N.; Welte, ZAR 2009, 249 ff.; zum Dienstleistungsempfang von medizinischen Leistungen: VG Darmstadt vom 28.10.2005 InfAuslR 2006, 45).

Daraus folgt, dass sich aus Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll keine Visumsfreiheit für türkische Staatsangehörige ergibt, die gelegentlich eines (Verwandten)Besuches im Bundesgebiet auch Dienstleistungen empfangen (VG Berlin vom 25.2.2009 InfAuslR 2009, 222 ff.) oder dauerhaft in das Bundesgebiet einreisen wollen (VGH Baden-Württemberg vom 15.2.2001 InfAuslR 2001, 262; VG Düsseldorf Beschluss vom 29.9.2003, 7 L 3405/03; VG Frankfurt Urteil vom 22.5.2009, 7 K 3732/08.F u.a.; VG Gießen Beschluss vom 31.8.2009, 7 L 38/09.GI; VG Saarbrücken Beschluss vom 28.10.2009, 10 L 733/09, alle zitiert bei juris). Eine Visumsfreiheit für solche Fälle wäre mit dem Assoziationsrecht nicht vereinbar (Hailbronner, a.a.O.).

Unstreitig geht es der Klägerin nicht darum, sich dauerhaft in der Bundesrepublik Deutschland aufzuhalten. Auch hat die Klägerin durch Bezugnahme auf den Vorfall im ... 2009 klargestellt, dass sie sich kurzfristig zum zielgerichteten Dienstleistungsempfang, insbesondere zu touristischen Zwecken, in das Bundesgebiet begeben will. Da die Klägerin die passive Dienstleistungsfreiheit im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs beanspruchen will, kann sie sich gemäß Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll auf die für türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in der Türkei bis zum 1. Januar 1973 in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Einreisebestimmungen berufen und wegen § 1 Abs. 2 Nr. 1 DVAuslG 1965 eine visumsfreie Einreise ohne Aufenthaltserlaubnis für einen Zeitraum bis zu drei Monaten beanspruchen.

§ 1 Abs. 2 DVAuslG 1965 ist nicht einschränkend dahingehend auszulegen, dass die zeitlich auf drei Monate begrenzte Einreise zum Dienstleistungsempfang nicht von § 1 Abs. 2 Nr. 1 DVAuslG 1965 erfasst sein sollte (so Hecker, ZAR 2009, 142 f.). Dies lässt sich weder der früheren Regelungssystematik dieser Vorschriften noch der Regelungsintention des Verordnungsgebers entnehmen. Nach den damaligen Regelungen bedurfte ein türkischer Staatsangehöriger nach § 2 AuslG 1965, § 5 Abs. 1 DVAuslG 1965 einer Aufenthaltserlaubnis, die vor Einreise in der Form eines Sichtvermerks einzuholen war, wenn er im Bundesgebiet eine Erwerbstätigkeit ausüben wollte. Wollte er sich länger als drei Monate im Bundesgebiet aufhalten ohne einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, benötigte der türkische Staatsbürger bei Einreise zwar kein Visum, musste aber im Bundesgebiet eine Aufenthaltserlaubnis einholen.

Für bestimmte zeitlich begrenzte Tätigkeiten und für kurzfristige Aufenthalte ohne Absicht der Erwerbstätigkeit sah § 1 Abs. 2 DVAuslG 1965 Ausnahmen vor. Von § 1 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3 DVAuslG 1965 waren solche ausländischen Arbeitnehmer und sonstige Erwerbstätige erfasst, die sich nur kurze Zeit im Bundesgebiet aufhielten und deren Tätigkeit keine fühlbaren Einwirkungen auf die deutsche Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage zur Folge hatte (Kanein, Ausländergesetz, 1966, § 2, S. 53; Böckenförde, Ausländerrecht, 2. Auflage 1972, S. 22). Durch § 1 Abs. 2 Nr. 3 DVAuslG 1965 waren beispielsweise Ausländer vom Erfordernis einer Aufenthaltserlaubnis befreit, die zu Darbietungen künstlerischen Charakters einreisen wollten (vgl. Marxen, Deutsches Ausländerrecht, 1967, § 2, S. 67). § 1 Abs. 2 Nr. 2 und 3 DVAuslG 1965 erfassten im Wesentlichen Fallgruppen, bei denen die Dienstleistungserbringung im Vordergrund stand. Jedoch waren weder § 1 Abs. 2 Nr. 2 noch § 1 Abs. 2 Nr. 3 DVAuslG 1965 abschließende Regelungen was den freien Dienstleistungsverkehr angeht, da bestimmte Fallgestaltungen, bei denen der Dienstleistungsempfang wesentlicher Zweck der Einreise war, unter § 1 Abs. 2 Nr. 1 DVAuslG 1965 fielen. Diese Vorschrift bezog sich auf den sog. kleinen Grenzverkehr hinsichtlich der Anrainerstaaten Belgien, Dänemark, Niederlande, Österreich, Schweiz, Luxemburg und Liechtenstein (Marxen, a.a.O.) sowie auf ausländische Besuchs- und Ferienreisende (vgl. Kanein, a.a.O.; Marxen, a.a.O.). Insbesondere bei ausländischen Touristen ging es gerade um eine Einreise zum Dienstleistungsempfang. Aber auch bestimmte Geschäftsreisende konnten nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 DVAuslG 1965 zeitlich befristet ohne Visum und Aufenthaltserlaubnis in das Bundesgebiet einreisen. Nach Nr. 14 und 15 zu § 2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Ausführung des Ausländergesetzes vom 7. Juli 1967 in der am 1. Januar 1973 geltenden Fassung (AuslGVwv) war es nicht als Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 1 und des § 5 Abs. 1 Nr. 1 DVAuslG 1965 anzusehen, wenn "Ausländer unter Beibehaltung ihres gewöhnlichen Aufenthalts im Ausland für ausländische Unternehmen Besprechungen oder Verhandlungen im Bundesgebiet" führten. Die Regelung des § 1 Abs. 2 Nr. 1 DVAuslG 1965 erfasste somit auch solche Ausländer, die für maximal drei Monate zum Dienstleistungsempfang als Tourist, im Rahmen des kleinen Grenzverkehrs ohne Erwerbstätigkeitsabsicht oder als Geschäftsreisende im Sinne der AuslGVwv in das Bundesgebiet einreisen wollten.

Die Anwendung des § 1 Abs. 2 Nr. 1 DVAuslG 1965 auf türkische Dienstleistungsempfänger widerspricht auch nicht der Regelungsintention des früheren Rechts. Abgesehen von den Ausnahmen, die sich unmittelbar aus dem Ausländergesetz ergaben, bedurfte grundsätzlich jeder Ausländer nach § 2 Abs. 1 AuslG 1965 einer Aufenthaltserlaubnis, gleichgültig, zu welchem Zweck und für welche Zeitdauer er einreiste. Diese strikte gesetzliche Regelung wurde allerdings wesentlich durch die Vorschriften der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes 1965 gelockert, was insbesondere verschiedene Kommentatoren des Ausländergesetzes 1965 deutlich hervorhoben. "Die strenge Durchführung dieser Regelung widersprach der Fremdenpolitik der Bundesrepublik, so dass der Bundesminister des Innern durch Rechtsverordnung Erleichterungen schaffen und die neue Rechtslage nach dem Ausländergesetz mit der bisherigen Regelung in Einklang bringen musste", führte beispielsweise Kanein aus (Kanein, a.a.O., § 2, S. 52). Der amtlichen Begründung zufolge "sollte zur Liberalisierung des Reiseverkehrs von ihr (d.h. der Ermächtigung des § 2 Abs. 3 AuslG 1965) in möglichst weitem Rahmen Gebrauch gemacht werden" (vgl. Schiedermair, Handbuch des Ausländerrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1968, § 2, Nr. 16). "Die Strenge des Ausländergesetzes wurde durch § 2 Abs. 3 AuslG 1965 entscheidend aufgelockert und zwar so großzügig, dass allein aus diesem Grunde mit Recht von einer liberalen Haltung der Bundesrepublik gegenüber den Ausländern gesprochen werden konnte", kommentierte Schiedermair das Zusammenspiel von Ausländergesetz 1965 und Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes 1965 (Schiedermair, a.a.O.). Er war der Meinung, dass "das Ausländergesetz, das auf den ersten Blick den Anschein einer Verschärfung gegenüber dem gewohnten Rechtszustand erweckte, durch § 2 Abs. 3 AuslG 1965 die Möglichkeit einer weitgehenden Einreise- und Aufenthaltsfreiheit" eröffnete (Schiedermair, a.a.O.). Auch Kanein wies ausdrücklich darauf hin, dass einem Teil der Befreiungen die Überlegung zu Grunde lag, "dass ein sehr kurzfristiger Aufenthalt des Ausländers im Geltungsbereich des Ausländergesetzes die deutschen Belange regelmäßig nur geringfügig berührte, und dass der mit Antrag und Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis notwendig verbundene Verwaltungsaufwand in diesen Fällen nicht lohnend erschien" (Kanein, a.a.O.). Die aufgeführten Kommentierungen belegen, dass es der Regelungsintention entspricht, unter § 1 Abs. 2 Nr. 1 DVAuslG 1965 auch Fallgestaltungen zu subsumieren, bei denen der Dienstleistungsempfang im Vordergrund eines kurzfristigen Aufenthalts steht.

Die Klägerin kann daher als Inhaberin eines gültigen türkischen Nationalpasses für einen Aufenthaltszeitraum bis zu drei Monaten zum Dienstleistungsempfang, insbesondere zu touristischen Zwecken, ohne Aufenthaltserlaubnis, insbesondere visumsfrei, in die Bundesrepublik Deutschland einreisen und sich aufhalten (AG Erding, Urteil vom 29.4.2009, 5 Cs 35 Js 28732/08; Westpfahl, a.a.O.; Mielitz, a.a.O.; Gutmann, a.a.O.; Hailbronner, a.a.O.). [...]