VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 21.03.2011 - 11 K 5175/10 - asyl.net: M18458
https://www.asyl.net/rsdb/M18458
Leitsatz:

1. Aus dem Umstand, dass die Eheschließung in Kenntnis der erfolgten Ausweisung und Abschiebung und der hiermit verbundenen Sperrwirkung erfolgt ist, kann eine geringere Schutzwürdigkeit der ehelichen Beziehung nicht abgeleitet werden.

2. Die Wirkungen der Ausweisung dürfen angesichts des Schutzgebots des Art. 6 Abs. 1 GG nicht länger aufrechterhalten werden, wenn von dem Ausländer keine konkrete und entsprechend schwere Gefahr für ein wichtiges Schutzgebot mehr ausgeht.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Befristung, Ausweisung, Sperrwirkung, Eheschließung, Schutz von Ehe und Familie, Eltern-Kind-Verhältnis, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null, Prognose, Wiederholungsgefahr, Straftat, Verhältnismäßigkeit
Normen: AufenthG § 11 Abs. 1 S. 3, GG Art. 6 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch darauf, dass die Wirkungen seiner Ausweisung mit sofortiger Wirkung befristet werden.

Für die Prüfung des Befristungsanspruchs ist auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen; dies gilt auch, soweit - wie vorliegend - die Behörde bereits eine Ermessensentscheidung über die Dauer der Sperrfrist getroffen hat und es um deren Überprüfung geht (vgl. BVerwG, Urt. v. 09.06.2009 - 1 C 11/08 - BVerwGE 134, 124; VGH Mannheim, Urt. v. 15.07.2009 - 13 S 2372/08 - NVwZ 2009, 1380 und Urt. v. 23.07.2008 - 11 S 2889/07 - InfAuslR 2008, 429).

Nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG sind die in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG bezeichneten Wirkungen von Ausweisung und/oder Abschiebung auf Antrag in der Regel zu befristen. Der Beklagte ist zu Recht von einem Regelfall i.S.d. § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG ausgegangen, da weder im Hinblick auf das Gewicht des Ausweisungsgrundes und den mit der Ausweisung verfolgten spezial- und/oder generalpräventiven Zwecken noch im Hinblick auf das Verhalten des Klägers nach der Ausweisung ein Ausnahmefall vorliegt (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.08.2000 - 1 C 5/00 - BVerwGE 111, 369 und Urt. v. 07.12.1999 - 1 C 13/99 - BVerwGE 110, 140).

Hinsichtlich des zeitlichen Umfangs der Sperrwirkung und zu den Gesichtspunkten, die bei der Bemessung der Frist zu berücksichtigen sind, trifft das Gesetz keine Aussage. Die Behörde hat daher ausgehend vom Zeitpunkt der Ausreise die Dauer der Sperrwirkung nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 40 LVwVfG) zu bestimmen. Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Grundes für die Ausweisung sowie der mit der Maßnahme verfolgte spezial- und/oder generalpräventive Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf der Prüfung im Einzelfall, ob die vorliegenden Umstände auch jetzt noch das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der gesetzlichen Sperrwirkung tragen. Die Behörde hat dazu auch das Verhalten des Betroffenen nach der Ausweisung zu würdigen und im Wege einer Prognose auf der Grundlage einer aktualisierten Tatsachenbasis die (Höchst-)Frist nach dem mutmaßlichen Eintritt der Zweckerreichung zu bemessen (vgl. BVerwG, Urt. v. 04.09.2007 - 1 C 21/07 - BVerwGE 129, 243). Die im Rahmen des ersten Schritts von der Behörde zu treffende Gefahrprognose ist gerichtlich voll überprüfbar (vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 19.12.2008 - 11 S 1453/07 - VBlBW 2009, 274). Da die Zweckerreichung die Fristobergrenze darstellt, ist es nicht länger gerechtfertigt, die Sperrwirkung aufrechtzuerhalten, wenn die ordnungsrechtlichen Zwecke sämtlich erreicht sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.08.2000 - 1 C 5/00 - BVerwGE 111, 369; VGH Mannheim, Urt. v. 26.03.2003 - 11 S 59/03 - InfAuslR 2003, 333).

In einem zweiten Schritt muss sich die an der Erreichung des Zwecks der Ausweisung orientierende äußerste Frist an höherrangigem Recht, vor allem an den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen messen und ggf. relativieren lassen (vgl. BVerwG, Urt. v. 04.09.2007 - 1 C 21/07 - a.a.O.). Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde ein rechtsstaatliches Mittel dafür, fortwirkende einschneidende Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen. Dabei sind sämtliche schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen. Haben beispielsweise familiäre Belange des Betroffenen nach der Ausweisung an Gewicht gewonnen, folgt daraus eine Ermessensverdichtung in Richtung auf eine kürzere Frist (vgl. BVerwG, Urt. v. 04.09.2007 - 1 C 21/07 - a.a.O.). Die Abwägung nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, die auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls nach Gewichtung der jeweiligen Belange vorzunehmen ist, kann bis zu einer Ermessensreduzierung auf Null mit dem Ergebnis einer Befristung auf den Jetzt-Zeitpunkt führen (vgl. BVerwG, Urt. v. 07.12.1999 - 1 C 13/99 - BVerwGE 110, 140).

Gemessen an diesen Grundsätzen ist der Beklagte verpflichtet, die Befristung der Wirkungen der Ausweisung mit sofortiger Wirkung auszusprechen. Nur eine derartige Befristung wäre nach dem Zweck der Ermächtigung die allein rechtmäßige Ermessensbetätigung.

Der Beklagte ist im angefochtenen Bescheid zu Recht davon ausgegangen, dass im Hinblick auf den mit der Ausweisung verfolgten spezialpräventiven Zweck eine Zweckerreichung eingetreten ist. Seit seiner Abschiebung ist der Kläger nicht mehr straffällig geworden und im Hinblick auf die sich zum Positiven veränderten familiären Verhältnisse vermag auch das Gericht eine Wiederholungsgefahr nicht zu erkennen. Der Beklagte ist indes der Auffassung, dass in Bezug auf den vom Kläger verwirklichten Ist-Ausweisungstatbestand der generalpräventive Ausweisungszweck eine Sperrfrist von sieben Jahren erfordere. Ob dies zutrifft, kann vorliegend dahingestellt bleiben. Wegen verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen ist jedenfalls eine Befristung auf den Jetzt-Zeitpunkt geboten.

Zwar hat der Beklagte die (erneute) zwischenzeitliche Eheschließung und die gemeinsamen Kinder bei der Fristbemessung berücksichtigt sowie den Umstand, dass die Familienangehörigen des Klägers mittlerweile deutsche Staatsangehörige sind. Ermessensfehlerhaft ist indes die Annahme des Beklagten, die durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Belange des Klägers besäßen deshalb ein geringeres Gewicht, weil die Eheschließung in Kenntnis der erfolgten Ausweisung und Abschiebung und der hiermit verbundenen Sperrwirkung erfolgt sei. Aus diesen Umständen kann eine geringere Schutzwürdigkeit der ehelichen Beziehung nicht abgeleitet werden (vgl. OVG Bremen, Urt. v. 30.10.2001 - 1 A 218/01 - InfAuslR 2002, 119). Der Beklagte hat zudem nicht hinreichend berücksichtigt, dass der nunmehr 16 Jahre alte Sohn ... eine enge emotionale Bindung an seinen Vater hat. Auch dieser Umstand tritt nicht gegenüber der begangenen Straftat des Klägers zurück, weil diese nunmehr fast zehn Jahre zurückliegt. Der Sohn ... befindet sich heute noch in einem Alter, in dem die Anwesenheit des Vaters und seine Mitwirkung bei der Erziehung grundsätzlich notwendig ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.01.2006 - 2 BvR 1935/05 - NVwZ 2006, 682 und Beschl. v. 09.01.2009 - 2 BvR 1064/08 - NVwZ 2009, 387; OVG Bremen, Beschl. v. 16.07.2009 - 1 B 217/09 - NordÖR 2009, 398; VGH Kassel, Beschl. v. 23.07.2007 - 11 UZ 601/07 - InfAuslR 2008, 7).

Entscheidend kommt hinzu, dass die Wirkungen der Ausweisung angesichts des Schutzgebots des Art. 6 Abs. 1 GG nicht länger aufrechterhalten werden dürfen, wenn von dem Ausländer keine konkrete und entsprechend schwere Gefahr für ein wichtiges Schutzgut mehr ausgeht (vgl. BVerwG, Urt. v. 03.06.1982 - 1 C 241/79 - Buchholz 402.24 § 15 AuslG Nr. 5; VGH München, Beschl. v. 27.01.2000 - 10 C 99.3695 - NVwZ 2000, 693; VG München, Urt. v. 12.12.2006 - M 12 K 06.3605 - juris -). Anhaltspunkte dafür, dass vom Kläger eine konkrete und entsprechend schwere Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht, sind im Bescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 15.10.2010 weder dargetan noch sonst ersichtlich. Damit widerspricht die vom Beklagten festgesetzte Sperrfrist der Wertentscheidung aus Art. 6 Abs. 1 GG. Im Hinblick auf die bis zum heutigen Tag bestehende Sperrwirkung und wegen der einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Klägers und seiner Familienangehörigen liegt eine Ermessensreduzierung auf Null vor mit dem Ergebnis, dass die Wirkungen der Ausweisung mit sofortiger Wirkung zu befristen sind. [...]