VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Urteil vom 14.03.2011 - 3 K 1465/09.WI.A [= ASYLMAGAZIN 2011, S. 158 f.] - asyl.net: M18384
https://www.asyl.net/rsdb/M18384
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung, da in Nigeria Opfer von Menschenhandel als Prostituierte besonders stigmatisiert und die in großem Umfang korrupten Polizeibehörden gegenüber dieser Gruppe (noch) weniger schutzwillig als gegenüber sonstigen Kriminalitätsopfern sind. Als alleinstehende Frau könnte die Klägerin im muslimischen Nordteil keinesfalls leben, im Süden Nigerias wäre sie permanenter Gefahr sexueller Übergriffe ausgesetzt, die sogar von staatlichen Sicherheitskräften ausgehen. Der Klägerin drohte zudem ein Leben unter dem Existenzminimum.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Nigeria, Niederlande, Dublin II-VO, Dublinverfahren, Überstellungsfrist, Petition, Ausweisung, Zwangsprostitution, Menschenhandel, soziale Gruppe, Voodoo, geschlechtsspezifische Verfolgung, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Diskriminierung, alleinstehende Frauen, interne Fluchtalternative, Existenzminimum,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 27a, VO 343/2003 Art. 4 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 2, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 3, RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 6, RL 2004/83/EG Art. 7
Auszüge:

[...]

Der Klägerin drohen bei einer Rückkehr nach Nigeria mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe.

Hinsichtlich der Verfolgungsgefahr wird diese Einschätzung auch vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geteilt. Dieses hat in seinem Bescheid vom 02.12.2009 im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG ausgeführt, die Klägerin wäre bei einer Rückkehr in ihr Heimatland in Gefahr, dass die Leute der "Madame" sie entweder der Prostitution wieder zuführen würden oder sogar, um eventuell ein Exempel zu statuieren, töten würden. Wie sich herausgestellt habe, als die Klägerin sich für längere Zeit aus dem Machtbereich der "Madame" entfernt gehabt habe, habe diese die Möglichkeit gehabt, von Deutschland aus Druck auf die Familie der Klägerin in Nigeria auszuüben, die dann wiederum Einfluss auf die Klägerin genommen habe, um sie zu einer Rückkehr zur "Arbeit" zu veranlassen. Auf den Schutz des nigerianischen Staates könne sie in diesem Zusammenhang nicht bauen. Dies deckt sich mit den Ausführungen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe im Nigeria-Update vom März 2010.

Entgegen der Auffassung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge knüpft diese Verfolgungsgefahr aber auch an die Zugehörigkeit der Klägerin zu einer bestimmten sozialen Gruppe an. Zwar liegt nicht eine allein an das Geschlecht anknüpfende Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG vor. Dies ergibt sich bereits daraus, dass nicht alle Frauen in Nigeria dieser Verfolgungsgefahr unterliegen. Die Klägerin gehört vielmehr zu einer Untergruppe bzw. Fallgruppe bei der geschlechterbezogene Aspekte im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchstabe b) RL 2004/83/EG eine Rolle spielen, die aber nicht allein für diese Gruppe prägend sind. Mitglieder dieser Gruppe sind nach Nigeria rückkehrende Frauen, die Opfer von Menschenhandel geworden sind und die sich hiervon befreit haben bzw. befreit worden sind (und gegen diese ausgesagt haben). Es handelt sich um eine klar definierbare, nach außen wahrnehmbare und von der Gesellschaft wahrgenommene und ausgegrenzte Untergruppe von Frauen im Sinne von Art. 10 RL 2004/83/EG. Dies ergibt sich aus den Ausführungen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe in ihrem Nigeria-Update vom März 2010, rückgeführte Opfer müssten mit Diskriminierung durch die Familie und das soziale Umfeld und mit Vergeltung des Sponsors rechnen. Wenn sie gegen die Händler aussagten, würden sie von diesen bedroht und liefen Gefahr, erneut Opfer von Menschenhandel zu werden. Die Gruppe dieser Frauen wird also auch eigenständig wahrgenommen. Ein innerer Zusammenhalt ist nicht erforderlich (vgl. Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, § 19 RdNr. 23 ff.). Dabei geht das Gericht davon aus, dass die beiden Voraussetzungen des Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) kumulativ vorliegen müssen. Zwar schließt Art. 10 RL 2004/83/EG nicht aus, dass auch andersartige Gestaltungen eine Anerkennung als soziale Gruppe zulassen können. Dies ergibt sich aus der Verwendung des Begriffs "insbesondere". Diese müssen dann aber nach Auffassung des Gerichts eine vergleichbare Dichte der Beschreibung wie die in Art. 10 RL 2004/83/EG genannten Voraussetzungen zulassen. Dies wäre nicht gegeben, wenn man alternativ das Vorliegen einer der beiden Voraussetzungen des Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) RL 2004/83/EG genügen lassen würde.

Vorliegend geht die Verfolgung von nichtstaatlichen Akteuren aus. Damit ist nach Art. 6 RL 2004/83/EG die weitere Prüfung erforderlich, ob der nigerianische Staat erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens ist, Schutz vor Verfolgung bzw. ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 7 RL 2004/83/EG zu bieten.

Da es sich bei den nichtstaatlichen Akteuren um Kriminelle handelt, ist zusätzlich zu prüfen, ob ein Unterschied zu anderen Kriminalitätsopfern bezüglich der Schutzversagung besteht (vgl. Treiber in GK-AufenthG § 60 RdNr. 188). Eine allgemeine Schutzschwäche eines Staates gegenüber Kriminalität genügt nicht, denn es ist nicht Sinn und Zweck der Flüchtlingskonvention, Schutz gegenüber allgemeinen sozialen Missständen zu bieten.

In Nigeria stellt sich die Lage so dar, dass der Staat auf oberer Ebene durchaus Maßnahmen gegen Menschenhandel ergreift. So ist Menschenhandel seit 2003 verboten und es wurde mit der National Agency for Prohibition of Trafficking in Persons (NAPTIP) eine Behörde gegen Menschenhandel eingerichtet (vgl. hierzu die Darstellung in Bureau of Democracy, Human Rights Report Nigeria 2009, Seite 32 ff.). Die Einrichtung ist aber nach Auffassung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (Nigeria-Update März 2010) unterfinanziert (so auch Human Rights Report Nigeria 2009) und die getroffenen Maßnahmen reichen nicht aus. Dennoch wird man von einer prinzipiellen Schutzwilligkeit des nigerianischen Staates ausgehen können.

Nigeria ist aber nicht in der Lage, ein ausreichendes Schutzniveau zu gewährleisten und der staatliche Schutz für Opfer von Menschhandel bleibt hinter dem Schutz gegenüber sonstiger Kriminalität zurück. Davon, dass der nigerianische Staat die Klägerin nicht vor der drohenden Verfolgung schützen kann, geht auch der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 02.12.2009 aus. Dies deckt sich mit den Ausführungen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe im Nigeria-Update vom März 2010. Gegenüber sonstiger Kriminalität stellt sich der Sachverhalt so dar, dass Frauen in Nigeria trotz formaler Gleichberechtigung in allen Bereichen diskriminiert werden (vgl. Lagebericht Nigeria des Auswärtigen Amtes, Stand Februar 2010). Nach Angaben des Auswärtigen Amtes werden sie, insbesondere im Niger-Delta, auch immer wieder Opfer von Vergewaltigungen durch Polizei und Sicherheitskräfte. Opfer von Menschenhandel sind als Prostituierte besonders stigmatisiert. Die in großem Umfang korrupten Polizeibehörden (vgl. Lagebericht Nigeria des Auswärtigen Amtes, Stand Februar 2010) sind gegenüber dieser Gruppe (noch) weniger schutzwillig als gegenüber sonstigen Kriminalitätsopfern.

Eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht für die Klägerin nicht. Dabei ist davon auszugehen, dass die Klägerin von ihrer Familie keine Unterstützung erfahren würde. So führt die Schweizerische Flüchtlingshilfe in ihrem Nigeria-Update vom März 2010 (S. 19) aus, rückgeführte Opfer müssten mit Diskriminierung u.a. durch die Familie rechnen. Auch der nigerianische Staat bietet danach nur mangelhafte Maßnahmen zur Rehabilitation und zur Reintegration der Opfer an. Die wenigen Einrichtungen für Opfer seien in einem schlechten Zustand. Als alleinstehende Frau könnte die Klägerin im muslimischen Nordteil keinesfalls leben. Im Süden wäre sie permanenter Gefahr sexueller Übergriffe ausgesetzt, die sogar von staatlichen Sicherheitskräften ausgeht (vgl. Lagebericht Nigeria des Auswärtigen Amtes vom Februar 2010). Hinzu kommt, dass nach Schätzungen des UNDP rund 65 % der Bevölkerung Nigerias unter der Armutsgrenze von einem US-Dollar pro Tag leben (zitiert nach Lagebericht Nigeria des Auswärtigen Amtes vom Februar 2010; vgl. auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nigeria-Update März 2010). Damit droht der Klägerin bei ihren individuellen Bedingungen ein Leben unter dem Existenzminimum. [...]