VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Beschluss vom 11.03.2011 - 7 L 702/11.F.A [= ASYLMAGAZIN 2011, S. 128 f.] - asyl.net: M18342
https://www.asyl.net/rsdb/M18342
Leitsatz:

1. Der Ausschluss einstweiligen Rechtsschutzes nach § 34a Abs. 2 AsylVfG setzt voraus, dass die Einreise aus einem sicheren Drittstaat im Sinne des Art. 16a Abs. 2 GG erfolgt ist. Findet die Einreise unmittelbar aus dem Herkunftsstaat, der kein sicherer Drittstaat ist oder aus einem sonstigen Drittstaat statt, kommt § 34a Abs. 2 AsylVfG nicht zur Anwendung.

2. Die in Art. 18 der Charta der Grundrechte der EU enthaltene Garantie eines wirksamen Rechtsbehelfs ist auch von deutschen Behörden und Gerichten zu beachten, soweit sie im Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 tätig werden.

3. Zur Wahrnehmung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 und 15 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 wegen einer ärztlich diagnostizierten posttraumatischen Belastungsstörung.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Polen, psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, Depression, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Abschiebungshindernis, erniedrigende Behandlung, Flughafenverfahren, Suspensiveffekt, Zustellung, Schengen-Visum, sichere Drittstaaten, Selbsteintritt, Humanitäre Klausel, Familieneinheit,
Normen: AsylVfG § 18a, AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VO 343/2003 Art. 9 Abs. 2 S. 1, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2, VO 343/2003 Art. 15, GG Art. 2 Abs. 1, GR-Charta Art. 3 Abs. 1, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, GG Art. 6 Abs. 1, EMRK Art. 8, VO 343/2003 Art. 14,
Auszüge:

[...]

Der von den Antragstellern am 08.03.2011 gestellte Eilantrag ist gemäß § 88 VwGO sachgerecht dahingehend auszulegen, dass die Antragsteller begehren, die aufschiebende Wirkung einer gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 08.03.2011 noch zu erhebenden Klage anzuordnen. Mit diesem Bescheid sind die Asylanträge der Antragsteller gemäß § 27 a AsylVfG als unzulässig abgelehnt worden und es ist deren Abschiebung nach Polen angeordnet worden.

Dem Bevollmächtigten der Antragsteller wurde mit Schreiben des Gerichts vom 10.03.2011 der in der Behördenakte des Bundesamtes befindliche Bescheid vom 08.03.2011 per Telefax zur Kenntnis gebracht. In einem Telefonat vom selben Tage mit dem Berichterstatter hat er angekündigt, gegen diesen Bescheid Klage erheben zu wollen. Somit ist ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO die statthafte Antragsart.

Einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung der noch zu erhebenden Klage der Antragsteller steht § 34 a Abs. 2 AsylVfG nicht entgegen. Zwar sollen die Antragsteller, die von Teheran direkt nach Frankfurt am Main geflogen waren, nach Polen abgeschoben werden, da sie im Besitz von echten Schengen-Visa dieses Mitgliedstaates der Europäischen Union waren. Für diesen Fall bestimmt Art. 9 Abs. 2 S. 1 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003, dass der das Visum ausstellende Mitgliedstaat der EU für die Bearbeitung eines Asylantrags des Visuminhabers zuständig ist. Zugleich folgt aus § 27 a AsylVfG, dass der Asylantrag als unzulässig abzulehnen ist, und es folgt aus § 34 a Abs. 1 AsylVfG, dass die Abschiebung in diesen Mitgliedstaat anzuordnen ist.

Gleichwohl kann bei einem Sachverhalt wie dem vorliegenden der Ausschluss einstweiligen Rechtsschutzes, wie er in § 34 a Abs. 2 AsylVfG vorgesehen ist, nicht zum Zuge kommen. Diese Norm findet ihre verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 16 a Abs. 2 S. 3 GG und setzt voraus, dass eine Einreise aus einem sicheren Drittstaat im Sinne des Art. 16 a Abs. 2 S. 1 GG erfolgt ist. Die Antragsteller sind jedoch nicht aus einem sicheren Drittstaat im Sinne dieser Vorschrift nach Deutschland gekommen, sondern trafen aus dem Iran kommend am Frankfurter Flughafen ein. Somit steht ihnen uneingeschränkt die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG zu, so dass ihr Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO umfassend und uneingeschränkt zu prüfen ist (vgl. auch VG Freiburg, Beschl. v. 24.01.2011 – 1 K 117/11, BeckRS 2011, 47199).

Eine Verpflichtung, effektiven Rechtsschutz zu gewähren, ergibt sich in Fällen wie dem vorliegenden, in dem eine Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat nach Maßgabe der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 erfolgen soll, nach Inkrafttreten des Lissaboner Vertrages am 01.12.2009 auch aus Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der EU. Nach dieser Vorschrift hat jede Person, deren durch das Recht der Europäischen Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, nach Maßgabe der in Art. 47 Grundrechte-Charta vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Die Antragsteller berufen sich zum Einen sinngemäß auf das ihnen aus Art. 18 Grundrechte-Charta zustehende Asylrecht und zum Anderen, soweit es die Antragstellerin zu 1. betrifft auf das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit. Die in der Grundrechte-Charta der EU enthaltenen Grundrechte binden nicht nur die Organe der Europäischen Union, sondern auch die nationalen Stellen, soweit sie das Recht der Europäischen Union anwenden. Da die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 originäres Rechts der Europäischen Union ist, haben (auch) die deutschen Behörden und Gerichte die Verbürgungen der Charta der Grundrechte zu beachten, soweit sie im Anwendungsbereich des Rechts der Europäischen Union tätig werden.

Im Übrigen enthält die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 in deren Art. 19 nicht die Möglichkeit, einstweiligen Rechtsschutz in "Dublin-Fällen" generell auszuschließen.

Dem Eilantrag ist stattzugeben, da zumindest nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand im Falle der Antragstellerin zu 1. die Voraussetzungen für die Wahrnehmung des Selbsteintritttsrechts nach Art. 3 Abs. 2 bzw. für ein Gebrauchmachen von der Humanitären Klausel nach Art. 15 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 vorliegen. Aus dem mit der Antragsschrift eingereichten klinischen Befund des Klinikums F.- H. vom 04.03.2011 ergibt sich, dass die Antragstellerin zu 1. an einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer mittelschweren depressiven Episode leidet. Sie war deswegen vom 01.03.2011 bis zum 04.03.2011 dort auf Veranlassung des Vertragsarztes der Flughafenklinik Frankfurt am Main in dem Klinikum F.-H. stationär untergebracht. In dem Befund wird ausgeführt, dass sich die Antragstellerin zu 1. "wenig schwingungsfähig" zeigte und dass sie lebensmüde Gedanken geäußert habe. Allerdings wurde eine akute Suizidalität nicht festgestellt. Zudem bestehe eine posttraumatische Belastungsstörung nach "angegebener Vergewaltigung im Heimatland". Die Patientin sei verängstigt, affektiv labil und habe Einschlaf- und Durchschlafstörungen mit Alpträumen geboten. Für den Fall einer gerichtlichen Anhörung wurde eine "behutsame Befragung insbesondere bzgl. der berichteten Vergewaltigung" empfohlen.

Unter diesen Umständen ist es nach summarischer Prüfung nicht auszuschließen, dass eine Überstellung der Antragstellerin zu 1. nach Polen jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit einer Verletzung ihrer Rechts auf körperliche und geistige Unversehrtheit im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG bzw. Art. 3 Abs. 1 Grundrechte-Charta einher ginge und zudem eine menschenrechtswidrige erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. des Art. 4 Grundrechte-Charta beinhaltete.

Da eine Überstellung der Antragstellerin zu 1. nach Polen nicht vollzogen werden kann, ist im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK und Art. 14 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 auch den Antragstellern zu 2. und 3. einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren. Die Antragsteller sind daher zur Durchführung ihres Asylverfahrens an die zuständige Aufnahmeeinrichtung weiterzuleiten. [...]