BVerwG

Merkliste
Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 09.12.2010 - 10 C 21.09 - asyl.net: M18316
https://www.asyl.net/rsdb/M18316
Leitsatz:

Vorlage an den EuGH zur Klärung der Voraussetzungen für religiöse Verfolgung (hier Ahmadiyya/Pakistan) in zwei Verfahren (siehe auch BVerwG, Beschluss vom 9.12.2010, 10 C 19.09).

Es geht um die Frage, unter welchen Voraussetzungen der einem Gläubigen abverlangte Verzicht auf eine öffentliche Betätigung seines Glaubens eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung im Sinne von Art. 9 der Qualifikationsrichtlinie (RL 2004/83/EG) darstellt.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, religiöse Verfolgung, religiöses Existenzminimum, Qualifikationsrichtlinie, Vorabentscheidungsverfahren, EuGH, Verfolgungsgefahr, Verfolgungsgrund, Kernbereich, Zumutbarkeit, Pakistan, Ahmadiyya, Zumutbarkeit,
Normen: AEUV Art. 267, RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 1 Bst. a, EMRK Art. 9, RL 2004/83/EG Art. 2 Bst. c, AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Das Verfahren wird ausgesetzt.

Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgenden Fragen eingeholt:

1) Ist Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/83/EG dahin auszulegen, dass nicht jeder Eingriff in die Religionsfreiheit, der gegen Art. 9 EMRK verstößt, eine Verfolgungshandlung im Sinne der erstgenannten Vorschrift darstellt, sondern liegt eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit als grundlegendes Menschenrecht nur dann vor, wenn ihr Kernbereich betroffen ist?

2) Für den Fall, dass Frage 1 zu bejahen ist:

a) Ist der Kernbereich der Religionsfreiheit auf das Glaubensbekenntnis und auf Glaubensbetätigungen im häuslichen und nachbarschaftlichen Bereich beschränkt oder kann eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/83/EG auch darin liegen, dass im Herkunftsland die Glaubensausübung in der Öffentlichkeit zu einer Gefahr für Leib, Leben oder physische Freiheit führt und der Antragsteller deshalb auf sie verzichtet?

b) Falls der Kernbereich der Religionsfreiheit auch bestimmte Glaubensbetätigungen in der Öffentlichkeit umfassen kann:

Genügt es in diesem Fall für eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit, dass der Antragsteller diese Betätigung seines Glaubens für sich selbst als unverzichtbar empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren,

oder ist außerdem erforderlich, dass die Religionsgemeinschaft, der der Antragsteller angehört, diese religiöse Betätigung als zentralen Bestandteil ihrer Glaubenslehre ansieht, oder können sich aus sonstigen Umständen, etwa den allgemeinen Verhältnissen im Herkunftsland, weitere Einschränkungen ergeben?

3) Für den Fall, dass Frage 1 zu bejahen ist:

Liegt eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG dann vor, wenn feststeht, dass der Antragsteller bestimmte - außerhalb des Kernbereichs liegende - religiöse Betätigungen nach Rückkehr in das Herkunftsland vornehmen wird, obwohl sie zu einer Gefahr für Leib, Leben oder physische Freiheit

führen werden, oder ist es dem Antragsteller zuzumuten, auf solche künftigen Betätigungen zu verzichten? [...]

Der Rechtsstreit ist auszusetzen. Es ist eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) zu den im Beschlusstenor formulierten Fragen einzuholen (Art. 267 AEUV). Die Fragen betreffen die Auslegung des Art. 2 Buchst. c und des Art. 9 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl EG Nr. L 304 vom 30. September 2004 S. 12; ber. ABl EG Nr. L 204 vom 5. August 2005 S. 24). Da es um die Auslegung von Unionsrecht geht, ist der Gerichtshof zuständig. Die Vorlagefragen sind entscheidungserheblich und bedürfen einer Klärung durch den Gerichtshof. Insoweit wird zur weiteren Begründung auf den Vorlagebeschluss vom heutigen Tag im Verfahren BVerwG 10 C 19.09 verwiesen.

Im Rahmen der Begründung zur Vorlagefrage 2 b werden unter Buchstabe a) in dem in Bezug genommenen Beschluss Ausführungen zur konkreten Betätigung des Glaubens des dortigen Klägers gemacht. Für den Kläger des vorliegenden Verfahrens gilt insoweit Folgendes:

a) Der Kläger hat nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts in Pakistan ein religiös geprägtes Leben als Angehöriger der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft geführt, in dem er wiederholt am Tag in die Moschee gegangen ist und dort gebetet hat. Er hat zudem seinen Vater bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben als Präsident der Ahmadi-Gemeinde des Heimatdorfes aktiv unterstützt. Er hat Berichte für die Gemeinde verfasst, Aufstellungen zum Spendenhaushalt erstellt und sonstige Tätigkeiten für die Gemeinde übernommen. Dass der Kläger seinen Glauben als für ihn verpflichtend und verbindlich empfinde, bekräftigt nach Ansicht des Oberverwaltungsgerichts seine religiöse Betätigung in Deutschland. Hier sei er Mitglied der Ahmadiyya-Gemeinde in W., sei für die Anmeldung von Jugendlichen zuständig und nehme hausmeisterliche Aufgaben in der Gemeinde wahr. Er nehme an den religiösen Festen der Gemeinde teil, auch sein Leben außerhalb der Gemeinde sei - u.a. durch über den Tag verteilte Gebete - religiös strukturiert. Das Oberverwaltungsgericht hat damit der Sache nach festgestellt, dass der Kläger die von ihm bisher praktizierte öffentliche Betätigung seines Glaubens für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren. Es hat aber nicht hinreichend nachvollziehbar festgestellt, dass eine solche aktive öffentliche Glaubensbetätigung auch von der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft als zentraler Bestandteil ihrer Glaubenslehre angesehen wird. [...]