LSG Niedersachsen-Bremen

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Zitieren als:
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 21.02.2011 - L 8 AY 126/10 B - asyl.net: M18298
https://www.asyl.net/rsdb/M18298
Leitsatz:

1. Es gibt gewichtige Gründe, die dafür sprechen, dass die seit dem Inkrafttreten des AsylbLG am 1.11.1993 unverändert gebliebenen Grundleistungen in Höhe von 360,- DM verfassungswidrig zu niedrig sind. Der Senat teilt die Auffassung des LSG NRW (Vorlagebeschluss vom 26.7.2010, L 20 AY 13/09, ASYLMAGAZIN 2010, S. 353 ff.).

2. Bei Grundleistungen nach § 3 Abs. 2 AsylbLG handelt es sich gegenüber Analogleistungen (§ 2 Abs. 1 AsylbLG) nicht um "andere" Leistungen, d.h. bei dem vorliegenden Begehren auf höhere Leistungen nach dem AsylbLG (ursprünglich auf Analogleistungen) ist auch zu entscheiden, ob die Grundleistungen nach § 3 Abs. 2 AsylbLG in zutreffender Höhe gewährt werden und nicht verfassungswidrig sind.

3. Wenn beim BVerfG ein Verfahren zur Klärung der Verfassungsgemäßheit der Grundleistungen bereits anhängig ist, besteht kein Anlass, ein Verfahren mit Hilfe eines Rechtsanwalts zu betreiben, um lediglich die Entscheidung des BVerfG in dem anderen Verfahren abzuwarten. Prozesskostenhilfe ist jedoch zu gewähren, wenn bereits zuvor die Einschaltung eines Rechtsanwalts geboten war. Zur Klageerhebung gegen eine Widerspruchsentscheidung ist im Regelfall die Einschaltung eines Rechtsanwalts nicht zu beanstanden und Prozesskostenhilfe zu gewähren.

Schlagwörter: Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Prozesskostenhilfe, Höhenstreit, soziokulturelles Existenzminimum, Grundleistungen, Klageänderung, Ruhen des Verfahrens,
Normen: AsylbLG § 3 Abs. 2 S. 2, AsylbLG § 3 Abs. 2 S. 3, AsylbLG § 3 Abs. 1 S. 4, GG Art. 100,
Auszüge:

[...] Der Vorwurf der Kläger geht vielmehr dahin, dass diese Leistungen verfassungswidrig zu niedrig seien. Insoweit hat die Klage eine für die Bewilligung von PKH hinreichende Aussicht auf Erfolg.

Es gibt gewichtige Gründe, die dafür sprechen, dass die seit dem Inkrafttreten des AsylbLG am 1. November 1993 unverändert gebliebenen Grundleistungsbeträge nach § 3 Abs. 2 Satz 2 und 3 i.V.m. § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG verfassungswidrig zu niedrig sind. Der Senat teilt die Auffassung des LSG Nordrhein-Westfalen (Vorlagebeschluss vom 26. Juli 2010 - L 20 AY 13/09 -, juris; das Normenkontrollverfahren ist bei dem Bundesverfassungsgericht unter dem Aktenzeichen 1 BvL 10/10 anhängig), dass die genannten Grundleistungsregelungen in § 3 AsylbLG gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verstoßen. Die Grundleistungsbeträge sind zu niedrig, um ein menschenwürdiges Existenzminimum sicherzustellen und ihre Bemessung erfolgte "ins Blaue hinein" ohne Anwendung eines verfassungsgemäßen Verfahrens der Bemessung der sicherzustellenden Bedarfe (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26. Juli 2010, a.a.O., Rdnrn 85 und 97). Die Vorlage des LSG Nordrhein-Westfalen betrifft die Frage, ob die Höhe der sog. Grundleistungen nach § 3 Abs. 2 AsylbLG (seit 1993 unverändert 360,00 DM) verfassungsgemäß ist. Diese Frage ist auch hier entscheidungsrelevant. Selbst wenn die Kläger mit ihren Anliegen scheitern sollten, Analogleistungen anstelle von Grundleistungen zu erhalten, ist ein höherer Leistungsanspruch jedenfalls nicht ausgeschlossen, falls das BVerfG auf den Vorlagebeschluss des LSG Nordrhein-Westfalen die Vorschrift des § 3 Abs. 2 AsylbLG für verfassungswidrig erklärt.

Vor einer Entscheidung des BVerfG kommt eine PKH-Bewilligung mit Beiordnung eines Rechtsanwalts allerdings dann nicht in Betracht, wenn den von der potentiellen Verfassungswidrigkeit Betroffenen andere sie rechtlich nicht benachteiligende Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Dies sind Alternativen, die verständige Beteiligte wählen würden, die bei ihrer Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat bzw. die Einlegung von Rechtsbehelfen auch die hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigen und vernünftig abwägen (vgl. zuletzt BVerfG, Beschluss vom 2. September 2010 - 1 BvR 1974/08 - RdNr. 13, ZFSH/SGB 2010, 678 m.w.N.). Die Rechtswahrnehmung darf für unbemittelte Rechtsuchende im Vergleich zu bemittelten Rechtsuchenden nicht unverhältnismäßig eingeschränkt werden; unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten ist die Versagung von PKH aber kein Verstoß gegen das Gebot der Rechtswahrnehmungsgleichheit, wenn in vergleichbarer Situation Bemittelte wegen ausreichender Selbsthilfemöglichkeiten die Einschaltung eines Anwalts vernünftigerweise nicht in Betracht ziehen würden (BVerfG, a.a.O.).

Das BVerfG hatte bereits in einer früheren Entscheidung (Beschluss vom 18. November 2009 - 1 BvR 2455/08 -, NJW 2010, 988 = FamRZ 2010, 188) die Versagung von PKH in einem Verfahren nicht beanstandet, bei dem die einschlägige Rechtsfrage auch in anderen Verfahren in der Revisionsinstanz (sog. unechte Musterverfahren) anhängig war. Der dortige Kläger könne, so das BVerfG, im Falle einer in seinem Sinne positiven Entscheidung des Revisionsgerichts vom Ausgang dieser Verfahren profitieren, ohne selbst einem (weiteren) Kostenrisiko zu unterliegen. Gehe das Revisionsverfahren hingegen aus Sicht des Betroffenen negativ aus, sei er nicht gehindert, sein Rechtsschutzziel im eigenen Verfahren weiter zu verfolgen. Es reiche aus verfassungsrechtlicher Sicht aus, wenn dem Betroffenen nach Ergehen der "Musterentscheidungen" noch alle prozessualen Möglichkeiten offenstehen, umfassenden gerichtlichen Schutz zu erlangen. Solange ein Betreiben des eigenen Verfahrens in zumutbarer Weise zurückgestellt beziehungsweise auch formell ruhend gestellt werden könne, sei es nicht zu beanstanden, wenn die Fachgerichte davon ausgehen, dass eine anwaltliche Vertretung nicht erforderlich ist.

Hier ist die entscheidungserhebliche Rechtsfrage nicht Gegenstand eines unechten Musterverfahrens, sondern eines beim BVerfG anhängigen Verfahrens nach Art 100 Grundgesetz (GG). Auch in einem solchen Fall besteht in Ansehung der o.g. Entscheidungen des BVerfG kein Anlass, das Verfahren mit Hilfe eines Rechtsanwalts zu betreiben, wenn lediglich die Entscheidung des BVerfG abgewartet werden muss. Allerdings setzt das voraus, dass nicht bereits vorher die Einschaltung eines Rechtsanwalts geboten war. Wenn der Beklagte - wie hier - Widerspruchsentscheidungen trifft, ist eine Klageerhebung bereits deshalb erforderlich, um die Bescheide nicht bestandskräftig werden zu lassen (mit der Folge, dass diese dann wegen § 79 Abs. 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz - BVerfGG - "unberührt" blieben und keine nachträgliche Korrektur mehr verlangt werden kann). Hierfür ist im Regelfall die Einschaltung eines Rechtsanwalts nicht zu beanstanden.

Der Senat lässt offen, ob es der Beauftragung eines Rechtsanwalts auch bedurft hätte, wenn der Beklagte entweder im Widerspruchsverfahren oder auf Anregung des Gerichts das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des BVerfG über den Vorlagebeschluss des LSG Nordrhein-Westfalen beantragt hätte und damit deutlich gewesen wäre, dass den Klägern keine Rechtsnachteile entstehen können. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor, vielmehr wurde eine Überprüfung der Höhe der Grundleistungen von dem Beklagten und dem SG als unzulässige Klageänderung angesehen. Deshalb kann auch offen bleiben, ob es sich um ein rechtsmissbräuchliches Verhalten der anwaltlich vertretenen Kläger gehandelt hat, die einen Ruhensantrag von der vorherigen Bewilligung von PKH abhängig machen wollten. [...]