OVG Niedersachsen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 21.12.2010 - 11 ME 437/10 - asyl.net: M18271
https://www.asyl.net/rsdb/M18271
Leitsatz:

Vorläufiger Rechtsschutz gegen eine Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen, da nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Behörde zu Unrecht von einer gebundenen und nicht von einer Ermessensausweisung ausgegangen ist.

Schlagwörter: Ausweisung, Ermessensausweisung, türkische Staatsangehörige, Unionsbürgerrichtlinie, vorläufiger Rechtsschutz, Beurteilungszeitpunkt, Abänderungsantrag, Assoziationsberechtigte
Normen: VwGO § 80 Abs. 7 S. 2, ARB 1/80 Art. 7, RL 2004/38/EG Art. 28 Abs. 3, AufenthG § 56 Abs. 1 S. 4, AufenthG § 82 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Rechtmäßigkeit der umstrittenen, vom Antragsgegner mit Bescheid vom 14. Mai 2009 in der Fassung der Ergänzung vom 16. September 2010 verfügten, sofort vollziehbaren Ausweisung des 1982 geborenen Antragstellers ist vom Verwaltungsgericht inhaltlich erneut nach dem aktuellen Stand überprüft und unverändert als mutmaßlich nach Maßgabe des nationalen Aufenthaltsrechts rechtmäßig, insbesondere ermessensfehlerfrei angesehen worden. Es sei, so hat das Verwaltungsgericht weiter ausgeführt, (nunmehr) aber nach erstmaliger Feststellung der Assoziationsberechtigung des Antragstellers gemäß Art. 7 ARB 1/80 offen, ob für ihn deshalb der Ausweisungsschutz nach Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 - sog. Unionsbürgerrichtlinie - entsprechend gelte; die danach erforderliche qualifizierte Gefahr gehe von ihm nicht aus. Da die verbindliche Entscheidung über die entsprechende Anwendung des Art. 28 Abs. 3 Unionsbürgerrichtlinie auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige allein dem Europäischen Gerichtshof obliege, eine solche Entscheidung aber noch ausstehe, sei hier von offenen Erfolgsaussichten auszugehen und eine Interessenabwägung vorzunehmen, die zu Gunsten des Antragstellers ausfalle.

Ob die Einwände des Antragsgegners gegen das Ergebnis der vom Verwaltungsgericht vorgenommenen Interessenabwägung durchgreifen (vgl. zu einer vergleichbaren Fallgestaltung den Senatsbeschl. v. 8.1.2008 - 11 ME 277/07 -, ZAR 2008, 240 f.), kann offen bleiben. In diesem Fall ist auch im Beschwerdeverfahren nach § 146 Abs. 4 VwGO - wie hier - zwingend ergänzend das Vorbringen des Antragstellers zu würdigen, wonach sich die Entscheidung des Verwaltungsgerichts jedenfalls aus anderen Gründen als richtig erweise (vgl. nur Happ, in: Eyermann (Hrsg.), VwGO, Aufl., § 146, Rn. 27, m. w. N.), weil nämlich seine Ausweisung mutmaßlich zu Unrecht als gebundene und nicht als Ermessensentscheidung erfolgt, schon deshalb rechtswidrig und dem dagegen gerichteten vorläufigen Rechtsschutzantrag zu entsprechen sei. Insoweit ist dem Antragsteller zu folgen.

Dabei ist nicht zu entscheiden, ob nicht schon die dem Antragsgegner beim Erlass des Ausgangsbescheides im 14. Mai 2009 bekannte Sachlage, nämlich die im Frühjahr 1986 im Alter von drei Jahren erfolgte Einreise des Antragstellers in das Bundesgebiet und sein anschließender seit 1990 legaler Daueraufenthalt, ein hinreichender Anlass gewesen ist, über die nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urt. v. 23.10.2007 - 1 C 10/07 -, BVerwGE 129, 367 ff.) gebotene extensive Annahme eines von der Regel des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG abweichenden Ausnahmefalles zu einer - vom Antragsgegner ursprünglich sinngemäß verneinten - Ermessensausweisung zu gelangen (vgl. ergänzend Senatsurt. v. 25.11.2010 - 11 LB 481/09 -, juris). Nachdem nunmehr die Beteiligten übereinstimmend von einer - über eine frühere Zugehörigkeit seines verstorbenen Vaters zum regulären Arbeitsmarkt abgeleitete - Assoziationsberechtigung des Antragstellers aus Art. 7 ARB 1/80 ausgehen und jedenfalls deshalb nur eine Ermessensausweisung in Betracht kommt (vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 22.10.2009 - 1 C 26/08 -, BVerwGE 135, 137 ff.), ist eine abweichend hiervon als gebundene Entscheidung ergangene Ausweisung als solche (unstreitig) nicht mehr rechtmäßig. Soweit der Antragsgegner sinngemäß vorträgt, bereits sein Ausgangsbescheid habe entsprechende Ermessenserwägungen enthalten, die im September 2010 nachträglich lediglich im zulässigen Umfang nach § 114 Satz 2 VwGO ergänzt worden seien, kann diesem Vorbringen nicht gefolgt werden. Im Ausgangsbescheid vom 14. Mai 2009 wird das Vorliegen eines Ausnahmefalles i.S.d. § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG und damit die Möglichkeit einer Ermessensentscheidung gerade verneint. Die damaligen einzelfallbezogenen Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit ersetzen als gesonderte, gebundene Rechtsprüfung die fehlende Ermessensausübung nicht (vgl. Senatsurt. v. 25.11.2010, a.a.O.). Ebenso wenig ist hier nachträglich eine erstmalige Ermessensausübung durch den Schriftsatz vom 16. September 2010 rechtlich zulässig gewesen. Ob dies überhaupt möglich ist, braucht hier ebenfalls nicht geklärt zu werden (ablehnend OVG Münster, Urt. v. 29.6.2010 - 18 A 1450/09 - juris, m. w. N.). Jedenfalls muss dazu nach Erlass des Bescheides objektiv eine Änderung der Sach- oder Rechtslage eingetreten sein (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.11.2007 - 1 C 45/06 -, BVerwGE 130, 20 ff.). Dass nachträglich vom Ausländer neue Erkenntnisse, die schon im Zeitpunkt des Erlasses des Ausgangsbescheides bekannt waren, vorgetragen werden - wie hier -, reicht hingegen nicht aus. Entweder kann die Ausländerbehörde diese Erkenntnisse nach Maßgabe des § 82 Abs. 1 AufenthG sowie der unionsrechtlichen Vorgaben auch zukünftig unberücksichtigt lassen (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, § 82 AufenthG, Rn. 33 ff.) oder aber sie kann diese Erkenntnisse zum Anlass nehmen, ihren vorherigen Bescheid aufzuheben, etwaige gerichtliche Verfahren für erledigt zu erklären und ggf. einen dem aktuellen Sachstand, hier insbesondere auch den Berichten über die erneute Straffälligkeit des Antragstellers, seine unzureichende Mitwirkung bei der Beschaffung/Vorlage eines gültigen türkischen Passes sowie seine familiäre Situation, angepassten neuen Bescheid zu erlassen. Da der Antragsgegner so jedoch (bislang) nicht vorgegangen ist, sondern stattdessen seine als gebundene Entscheidung ergangene Ausweisung vom 14. Mai 2009 in Reaktion auf die erstmals im August 2010 erfolgte Berufung des Antragstellers auf seine Assoziationsberechtigung im September 2010 um Ermessenserwägungen "ergänzt" hat, bestehen sowohl durchgreifende Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Ausweisung als auch der daran anknüpfenden Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung, da bei einer Aufhebung der Ausweisung die Niederlassungserlaubnis des Antragstellers "wiederaufleben" würde (§ 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). [...]