VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 26.10.2010 - 2 K 2158/09 - asyl.net: M18237
https://www.asyl.net/rsdb/M18237
Leitsatz:

Yeziden sind als Angehörige einer nicht-moslemischen religiösen Gruppe seit 2003 zunehmend im Irak unter Druck geraten, zur Zielscheibe konfessioneller Gewalt geworden und in der Realität landesweit einem spezifischen Verfolgungs- und Vertreibungsdruck ausgesetzt. Der irakische Staat kann mangels effektiver Kontrolle über das gesamte Staatsgebiet keinen Schutz bieten. Daher Flüchtlingsanerkennung für den vorverfolgten Kläger unter Anwendung des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Irak, Kurden, Yeziden, Ninive, Gruppenverfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, religiöse Verfolgung, Mosul, Schutzfähigkeit, interne Fluchtalternative, Vorverfolgung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Sicherheitslage,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4 Bst. c
Auszüge:

[...]

Die Klage ist zulässig und begründet. Dem Kläger steht nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG i. V. m. § 3 AsylVfG zu. Der Bescheid des Bundesamtes der Beklagten vom 04.12.2009 ist daher insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO). [...]

Gemessen an diesen rechtlichen Maßstäben steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger wegen einer von nichtstaatlichen Akteuren ausgehenden und an seine yezidische Religion anknüpfenden, bereits erfolgten bzw. unmittelbar bevorstehenden Bedrohung seines Lebens und seiner körperlicher Unversehrtheit ausgereist ist.

Das Gericht hat zunächst – ebenso wie das Bundesamt – keine Zweifel an der Zugehörigkeit des Klägers zur yezidischen Religionsgemeinschaft. [...] Der Kläger hat des Weiteren – in Einklang mit seinen Angaben bei seiner Anhörung im Verwaltungsverfahren – in der mündlichen Verhandlung widerspruchsfrei und ohne Steigerung im Sachverhalt und damit glaubhaft vorgetragen, dass er am 15.08.2009 während der gemeinsam mit vier ebenfalls yezidischen Arbeitskollegen verrichteten Arbeit auf einer Baustelle in einem Stadtteil von Mosul von vier vermummten und mit Maschinenpistolen bewaffneten, arabisch sprechenden Personen bedroht und mit Waffengewalt gezwungen wurde, die Arbeit sofort abzubrechen. [...] Es ist ebenfalls nachvollziehbar, dass er die Verschalungen mit eigenen Holzteilen gemeinsam mit einem Partner und mit anderen Yeziden durchführte, wobei sie die Aufträge von Arabern bekamen.

Der von dem Kläger geschilderte Vorfall lässt sich mit den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen über die Situation der Yeziden im Irak vereinbaren und ist auch deshalb glaubhaft (z.B. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11.04.2010; Europäisches Zentrum für Kurdische Studien vom 27.11.2006 und 26.05.2008 an VG Köln, in Dok. Irak).

Yeziden sind als Angehörige einer nicht-moslemischen religiösen Gruppe seit 2003 zunehmend unter Druck geraten, zur Zielscheibe konfessioneller Gewalt geworden und in der Realität landesweit einem spezifischen Verfolgungs- und Vertreibungsdruck ausgesetzt. Das Auswärtige Amt führt in dem vorbezeichneten Lagebericht aus, die Zahl der Yeziden liege nach eigenen Angaben bei 200.000 (vor 2003 noch bei 500.000); die Hauptsiedlungsgebiete sind in dem Bescheid der Beklagten dargestellt. Allein am 15. August 2007 starben infolge des schwersten Sprengstoffattentats seit 2003 neueren Schätzungen zufolge über 400 Angehörige der yezidischen Minderheit in der Provinz Ninive. Bis in die jüngste Zeit werden Gewalttaten gegen Yeziden gemeldet.

Vor diesem Hintergrund ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger vor seiner Flucht einer unmittelbaren individuellen Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure aufgrund seiner Religion ausgesetzt war und damit den Irak vorverfolgt verlassen hat. Entscheidend ist, dass der von dem Kläger glaubhaft geschilderte Vorfall nach der Auskunftslage für die Vorgehensweise moslemischer Extremisten, die darauf abzielt, die yezidische Minderheit einzuschüchtern, typisch erscheint und der Kläger ihn als ernsthafte Drohung auffassen durfte. Der Kläger musste in der konkreten Situation erkennbar damit rechnen, getötet oder erheblich verletzt zu werden, falls er sich geweigert hätte, seine Bautätigkeit aufzugeben. Gleiches gilt für die etwaige Wiederaufnahme der Tätigkeit an einem der nächsten Tage. Von daher ist es für die Kammer nachvollziehbar, dass der eingeschüchterte Kläger seine eigentlich wirtschaftlich einträgliche Berufstätigkeit mit dem Verkauf seines Materials aufgegeben und den Irak verlassen hat. Der Kläger hat dies bei seiner informatorischen Befragung dadurch deutlich gemacht, dass er erklärt hat, er habe nach dem Vorfall einfach Angst gehabt, getötet zu werden bzw. habe keine Aufträge mehr annehmen wollen, weil ihm die Arbeit zu gefährlich geworden sei.

Effektiven Schutz im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 c) AufenthG konnte der irakische Staat dem Kläger nicht bieten. Die irakischen Behörden sind dazu in Ermangelung effektiver Kontrolle über das gesamte Staatsgebiet, aufgrund des landesweit schleppenden Aufbaus funktionsfähiger Sicherheits- und Justizsysteme sowie infolge mangelnder Akzeptanz der politischen und administrativen Entscheidungen nicht in der Lage (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.04.2010 a.a.O.; VG Karlsruhe, Urteil vom 06.09.2010 – A 3 K 2392/09 -).

Der vorverfolgt ausgereiste Kläger kann auch nicht darauf verwiesen werden, in einem anderen Landesteil des Irak Schutz zu suchen. Eine Übersiedlung in die unter kurdischer Autonomie stehenden Provinzen des Nordirak scheidet für den Kläger schon deshalb aus, weil er dort über keine verwandtschaftlichen Beziehungen verfügt. Hinzu kommt, dass die Behörden dort mit der Versorgung der Flüchtlinge überfordert sind und der Zugang zu und die legale Niederlassung in den unter kurdischer Verwaltung stehenden Provinzen insbesondere für irakische Staatsangehörige aus dem Zentral- oder Südirak weiterhin mit erheblichen Problemen verbunden ist und vielen dieser Personen aus politischen oder demographischen Gründen oder aufgrund von Sicherheitsbedenken die Einreise oder Niederlassung verweigert wird. (vgl. UNHCR – Position zum Schutzbedarf irakischer Asylsuchender und zu den Möglichkeiten der Rückkehr irakischer Staatsangehöriger in Sicherheit und Würde vom 22.05.2009, in Dok. Irak).

Auch andere Regionen des Irak stehen für den Kläger als inländische Fluchtalternative nicht zur Verfügung. Zur Überzeugung des Gerichts kann hinsichtlich des vorverfolgt ausgereisten Klägers unter Anwendung des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs nicht mit der insoweit erforderlichen hinreichenden Sicherheit ausgeschlossen werden, dass er auch bei einem Ausweichen etwa in die Sheikhan-Region erneut an seine Religionszugehörigkeit anknüpfende massive Beeinträchtigungen zu gegenwärtigen hätte. Zwar leben gerade in dem Sheikhan-Gebiet insgesamt viele Yeziden und wird die Sicherheitslage dort inzwischen als "vergleichsweise stabil" und "derzeit eher ruhig" eingeschätzt (vgl. Auskunft des Europäischen Zentrums für kurdische Studien an das VG München vom 17.02.2010, in Dok. Irak), jedoch kann auch in diesem Gebiet die erforderliche Sicherheit für den Kläger nicht gewährleistet werden. Das Gebiet um Sheikhan ist nach den Ausführungen des Europäischen Zentrums für kurdische Studien zwischen Kurden und Arabern immer noch umstritten. Zudem weist auch das Auswärtige Amt in dem aktuellen Lagebericht vom 11.04.2010 darauf hin, dass sich Yeziden im Nordirak erheblichem Verfolgungsdruck durch Extremisten, aber auch z. B. durch die Sicherheitskräfte der irakisch-kurdischen Partei KDP (sog. Peshmerga) ausgesetzt sehen.

Da der Anspruch des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf einem individuellen (Einzel-)Verfolgungsschicksal beruht, kommt es auf die Frage nicht an, ob Angehörige der yezidischen Religionsgemeinschaft im Irak einer Gruppenverfolgung ausgesetzt sind. [...]