VG Saarland

Merkliste
Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 24.11.2010 - 6 K 90/10 - asyl.net: M18233
https://www.asyl.net/rsdb/M18233
Leitsatz:

1. Die in der Türkei einer Frau drohende Zwangsverheiratung durch die Familie stellt eine geschlechtsspezifische Verfolgung dar, durch die das Leben, zumindest aber die körperliche Unversehrtheit und die Freiheit bedroht sind.

2. Der türkische Staat ist derzeit noch nicht in der Lage, vor Ehrenmorden effektiven Schutz zu bieten.

3. Bei einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung mit Suizidgefahr ist ohne die Hilfe von Verwandten und Freunden eine inländische Fluchtalternative für eine alleinstehende Frau in einer westtürkischen Großstadt nicht gegeben, da der Aufbau einer menschenwürdigen Existenz ohne familiären Rückhalt ein gewisses Maß an persönlicher Stabilität erfordert.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Türkei, Kurden, alleinstehende Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Zwangsehe, Ehrenmord, Blutrache, interne Fluchtalternative, psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, Suizidgefahr, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Existenzgrundlage, Frauen,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 2, RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. d, RL 2004/83/EG Art. 7 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Die Klägerin hat zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft gemacht, dass ihr im Falle einer Rückkehr in die Türkei geschlechtsspezifische Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1, 3, 4 Buchst. c AufenthG droht, die von ihrer Familie - insbesondere dem Vater und den Brüdern - ausgeht, durch die ihr Leben, zumindest aber ihre körperliche Unversehrtheit und Freiheit aktuell bedroht wird. Zwangsverheiratungen kommen insbesondere im Osten und im Südosten der Türkei in nicht geringem Umfang vor. Die Klägerin entstammt aus einer Familie, in der es traditionell als richtig angesehen wird, für die Töchter einen "geeigneten" Ehemann auszusuchen und sie notfalls auch mit Zwang dazu zu bringen, ihn zu heiraten. Nach den Verhältnissen in ihrem Heimatort gebieten, nachdem die Klägerin von zu Hause weggegangen und es nicht zu der Heirat mit ihrem damaligen Verlobten gekommen ist, das dort vorhandene traditionelle Selbstverständnis und archaisch-patriarchalische Vorstellungen, für sie einen Ehemann auszusuchen und sie auch gegen ihren Willen mit ihm zu verheiraten, um die Beeinträchtigung der Familienehre zu beseitigen. Es kann in diesem Zusammenhang nicht ausgeschlossen werden, dass ihr in letzter Konsequenz bei einer Weigerung, die geplante Ehe einzugehen, eine Tötung durch Familienmitglieder zur Wiederherstellung der "Familienehre" droht. In der Türkei kommt es immer noch zu so genannten "Ehrenmorden", d.h. insbesondere zu der Ermordung von Frauen und Mädchen, die eines sog. "schamlosen Verhaltens" aufgrund einer (sexuellen) Beziehung vor der Eheschließung verdächtigt werden (vgl. den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11.04.2010, S. 17). Betroffen sind auch Frauen, die sich einer vorgesehenen Zwangsheirat widersetzt haben oder verdächtigt werden, voreheliche sexuelle Kontakte gehabt zu haben (vgl. dazu bereits den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11.01.2007, S. 33). Nach dem 2006 erstellten und Anfang 2007 veröffentlichten Bericht einer "Ehrenmord-Kommission" des türkischen Parlaments sollen 1.190 Ehrenmorde und Blutrachedelikte in den Jahren 2001 bis 2006 begangen worden sein. Nach den Angaben des türkischen Justizministeriums von Oktober 2009 sind allein in dem Zeitraum von Januar bis Juli 2009 insgesamt 953 Personen aufgrund von Morden an Frauen verurteilt worden. Für das Jahr 2007 sind 183 Ehrenmorde an Frauen registriert worden. Hinzu kommen die Ehrenmorde, die als Selbsttötung getarnt werden (vgl. den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11.04.2010, S. 17).

Selbst wenn man im vorliegenden Fall eine konkrete Gefahr der Klägerin, Opfer eines Tötungsdelikts zu werden, verneinen würde, sind die im Zusammenhang mit einer aufgenötigten Eheschließung einhergehenden Rechtsverletzungen, die sich nicht nur im Bereich der körperlichen Unversehrtheit, sondern auch auf das Rechtsgut Freiheit, verstanden als Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, auswirken, als für die Flüchtlingsanerkennung erheblicher Eingriff anzusehen. Eine Zwangsverheiratung kommt einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte (vgl. Art. 9 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie) gleich, da sie insbesondere die Anwendung physischer und psychischer Gewalt mit einschließt und eine individuelle und selbstbestimmte Lebensführung unmöglich wird (vgl. VG Hannover, Urteile vom 13.01.2010 - 1 A 3954/06 - und vom 30.01.2008 - 1 A 4835/05 -, jeweils bei Juris). Sie stellt damit "Verfolgung" im Sinne der Qualifikationsrichtlinie dar, die an den Verfolgungsgrund der Geschlechtszugehörigkeit und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe - ledige Frauen aus Familien, deren traditionelles Selbstverständnis bei sog. "schamlosem Verhalten" die Bereinigung der Familienehre durch Zwangsverheiratung gebietet - anknüpft (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG, Art. 9 Abs. 2 i.V.m. Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Qualifikationsrichtlinie) (vgl. VG München, Urteil vom 20.06.2007 - M 24 K

07.50265 -, bei Juris).

Ein ausreichender Schutz der Klägerin vor der ihr drohenden Zwangsverheiratung in der Türkei ist nicht gewährleistet. Ein solcher wäre nur dann zu bejahen, wenn der türkische Staat erwiesenermaßen in der Lage und willens ist, Schutz vor der Verfolgung zu bieten (§ 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG). Dabei ist zu berücksichtigen, ob der Staat geeignete Schritte eingeleitet hat, um die Verfolgung generell zu verhindern, ob er also beispielsweise für wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung und Strafverfolgung und Ahndung von Verfolgungshandlungen gesorgt hat und Zugang zu diesem Schutz besteht (vgl. Art. 7 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie). Zwar sind nach der Gesetzeslage in der Türkei Zwangsehen verboten und unter Zwang zustande gekommene Ehen können angefochten werden. Mit diesen und weiteren Vorschriften zeigt der türkische Staat seine Bereitschaft, die Eingehung von Zwangsehen zu bekämpfen. Auch werden Ehrenmorde inzwischen öffentlich missbilligt, die Strafandrohung ist verschärft worden. Des Weiteren könnten die generell bei Gewalt gegen Frauen steigenden Zahlen ein Indiz dafür sein, dass mehr Straftaten in der Türkei bekannt und verfolgt werden. Damit zeigt sich der türkische Staat zwar willens, Schutz vor Verfolgung zu bieten. Allein eine Anpassung der Gesetzeslage an europäische Vorstellungen reicht jedoch nicht aus, um die jahrhundertealten patriarchalischen Strukturen nachhaltig zu verändern. In weiten Teilen der Türkei hinkt die gesellschaftliche Wirklichkeit noch deutlich hinter den letzten gesetzlichen Entwicklungen her (vgl. VG München (Fn. 5); sowie VG Darmstadt, Urteil vom 30.11.2007 - 9 E 143/07.A -, bei Juris). Nicht zuletzt die oben erwähnte Zahl der Ehrenmorde (gegen Frauen) bis in die jüngere Zeit zeigt, dass von einem wirksamen Schutz vor Zwangsverheiratung in der Türkei derzeit noch nicht gesprochen werden kann.

Der Klägerin steht auch keine inländische Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4, letzter Halbsatz AufenthG) zur Verfügung. Sie kann nicht darauf verwiesen werden, in andere Landesteile der Türkei, beispielsweise nach Istanbul oder in die westlichen Touristengebiete, auszuweichen. Unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Umstände ist ihr dies nicht zumutbar. Zunächst ist festzustellen, dass es gegen die Bedrohung mit Ehrenmord keine absolut sicheren Ausweichmöglichkeiten in der Türkei oder im Ausland gibt, wie etwa in Istanbul oder auch in Deutschland begangene Ehrenmorde gezeigt haben. Ehrenmorde finden in allen Landesteilen der Türkei statt. Die meisten Täter oder Opfer stammen aus dem Südosten der Türkei. Es ist auch bei einem Aufenthalt der Klägerin in der Westtürkei nicht auszuschließen, dass ihr Vater, ihre Brüder oder andere Familienangehörige sie dort ausfindig machen, zwangsweise in die Heimatregion verbringen oder töten. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass die Familie der Klägerin offenbar in der Annahme, diese sei in die Türkei zurückgekehrt, bereits eine Suchanzeige in einer in Hatay erscheinenden Zeitung, wo sie Bekannte der Klägerin aus deren Ausbildungszeit vermuten, aufgegeben hat. Die Frage, ob eine Großstadt in der Türkei der Klägerin hinreichende Sicherheit vor Verfolgung bieten kann, kann jedoch letztlich offen bleiben. Unabhängig davon teilt das Gericht nicht die Auffassung des Bundesamts, die Klägerin könne sich der ihr drohenden Verfolgung durch eine Aufenthaltsnahme in einer westtürkischen Großstadt unter Abtauchen in die Anonymität entziehen. Die Klägerin hat dort keine Verwandten, unter deren Schutz sie sich stellen könnte und die in der Lage wären, sie aufzunehmen und zumindest für eine Übergangszeit zu versorgen. Vor allem aber ist unter Berücksichtigung der bei ihr festgestellten psychischen Erkrankung nicht erkennbar, wie sie ohne Hilfe von Freunden oder Verwandten ihr tägliches Überleben in menschenwürdiger Weise gestalten könnte. Zwar gibt es in der Türkei Behandlungsmöglichkeiten für psychische Erkrankungen einschließlich der posttraumatischen Belastungsstörung (ständige Rechtsprechung der Kammer, vgl. etwa das Urteil vom 02.09.2010 - 6 K 1965/09 -). Allerdings ist im Fall der Klägerin zweifelhaft, ob für sie eine Therapie in der Türkei möglich und erreichbar ist. Der Aufbau einer menschenwürdigen Existenz im Westen der Türkei ohne familiären Rückhalt erfordert ein gewisses Maß an persönlicher Stabilität (vgl. VG Darmstadt (Fn. 7)). Diese Voraussetzung ist bei der Klägerin in ihrem derzeitigen Zustand nicht gegeben. Nach der Psychologischen Stellungnahme vom 29.11.2010 leidet die Klägerin an einer schweren Traumatisierung mit suizidalen Tendenzen. Durch ihr Wissen um die kulturell bedingten Regeln ihrer Heimat und die schuldzuweisenden und abweisenden Reaktionen ihrer Eltern und Brüder gebe es nur zwei Alternativen für sie: Selbstaufgabe ihrer Persönlichkeit, d.h. Rückkehr in die Türkei und Zwangsheirat, oder Verfolgung und Tod bzw. Selbstmord. Neben der Behandlung des Traumas sei es für sie überlebensnotwendig, eine neue Zugehörigkeit in einem sozialen System zu finden, das ihr ermöglicht, eigene Entscheidungen für ihre Lebensführung zu treffen. Aus psychologischer Sicht könne sie diesen Schritt nicht in ihrem Heimatland vollziehen, auch nicht in einer Großstadt, in der sie sich nicht sicher vor einem Auffinden durch Familienangehörige fühle. Sie sei völlig überfordert, ein eigenständiges Leben allein in ihrem Heimatland aufzubauen. Eine zwangsweise Rückkehr würde - so die Einschätzung der behandelnden Psychotherapeutin - zu psychischer Dekompensation und mit aller Wahrscheinlichkeit in eine akute suizidale Krise führen. Angesichts dieser besonderen Umstände des Einzelfalls hält das Gericht es für ausgeschlossen, dass die psychisch instabile Klägerin in der Westtürkei ohne die Hilfe von Verwandten oder Freunden Fuß fassen und ein menschenwürdiges Leben führen könnte (vgl. auch VG Düsseldorf, Urteil vom 23.10.2007 - 17 K 1771/06.A -, bei Juris). Eine inländische Fluchtalternative besteht daher für sie nicht. [...]