BVerwG

Merkliste
Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 16.11.2010 - 1 C 20.09 - asyl.net: M18199
https://www.asyl.net/rsdb/M18199
Leitsatz:

1. Im Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie ist bei der Berechnung des Unterhaltsbedarfs (Sicherung des Lebensunterhalts) der Freibetrag für Erwerbstätige (§ 11 Abs. 2 S. 1 Nr. 6 i.V.m. § 30 SGB II) nicht zu Lasten des Ausländers anzurechnen. Insoweit entspricht der Senat der neueren Rechtsprechung des EuGH (siehe Urteil vom 04.03.2010 - Chakroun, C-578/08 [ASYLMAGAZIN 2010, S. 167 ff.]).

2. Ein Anspruch auf Familiennachzug setzt in der Regel voraus, dass jedenfalls der Lebensunterhalt der familiären Bedarfsgemeinschaft ohne Inanspruchnahme öffentlicher Sozialleistungen bestritten werden kann. Die Entscheidung des OVG Berlin-Brandenburg, nach welcher die Sicherung des Unterhaltsbedarfs des nachziehenden Ausländers selbst ausreicht, wird aufgehoben.

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Familienzusammenführung, Ehegattennachzug, Sicherung des Lebensunterhalts, Unterhaltsbedarf, Bedarfsgemeinschaft, Leistungsbezug, Erwerbstätigenfreibetrag, Regelerteilungsvoraussetzungen, Ausnahme, Nebenbestimmung, Erlöschen, Werbungskosten
Normen: GG Art. 6, AufenthG § 2 Abs. 3, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 12 ABs. 2, AufenthG § 27 Abs. 3, AufenthG § 30 bs. 1, AufenthG § 30 Abs. 3, AufenthG § 31, AufenthG § 55 Abs. 2 Nr. 6, GR-Charta Art. 7, EMRK Art. 8, BKGG § 6a, SGB II § 9 Abs. 2, SGB II § 11, SGB II § 30, VwVfG § 44, RL 2003/86/EG Art. 7, 2003/86/EG Art. 16, 2003/86/EG Art. 17
Auszüge:

[...]

b) Das Oberverwaltungsgericht hat aber die Erteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zu Unrecht bejaht. Es hat rechtsfehlerhaft nur auf den eigenen Bedarf des Klägers abgestellt und nicht berücksichtigt, dass es nach der gesetzlichen Regelung auf die Sicherung des Lebensunterhalts der in einer Bedarfsgemeinschaft zusammen lebenden Kernfamilie - hier: bestehend aus dem Kläger, seiner Ehefrau und dem minderjährigen Sohn H. - ankommt. Der Lebensunterhalt der Kernfamilie kann im vorliegenden Fall jedoch nicht ohne Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB II bestritten werden.

aa) Nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Dies ist nach § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG der Fall, wenn der Ausländer ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Dabei bleiben die in § 2 Abs. 3 Satz 2 AufenthG aufgeführten öffentlichen Mittel außer Betracht. Es bedarf mithin der positiven Prognose, dass der Lebensunterhalt des Ausländers in Zukunft auf Dauer ohne Inanspruchnahme anderer öffentlicher Mittel gesichert ist. Dies erfordert einen Vergleich des voraussichtlichen Unterhaltsbedarfs mit den voraussichtlich zur Verfügung stehenden Mitteln. Dabei richtet sich die Ermittlung des Unterhaltsbedarfs und des zur Verfügung stehenden Einkommens seit dem 1. Januar 2005 bei erwerbsfähigen Ausländern im Grundsatz nach den entsprechenden Bestimmungen des Zweiten Buchs des Sozialgesetzbuches - SGB II - (vgl. Urteile vom 26. August 2008 a.a.O. Rn. 19 und vom 7. April 2009 - BVerwG 1 C 17.08 - BVerwGE 133, 329 Rn. 29; vgl. aber unten Rn. 33). Erstrebt ein erwerbsfähiger Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis zum Zusammenleben mit seinen Familienangehörigen in einer häuslichen Gemeinschaft oder lebt er - wie der Kläger - bereits in einer solchen, so gelten für die Berechnung seines Anspruchs auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II grundsätzlich die Regeln über die Bedarfsgemeinschaft nach § 9 Abs. 1 und 2 i.V.m. § 7 Abs. 3 SGB II.

Da sich im Grundsatz nach den Maßstäben des Sozialrechts bemisst, ob der Lebensunterhalt des Ausländers gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gesichert ist, scheidet eine isolierte Betrachtung des Hilfebedarfs für jedes Einzelmitglied der familiären Gemeinschaft aus. Vielmehr gilt in einer Bedarfsgemeinschaft, wenn deren gesamter Bedarf nicht gedeckt werden kann, jede Person im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Gesamtbedarf als hilfebedürftig (§ 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II). Insofern ergibt sich schon aus der Regelung in § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG, dass im Aufenthaltsrecht die Sicherung des Lebensunterhalts des erwerbsfähigen Ausländers allgemein den Lebensunterhalt des mit ihm in familiärer Gemeinschaft lebenden Ehepartners und der unverheirateten Kinder bis zum 25. Lebensjahr umfasst. Dies ist im Urteil des Senats vom gleichen Tag im Verfahren BVerwG 1 C 21.09, in dem es um die Sicherung des Lebensunterhalts bei Erteilung einer Niederlassungserlaubnis geht, im Einzelnen ausgeführt. Hierauf wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.

Im Bereich des Familiennachzugs zeigt - unabhängig von diesen allgemeinen Erwägungen - auch die in § 2 Abs. 3 Satz 4 AufenthG getroffene Regelung, dass bei der Sicherung des Lebensunterhalts auf den Gesamtbedarf der Kernfamilie des Ausländers abzustellen ist. Nach dieser Vorschrift werden bei der Erteilung und Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug "Beiträge der Familienangehörigen zum Haushaltseinkommen berücksichtigt". Wie diese Bestimmung zu verstehen ist, ist zwar im Einzelnen umstritten. Insbesondere ist fraglich, ob unter Familienangehörige im Sinne dieser Vorschrift - entsprechend der Terminologie in den Bestimmungen zum Familiennachzug - (auch) der nachziehende Familienangehörige fällt (so Hailbronner, AuslR, § 2 AufenthG, Stand April 2008, Rn. 41) oder ob darunter nur sonstige Familienangehörige fallen. Dies kann hier aber ebenso offenbleiben wie die Frage, ob mit Beiträgen im Sinne dieser Vorschrift sämtliche Einkünfte des Familienangehörigen oder nur die den eigenen Bedarf übersteigenden Einkünfte gemeint sind. Denn jedenfalls macht die Verwendung des Begriffs "Haushaltseinkommen" deutlich, dass der Gesetzgeber insoweit von einer einheitlichen Betrachtung der häuslichen Familiengemeinschaft ausgeht. [...]

d) Für die Entscheidung des Rechtsstreits kommt es somit entscheidend darauf an, ob im vorliegenden Fall ausnahmsweise vom Regelerfordernis der Unterhaltssicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abzusehen ist. Davon ist insbesondere dann auszugehen, wenn besondere, atypische Umstände vorliegen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, aber auch dann, wenn höherrangiges Recht wie der Schutz von Ehe und Familie oder die unionsrechtlichen Vorgaben der Familienzusammenführungsrichtlinie (Richtlinie 2003/86/EG) es gebieten (vgl. Urteil vom 26. August 2008 a.a.O. Rn. 27). Diese Frage hat das Berufungsgericht - nach seiner Rechtsauffassung folgerichtig - nicht geprüft. Zwar hat es im Rahmen der Versagungsgründe des § 27 Abs. 3 AufenthG (UA S. 17 ff.) eine Prüfung der Umstände des Einzelfalls vorgenommen. Die hierzu angestellten Erwägungen reichen aber nicht aus, um alle für einen Ausnahmefall nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG maßgeblichen Gesichtspunkte zu erfassen. Der Rechtsstreit war daher zur Nachholung der erforderlichen Feststellungen an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Für das neue Berufungsverfahren weist der Senat auf Folgendes hin: [...]

Allerdings sind bei der Frage, ob eine Ausnahme von der Regelvoraussetzung der Unterhaltssicherung zu bejahen ist, die in Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK und Art. 7 GR-Charta enthaltenen Wertentscheidungen zugunsten der Familie zu berücksichtigen. Damit müssen Ausnahmen vom Familiennachzug unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ausgelegt werden (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 11. Mai 2007 a.a.O.; Urteil vom 30. März 2010 - BVerwG 1 C 8.09 - NVwZ 2010, 964, zur Veröffentlichung in BVerwGE vorgesehen, Rn. 30 ff.). Dabei ist zugunsten des Klägers zu berücksichtigen, dass er seinen eigenen Unterhaltsbedarf in Deutschland decken kann. Das reicht aber für sich genommen noch nicht aus. Maßgeblich ist vielmehr, wie groß der Hilfebedarf der familiären Bedarfsgemeinschaft insgesamt ist und inwieweit der Kläger zur Reduzierung dieses Bedarfs beiträgt. Das hat das Berufungsgericht bisher nicht festgestellt. Insbesondere fehlen Feststellungen zum Einkommen der Ehefrau des Klägers. Weiterhin sind Feststellungen dazu von Bedeutung, ob und ggf. in welchem Umfang der Kläger seinen familiären Unterhaltsverpflichtungen während seines Türkeiaufenthalts von 1999 bis 2005 nachgekommen ist. Denn sie erleichtern die Prognose darüber, in welchem Umfang sich der Kläger auch zukünftig um die weitere Reduzierung der Bedarfslücke seiner Familienangehörigen bemühen wird, und erlauben damit eine Aussage zu den Erfolgsaussichten der wirtschaftlichen Integration. Auch insoweit fehlt es an Feststellungen des Berufungsgerichts. Weiter wird der Frage nachzugehen sein, ob die Familie auch in der Türkei leben könnte. Dabei sind die Dauer des Aufenthalts des Klägers, seiner Ehefrau und des Sohnes H. in Deutschland sowie der Umfang ihrer Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse zu würdigen. Allerdings dürfte die Tatsache, dass der inzwischen 17 Jahre alte Sohn seit 1994 in Deutschland aufgewachsen ist, ohne jede Feststellung zu seiner Integration und der familiären Gesamtsituation (nahende Volljährigkeit) für einen Ausnahmefall noch nicht genügen. Umgekehrt ist ein Ausnahmefall nicht schon wegen der Verstöße des Klägers gegen die deutsche Rechtsordnung, die zu seiner Ausweisung geführt haben, ausgeschlossen, nachdem die Ausländerbehörde die Wirkungen der Ausweisung befristet hat.

Bei der erforderlichen Berechnung des Hilfebedarfs der familiären Bedarfsgemeinschaft - bestehend aus dem Kläger, seiner Ehefrau und dem Sohn H. - wird das Berufungsgericht Folgendes zu berücksichtigen haben:

Der Senat hat in seinem Urteil vom 26. August 2008 - BVerwG 1 C 32.07 - (a.a.O. Rn. 19) entschieden, dass bei der Berechnung des zur Verfügung stehenden Einkommens der Freibetrag für Erwerbstätigkeit nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 i.V.m. § 30 SGB II und die Werbungskostenpauschale von 100 € nach § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II zu Lasten des Ausländers zu berücksichtigen sind. Die Notwendigkeit einer solchen Berücksichtigung ergibt sich aus dem Verweis des Aufenthaltsgesetzes auf die Bedarfs- und Einkommensermittlung nach den Regelungen des Sozialrechts und hier speziell des § 11 SGB II. Diese Entscheidung des nationalen Gesetzgebers bedarf aber der Korrektur, soweit dem höherrangiges Recht - hier Unionsrecht - entgegensteht. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in seinem Urteil vom 4. März 2010 in der Rechtssache Chakroun (C-578/08) für den Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie entschieden, dass der Begriff der "Sozialhilfeleistungen des ... Mitgliedstaats" ein autonomer Begriff des Unionsrechts ist, der nicht anhand von Begriffen des nationalen Rechts ausgelegt werden kann (Rn. 45). Nach dem Unionsrecht bezieht sich der Begriff "Sozialhilfe" in Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie auf Unterstützungsleistungen, die einen Mangel an ausreichenden festen und regelmäßigen Einkünften ausgleichen (Rn. 49). Unter diesen unionsrechtlichen Begriff der Sozialhilfe fällt aber nicht der Freibetrag für Erwerbstätigkeit nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 i.V.m. § 30 SGB II, der in erster Linie aus arbeitsmarkt- bzw. beschäftigungspolitischen Gründen gewährt wird und eine Anreizfunktion zur Aufnahme bzw. Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit haben soll (vgl. Urteil vom 26. August 2008 a.a.O. Rn. 22), nicht aber einen Mangel an ausreichenden festen und regelmäßigen Einkünften im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs ausgleicht. Dieser Freibetrag darf daher bei der Bemessung des Unterhaltsbedarfs im Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie nicht zu Lasten des nachzugswilligen Ausländers angerechnet werden.

Die in § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II pauschaliert erfassten Werbungskosten stellen hingegen im Grundsatz Aufwendungen dar, die die tatsächlich verfügbaren Einkünfte eines Erwerbstätigen reduzieren, sodass ihrer Berücksichtigung bei der Bemessung des Unterhaltsbedarfs die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht entgegensteht. Allerdings ist dem Gebot der individualisierten Prüfung jedes einzelnen Antrags auf Familienzusammenführung gemäß Art. 17 der Richtlinie dadurch Rechnung zu tragen, dass der Ausländer einen geringeren Bedarf als die gesetzlich veranschlagten 100 € nachweisen kann.

Im Übrigen weist der Senat auf die Regelung über den - allerdings antragsabhängigen - Kinderzuschlag in § 6a BKGG hin, durch die in Fällen, in denen nur der Lebensunterhalt von Kindern nicht vollständig aus eigenen Mitteln bestritten werden kann, über den Bezug eines (nach § 2 Abs. 3 Satz 2 AufenthG unschädlichen) Kinderzuschlags unter bestimmten Voraussetzungen eine Inanspruchnahme von Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II vermieden werden kann. Sollten die gesetzlichen Voraussetzungen des § 6a BKGG bei der Familie des Klägers vorliegen und sollte deshalb der Bezug von Leistungen nach dem SGB II entfallen, wäre der Lebensunterhalt im Sinne von § 2 Abs. 3 AufenthG als gesichert anzusehen.