VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 03.03.2010 - A 4 K 4052/08 - asyl.net: M18169
https://www.asyl.net/rsdb/M18169
Leitsatz:

1. Verurteilung des BAMF zum Selbsteintritt in einem Dublin-Verfahren, da der Antragsteller psychisch krank ist und der Unterstützung seines in Deutschland lebenden Bruders bedarf.

2. Die Überstellungsfrist wird durch vorläufigen Rechtsschutz unterbrochen, d.h. die Frist beginnt in diesen Fällen mit der Unanfechtbarkeit des Bescheids.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, Österreich, Selbsteintritt, Anfechtungsklage, Überstellungsfrist, subjektives Recht, Ermessen, Krankheit, psychische Erkrankung, Depression, Posttraumatische Belastungsstörung, Familienangehörige, Sonstige Familienangehörige,
Normen: AsylVfG § 27a, VwGO § 42 Abs. 1, VO 343/2003 Art. 19 Abs. 4 S. 1, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2
Auszüge:

[...]

d) Dem Kläger steht für seine Klage auch das erforderliche Rechtsschutzinteresse zu. Zwar bestimmt Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO, dass die Zuständigkeit zur Durchführung eines Asylverfahrens auf den Mitgliedstaat übergeht, in dem der Asylantrag eingereicht wurde, sofern die Überstellung nicht innerhalb von sechs Monaten ab der Stattgabe des Aufnahmegesuchs im Sinne des Art. 18 Abs. 7 Dublin II-VO durchgeführt wird (vgl. auch Art. 20 Abs. 2 Dublin II-VO). Seit der Stattgabe des Aufnahmegesuchs sind mittlerweile mehr als sechs Monate vergangen. Eine Verlängerung gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 2 und 3 oder Art. 20 Abs. 2 Dublin II-VO wegen Inhaftierung oder Flucht kommt im Falle des Klägers nicht in Betracht. Gleichwohl könnte die Beklagte auch gegenwärtig noch von Österreich die Rückübernahme des Klägers verlangen. Die Frist für die Durchführung einer Überstellung läuft nämlich nicht bereits ab der vorläufigen gerichtlichen Entscheidung, mit der die Durchführung des Überstellungsverfahrens ausgesetzt wird, wie dies im Falle des Klägers mit Beschluss vom 09.12.2008 in dem Verfahren A 4 K 3916/08 erfolgt ist. Vielmehr läuft diese Frist erst ab der gerichtlichen Entscheidung, mit der über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens entschieden wird und die dieser Durchführung nicht mehr entgegenstehen kann (EuGH, Urteil vom 29.01.2009 - C-19/08, NVwZ 2009, 639 - Petrosian). Der Fristenlauf beginnt somit erst ab Eintritt der Unanfechtbarkeit des Bescheides der Beklagten vom 04.11.2008. [...]

2. Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid des Bundesamtes vom 04.11.2008 ist nach dem Sach- und Streitstand, wie er sich zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung darstellt (§77 AsylVfG), rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat zu Unrecht den Asylantrag des Klägers als unzulässig abgelehnt und seine Abschiebung nach Österreich angeordnet. Vielmehr hätte das Bundesamt im Falle des Klägers - unabhängig davon, ob das Vorbringen des Klägers bei seiner Anhörung zutrifft, er sei nach der Asylantragstellung in Österreich wieder nach Pakistan zurückgekehrt - von seinem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO Gebrauch machen müssen. [...]

bb) Der Kläger wird durch die Nichtausübung des Selbsteintritts der Beklagten in seinen Rechten verletzt, weil mit Rücksicht auf Leben und Gesundheit des Klägers die Durchführung des Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO geboten ist (Ermessensreduktion auf Null).

Zu einer Ermessensreduzierung auf Null bei der Prüfung der Frage des Selbsteintritts können beispielsweise (drohende) schwerwiegende Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention führen (vgl. z.B. Filzwieser/Liebminger, a.a.O. Art. 3 K 8; Hruschka, Beilage zum Asylmagazin 1-2/2008, 9). Von Bedeutung sind weiterhin schwerwiegende Verstöße gegen die Verfahrens- und Aufnahmerichtlinie der Europäischen Union oder gegen nationale Grundrechte (vgl. VG Frankfurt a.M., Urteil vom 29.09.2009, a.a.O., juris Rn. 47).

Das Gericht entnimmt den vom Kläger im Gerichtsverfahren vorgelegten Bescheinigungen mehrerer Ärzte sowie des Fachzentrums für Psychologie und Heilkunde, dass die Überstellung nach Österreich mit nicht hinnehmbaren Risiken für Leben und Gesundheit des Klägers verbunden wäre. Der Kläger ist schwer psychisch krank. Die schwere psychische Erkrankung des Klägers führt dazu, dass der Kläger auf den Beistand einer nahestehenden Person angewiesen ist. Eine nahestehende Person ist mit dem Bruder ... in Deutschland, nach allen vorliegenden Erkenntnissen aber nicht in Österreich vorhanden.

Der Kläger wird in der Tagesklinik des Landschaftsverbandes Rheinland - Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie - teilstationär behandelt. Ausweislich der Stellungnahme des behandelnden Arztes Dr. ... vom 18.02.2010 geschieht dies aufgrund einer paranoiden Psychose (ICD 10: F 20.8 - "sonstige Schizophrenie"). Es besteht danach eine ausgeprägte psychotische Symptomatik mit massiven paranoiden Ängsten und Rückzugsverhalten. Konsekutiv zeige sich eine deutliche depressive Affektlage mit Freudlosigkeit, Antriebsmangel und Schlafstörungen bis hin zu Suizidgedanken. Der Kläger habe von traumatisierenden Erlebnissen vor sieben bis acht Jahren in Pakistan berichtet; er sei damals während einer Haft im Gefängnis von Polizisten mehrmals misshandelt worden. Seit diesen Ereignissen bestünden die zunehmende paranoide Symptomatik und depressive Symptome. Differentialdiagnostisch könne neben der Psychose auch eine zusätzlich bestehende posttraumatische Belastungsstörung diskutiert werden. Aus den vorgelegten Bescheinigungen des Fachzentrums für Psychologie und Heilkunde (zuletzt vom 04.02.2010) geht hervor, dass immer wieder (akute) Kriseninterventionen durchgeführt werden mussten. Die Schwere der Erkrankung wird untermauert durch die Bescheinigung des Dr. ... vom 16.02.2010 (akute psychische Dekompensation mit suizidalen Absichten, schwere Depression mit rezidivierenden Exazerbationen einer Psychose, dissoziative Identitätsstörung - F 44.81, G) sowie die Verordnung einer Krankenhausbehandlung durch die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie ... vom 28.01.2010 (Verdacht auf paranoide Schizophrenie; Differentialdiagnose: schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen).

Angesichts dessen hält das Gericht die Unterstützung des Klägers durch ein familiäres Umfeld für einen gewichtigen Umstand zum Schutz von Leben und Gesundheit des Klägers. Das Gericht schließt sich insoweit den Auffassungen des Dr. ... in seiner Bescheinigung vom 16.02.2010 sowie des Fachzentrums für Psychologie und Heilkunde in seinen Schreiben vom 18.09.2008, vom 29.11.2008 sowie vom 04.02.2010 an. Den Gefahren, die eine weitergehende soziale Isolation des Klägers hervorriefe, kann durch die Betreuung seitens des in Köln wohnenden und im Besitz eines Aufenthaltstitels befindlichen Bruders ..., der sich nach den Angaben und auch dem vermittelten Eindruck in der mündlichen Verhandlung intensiv um den Kläger kümmert, begegnet werden. Leben und Gesundheit des Klägers wären dagegen unzumutbar gefährdet, wenn der Kläger von seiner - soweit ersichtlich - einzigen Bezugsperson getrennt würde. [...]