OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 07.12.2010 - 12 B 3.08 - asyl.net: M18139
https://www.asyl.net/rsdb/M18139
Leitsatz:

Wird das Elternrecht für ein minderjähriges Kind durch gerichtliche Entscheidung auf einen Elternteil übertragen, so verbleiben dem anderen Elternteil nach Art. 77 Abs. 3, Art. 78 Abs. 3 des Familiengesetzes der Republik Serbien vom 24. Februar 2005 substantielle Mitentscheidungsrechte. Daraus folgt, dass keine alleinige Personensorge im Sinne von § 32 Abs. 3 AufenthG besteht.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Kindernachzug, Visumsverfahren, alleiniges Sorgerecht, Serbien, Sicherung des Lebensunterhalts
Normen: AufenthG § 32 Abs. 3, AufenthG § 104 Abs. 3, AufenthG § 6 Abs. 4, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 2 Abs, 3, RL 2003/86/EG Art. 4 Abs. 1 S. 1, EGBGB Art. 21
Auszüge:

[...]

2. Unabhängig davon sind die Tatbestandsvoraussetzungen des § 32 Abs. 3 AufenthG nicht erfüllt. Danach ist dem minderjährigen Kind eines Ausländers, welches das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, eine Aufenthaltserlaubnis als Visum zu erteilen, wenn beide Eltern oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis, eine Niederlassungserlaubnis oder eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG besitzen. Die Klägerin erfüllt zwar die gesetzliche Altersgrenze, weil sie bei Beantragung des Visums 15 Jahre alt war (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 7. April 2009, BVerwGE 133, 329, 332 Rn. 10; BVerwG, Urteil vom 1. Dezember 2009, Buchholz 402.242 § 32 AufenthG Nr. 5). Ihre Mutter verfügt auch über eine Niederlassungserlaubnis. Diese war jedoch im hier maßgeblichen Zeitraum nicht allein personensorgeberechtigt gemäß § 32 Abs. 3 AufenthG.

Alleinige Personensorge im Sinne von § 32 Abs. 3 AufenthG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c der Familienzusammenführungsrichtlinie (Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung, ABl. L 251/12) besitzt ein Elternteil nur, wenn dem anderen Elternteil bei der Ausübung des Sorgerechts keine substantiellen Mitentscheidungsrechte und -pflichten zustehen, etwa in Bezug auf Aufenthalt, Schule und Ausbildung oder Heilbehandlung des Kindes. Ob dies der Fall ist, richtet sich gemäß Art. 21 EGBGB nach dem Recht des Staates, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Eine analoge Anwendung des § 32 Abs. 3 AufenthG kommt in den Fällen eines geteilten Sorgerechts nicht in Betracht (vgl. zu alledem BVerwG, Urteil vom 7. April 2009, BVerwGE 133, 329 ff.; BVerwG, Urteil vom 1. Dezember 2009, Buchholz 402.242 § 32 AufenthG Nr. 5).

Gemessen daran standen dem Vater der Klägerin trotz der Sorgerechtsentscheidung des Amtsgerichts ... vom 27. Februar 2007 weiterhin substantielle Mitentscheidungsrechte und -pflichten zu. Dies betraf u.a. ihre Ausbildung, die Vornahme größerer medizinischer Eingriffe sowie die - hier beabsichtigte - Änderung des Wohnortes. Soweit das im vorliegenden Verfahren anzuwendende Familiengesetz der Republik Serbien vom 24. Februar 2005 (abgedruckt bei Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Serbien), das am 1. Juli 2005 in Kraft getreten ist, Anlass zu verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten geben könnte, sind diese jedenfalls durch das Rechtsgutachten des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht vom 20. August 2010 zu Lasten der Klägerin zu beantworten.

Die Vorschriften des serbischen Familiengesetzes 2005 (FamG), die sich auf die Ausübung des Elternrechts beziehen, sind u.a. in Art. 75 bis 78 FamG geregelt. Art. 75 sowie Art. 76 FamG betreffen die gemeinsame Ausübung des Elternrechts und Art. 77 sowie Art. 78 FamG dessen selbständige Ausübung. Hier hat sich das Amtsgericht Bogatic in seinem Urteil vom 27. Februar 2007 auf Art. 77 Abs. 3 FamG gestützt. Danach übt ein Elternteil das Elternrecht aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung selbständig aus, wenn die Eltern keine Lebensgemeinschaft führen und keine Vereinbarung über die Ausübung des Elternrechts getroffen haben.

Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung, die sich zu etwaigen Mitspracherechten des anderen Elternteils bei selbständiger Ausübung des Elternrechts verhält, findet sich in Art. 78 Abs. 3 FamG. Allerdings könnte man aufgrund des Wortlautes der Überschrift zu Art. 78 FamFG ("Vereinbarung über die selbständige Ausübung des Elternrechts", "Samostalno vršenje roditelijskog prava") zu dem Ergebnis gelangen, dass eine geteilte Sorge nicht bei gerichtlicher Übertragung des Elternrechts, sondern nur im Fall des Art. 77 Abs. 3 FamG besteht, d.h., wenn die Eltern eine Vereinbarung über die selbständige Ausübung des Elternrechts geschlossen haben und das Gericht feststellt, dass diese Vereinbarung im besten Interesse des Kindes ist. Dann sieht Art. 78 Abs. 3 FamG vor, dass derjenige Elternteil, der das Elternrecht nicht ausübt, das Recht und die Pflicht hat, Unterhalt für das Kind zu leisten, persönliche Beziehungen zu dem Kind zu unterhalten und gemeinsam und einvernehmlich mit dem Elternteil, der das Elternrecht ausübt, über die Fragen, die das Leben des Kindes wesentlich betreffen, zu entscheiden. Als solche Fragen sind gemäß Art. 78 Abs. 4 FamG vor allem anzusehen die Ausbildung des Kindes, die Vornahme größerer medizinischer Eingriffe, die Änderung des Wohnortes und die Verfügung über das Kindesvermögen von größerem Wert.

Wie die Rechtsauskunft des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht nachvollziehbar und überzeugend darlegt, gilt das in Art. 78 Abs. 3 FamG normierte geteilte Sorgerecht nicht nur bei einer Vereinbarung der Eltern über die Ausübung des Elternrechts, sondern ebenso bei dessen gerichtlicher Übertragung auf einen Elternteil. Das Gutachten stützt sich hierbei vor allem auf rechtswissenschaftliches Schrifttum, das nach Inkrafttreten des Familiengesetzes vom 24. Februar 2005 erschienen und von einer Hochschullehrerein und Verfassungsrichterin verfasst ist. Danach ist die die Frage, ob Art. 78 Abs. 3 FamFG auch bei gerichtlicher Sorgerechtsübertragung im Sinne von Art. 77 Abs. 3 FamFG anzuwenden ist, unstreitig zu bejahen. Die Vorschrift ist mithin hier anwendbar. Alleinige Personensorge eines Elternteils besteht nur dann, wenn dem anderen Elternteil das Recht auf Mitentscheidung im Sinne von Art. 82 Abs. 4 FamG entzogen wird.

Für dieses Ergebnis spricht im Übrigen auch die von dem Vater der Klägerin im Visumsverfahren abgegebene Erklärung vom 2. März 2007, wonach er sich mit einer Übersiedlung der Klägerin in die Bundesrepublik Deutschland ausdrücklich einverstanden erklärt hat. Eine derartige Erklärung, die dem Senat auch aus anderen Visumsverfahren, in denen es um den Kindernachzug serbischer Staatsangehöriger geht, bekannt ist, wäre sinnlos, wenn dem Vater nach der Übertragung des Elternrechts auf die Mutter der Klägerin keinerlei substantielle Mitbestimmungsrechte wie das hier betroffene Aufenthaltsrecht mehr zustünden.

Nach alledem entspricht das Familiengesetz der Republik Serbien vom 24. Februar 2005 hinsichtlich der Ausübung des Elternrechts der zuvor geltenden – eindeutigeren - Rechtslage. Gemäß Art. 126 des Gesetzes über die Ehe und die Familienbedingungen vom 22. April 1908 in der Fassung vom 30. Mai 1994 (abgedruckt bei Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Jugoslawien, 136. Lieferung) bestand die Pflicht zur einvernehmlichen Entscheidung in Fragen von wesentlicher Bedeutung bei selbständiger Ausübung des Elternrechts (Art. 124 Abs. 3) ausdrücklich sowohl dann, wenn die Eltern die alleinige Ausübung vereinbart hatten, als auch dann, wenn eine Entscheidung durch das Gericht getroffen worden war. [...]