LSG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30.11.2010 - L 34 AS 1501/10 B ER - asyl.net: M18133
https://www.asyl.net/rsdb/M18133
Leitsatz:

Verpflichtung zur vorläufigen Gewährung von Leistungen nach dem SGB II, gekürzt auf das Notwendige in Höhe von 85% der Regelleistung, für bulgarische Staatsangehörige, die in Deutschland zur Arbeitssuche ihren rechtmäßigen und gewöhnlichen Aufenthalt hat. Eilrechtsschutz war zu gewähren, da sich der Senat hinsichtlich der Frage, ob die Ausschlussnorm des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II europarechtskonform ist sowie der Vielfalt der hierzu vertretenen Meinungen in Literatur und Rechtsprechung nicht in der Lage sieht, zum jetzigen Zeitpunkt eine abschließende Aussage darüber zu treffen, ob ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II besteht oder nicht.

Schlagwörter: SGB II, Unionsbürger, Bulgarien, Freizügigkeitsbescheinigung, vorläufiger Rechtsschutz, einstweilige Anordnung, Regelleistung, gewöhnlicher Aufenthalt, rechtmäßiger Aufenthalt, Arbeitsgenehmigung, Aufenthalt zum Zweck der Arbeitssuche, Sozialhilfe, Arbeitnehmerbegriff
Normen: SGG § 86b Abs. 2 S. 2, SGB II § 7 As. 1 S. 2, GG Art. 19 Abs. 4, FreizügG/EU § 5, SGB I § 30 Abs. 3 S. 2, SGB III § 284, FreizügG/EU § 2, FreizügG/EU § 13, RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 2, RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 1, AEUV Art. 18, VO 883/2004/EG Art. 70
Auszüge:

[...]

Der Senat sieht sich hinsichtlich der Frage, ob die Ausschlussnorm des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II europarechtskonform ist sowie der Vielfalt der hierzu vertretenen Meinungen in Literatur und Rechtsprechung nicht in der Lage, zum jetzigen Zeitpunkt eine abschließende Aussage darüber zu treffen, ob ein Anordnungsanspruch besteht oder nicht. Es erscheint zumindest möglich, dass der Antragstellerin ein Recht auf Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes zusteht.

Der Antragstellerin sind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II auf Grund einer Folgenabwägung zu bewilligen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seiner Entscheidung vom 12. Mai 2005 (Az. 1 BvR 569/05, dokumentiert in Juris, weitere Fundstelle NVwZ 2005, 927 bis 929) ausgeführt, dass Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens stellt, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen könnten, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären (BVerfG, a.a.O., Juris Rn. 24). Das BVerfG führt weiter aus: "Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern" (vgl. BVerfG, a.a.O., juris Rn. 26).

Die Folgenabwägung im vorliegenden Fall geht zu Gunsten der Antragstellerin aus. Da sie nicht in der Lage ist, ihren Lebensunterhalt anderweitig zu sichern, sind die Nachteile, die ihr entstünden, wenn dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht nachgekommen würde, sehr viel gravierender als die Nachteile der öffentlichen Hand, die rein fiskalischer Natur sind und die entstehen, wenn der Antragstellerin vorläufig Leistungen zu bewilligen sind. [...]

Sie dürfte auch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. Nach § 30 Abs. 3 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Die Antragstellerin hat eine Wohnung in Berlin, also in Deutschland, sie hat nach ihren Angaben, an denen der Senat keinen Anlass zu Zweifeln hat, die Absicht, in der Bundesrepublik Deutschland zu bleiben. Bei Ausländern wird der Begriff des gewöhnlichen Aufenthaltes jedoch grundsätzlich durch rechtliche Voraussetzungen zertifiziert (vgl. Seewald in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 30 SGB I, Rn. 19), d.h., in der Regel kann ein gewöhnlicher Aufenthalt nur dort begründet werden, wo sich jemand rechtmäßig aufhält. Dies dürfte bei der Antragstellerin gegeben sein, da sie im Besitz einer Arbeitsgenehmigung-EU gemäß § 284 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) ist und in der Bundesrepublik Deutschland auf Arbeitsuche. Damit dürfte ein erlaubter Aufenthalt gemäß § 2 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU), zuletzt geändert durch Art. 7 des Gesetzes zur Änderung des Bundespolizeigesetzes und anderer Gesetze vom 26. Februar 2008, BGBl. I S. 215, vorliegen. Nach Absatz 1 dieser Vorschrift haben freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe dieses Gesetzes.

Gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU sind Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer, zur Arbeitsuche oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen, gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt. Der Senat geht davon aus, dass die Antragstellerin arbeitsuchend ist. Spätestens mit dem Antrag auf Bewilligung von Arbeitslosengeld II hat sie ihren Willen dokumentiert, in der Bundesrepublik Deutschland eine Beschäftigung aufzunehmen. Der Antragsgegner wäre auch gehalten, sie bei der Suche nach Arbeit zu unterstützen. § 13 FreizügG/EU, nach dem dieses Gesetz nicht anwendbar ist für (noch) nicht arbeitnehmerfreizügige Unionsbürger (für rumänische Staatsangehörige ist die Freizügigkeit gemäß des Vertrages zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der Republik Bulgarien und Rumänien über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union vom 25. April 2005 [BGBl. II Seite 1146] sowie der Mitteilung der Bundesrepublik Deutschland an die Europäische Kommission über die weitere Anwendung der Freizügigkeit rumänischer Staatsangehöriger einschränkender nationaler Maßnahmen vom 17. Dezember 2008, B Anz. Nr. 198 vom 31. Dezember 2008, Seite 4807, eingeschränkt), ist vorliegend nicht einschlägig, da die Antragstellerin über eine Arbeitsgenehmigung-EU verfügt. [...]

Das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin dürfte sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergeben. Anhaltspunkte dafür, dass sich ein Aufenthaltsrecht aus anderen Rechtsvorschriften ergibt, liegen nicht vor. Ob die Ausschlussnorm des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II europarechtskonform ist, ist höchst umstritten (vgl. zum Ganzen Schreiber, Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II auf dem gemeinschaftsrechtlichen Prüfstand, info also 2009, Seite 195; Husmann, Reaktionen in der Freizügigkeits-Richtlinie 2004/38 und im deutschen Sozialleistungsrecht auf die Rechtsprechung des EuGH, NZS 2009, 652; Hailbronner, Ansprüche nicht erwerbstätiger Unionsbürger auf gleichen Zugang zu sozialen Leistungen, ZFSH/SGB 2009, Seite 195; Spellbrink in Eicher/Spellbrink, Kommentar zum SGB II, 2. Aufl., § 7 Rn. 13ff und Brühl/Schoch, LPK-SGB II, 3. Aufl., § 7 Rn. 33ff). Von einer zumindest teilweisen Unvereinbarkeit mit Europarecht gehen u.a. das Bayerische Landessozialgericht aus (Beschluss vom 12. März 2008, Az. L 7 B 1104/07 AS ER, dokumentiert in juris) sowie das LSG Baden-Württemberg (Beschluss vom 25. August 2010, Az. L 7 AS 3769/10 ER-B, dokumentiert in juris). Die Entscheidung des EuGH auf die Vorlagebeschlüsse des Sozialgerichts Nürnberg (Urteil vom 4. Juni 2009, Az. C-22/08 und C-23/08, Vatsouras und Koupatantze, dokumentiert in juris sowie in SozR 4-6035 Art. 39 Nr. 5) hat diesbezüglich nicht sämtliche Fragen beantworten und Unklarheiten ausräumen können. Umstritten bleibt auch, ob Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (ABl. L 158/77; so genannte Unionsbürgerrichtlinie), die eine Abweichung vom Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie vorsieht, mit höherrangigem Europarecht vereinbar ist, insbesondere, ob er gegen den aus Art. 18 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union – AEUV - (früher Art. 12 des Vertrages über die Europäische Union- EV-) folgenden Gleichbehandlungsgrundsatz verstößt (vgl. hierzu auch Schreiber, a.a.O., Seite 197). Von Bedeutung ist diesbezüglich, ob das Arbeitslosengeld II als "Sozialhilfe" anzusehen ist. Ob der erkennende Senat an seiner dies bejahenden Rechtsprechung festhält (vgl. Beschluss vom 8. Juni 2009, Az. L 34 AS 790/09 B ER, dokumentiert in juris) muss zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantwortet werden; die hieran in Rechtsprechung und Literatur geäußerten Zweifel (vgl. z.B. Spellbrink, a.a.O., Rn. 18, der darauf hinweist, dass es lebensfremd und auch nicht zielführend wäre, den EU-Bürger über § 7 Abs. 1 Satz 2 nur von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts auszuschließen, ihm aber europarechtlich einen Anspruch auf Leistungen zur Eingliederung in Arbeit gemäß den §§14 ff SGB II einzuräumen, und Valgolio in Hauck/Noftz, Gesamtkommentar zum Sozialgesetzbuch, SGB II, § 7 Rn. 116 ff, der das Urteil des EuGH vom 4. Juni 2009, Az. C-22/08 so versteht, dass der EuGH angenommen hat, dass, da die Grundsicherungsleistung den Zugang zur Beschäftigung erleichtern solle, es sich nicht um Sozialhilfe im Sinne des § 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie handele) sind geeignet, im Rahmen der Folgenabwägung einen vorläufigen Anspruch der Antragsteller zu begründen, da es zum jetzigen Zeitpunkt durchaus möglich erscheint, dass nach (späterer) Rechtsprechung des Bundessozialgerichts oder des EuGH ein Anspruch besteht.

Zweifel daran, dass man das Arbeitslosengeld II als Sozialhilfe ansehen kann, was einen Leistungsanspruch ausschließen würde, ergeben sich für den Senat (auch) aus der Regelung des Art. 70 der zum 1. Mai 2010 in Kraft getretenen Verordnung - VO - (EG) Nr. 883/2004 (ABl. L 116 vom 30. April 2004), zuletzt geändert durch VO (EG) Nr. 988/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 (ABl. Nr. L 28443). Danach besteht Anspruch auf beitragsunabhängige Geldleistungen, zu denen nach dem Anhang X Deutschland b) auch Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts der Grundsicherung für Arbeitsuchende gehören; diese Leistungen sind nach Absatz 4 dieser Vorschrift lediglich nicht exportierbar. Es ist zwar fraglich, ob diese Vorschrift für die Antragstellerin anwendbar ist, da sie - möglicherweise - mangels Vorbeschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland nicht unter den Arbeitnehmerbegriff im Sinne der VO (EG) Nr. 883/2004 fällt, es stellt sich jedoch unter anderem die Frage, ob es nicht widersprüchlich ist, dass eine Leistung, auf die nach einer gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift ausdrücklich Anspruch besteht, bei der Auslegung einer anderen Vorschrift so verstanden werden kann, dass sie, da sie Sozialhilfe wäre, eigentlich ausgeschlossen wäre. Weiter stellt sich die Frage, ob eine Leistung, die den eigenen Staatsbürgern vorbehaltlos erbracht wird, Unionsbürgern anderer Mitgliedstaaten vorenthalten werden kann oder ob es sich um eine Diskriminierung allein aufgrund der Staatsangehörigkeit handelt.

Nach alledem ist es möglich, dass der Antragstellerin ein Anspruch auf Bewilligung von Arbeitslosengeld II zusteht.

Die Gewährung von Leistungen war angesichts der Vorläufigkeit des Beschlusses auf das Notwendige zu beschränken, so dass eine Kürzung der Regelleistung auf 85% vorzunehmen war. Weiter war die Gewährung von Leistungen, um den Wegfall anspruchsbegründender Elemente überprüfen zu können, auf ein halbes Jahr seit Beschlussfassung zu begrenzen. [...]