VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 07.01.2011 - 21 K 530.10 - asyl.net: M18132
https://www.asyl.net/rsdb/M18132
Leitsatz:

In der Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte wird teilweise vertreten, dass bei türkischen Daueraufenthaltsberechtigten ein Verlust des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts nur bei einer Abwesenheit von zwei aufeinanderfolgenden Jahren eintritt, teilweise, dass regelmäßig bereits nach sechsmonatiger Abwesenheit ein erheblicher Zeitraum vorliegt, bei dem der Integrationszusammenhang verloren geht. Jedenfalls tritt ein Erlöschen des Aufenthaltsrechts stets ein, wenn eine Abwesenheit von zwei aufeinanderfolgenden Jahren vorliegt, unabhängig vom Grund der Abwesenheit. Eine kurzfristige Rückkehr in den Aufnahmemitgliedstaat kann ein Erlöschen nicht verhindern, wenn durch die Rückkehr der zuvor bekundete Wille, die Bundesrepublik auf Dauer zu verlassen, nicht in Frage gestellt wird (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28.9.2010 - 11 B 14.10 -, asyl.net, M17813).

Schlagwörter: Assoziationsberechtigte, Aufenthaltsrecht, Erlöschen, Aufenthaltserlaubnis, türkische Staatsangehörige, Unterbrechung,
Normen: AufenthG § 4 Abs. 5, AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 5, AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 6, ARB 1/80 Art. 7 S. 1, RL 2004/38/EG Art. 16 Abs. 3, RL 2004/38/EG Art. 16 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Die Klage – die sich nur auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige und nicht auf Erteilung eines (bei der Ausländerbehörde auch nicht beantragten) Aufenthaltstitels aus humanitären oder familiären Gründen richtet – ist unbegründet. Der Bescheid des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten vom 22. Oktober 2010 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, weil der Kläger keinen Anspruch auf Ausstellung der begehrten Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes in der Neufassung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert mit Gesetz vom 30. Juli 2009 (BGBl. I S. 2437) – AufenthG –, hat (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). [...]

2. Der Kläger, der 1975 als Sohn türkischer Arbeitnehmer in die Bundesrepublik Deutschland gekommen ist, hat zwar in der Folge ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erworben. Jedoch ist dieses Aufenthaltsrecht durch seine Rückkehr in die Türkei verloren gegangen. Gleiches gilt für seine Familie.

Vom Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) anerkannt sind nur zwei Arten von Beschränkungen, die zum Verlust der Rechte aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 führen: Zum einen ermöglicht Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 den Mitgliedstaaten, in Einzelfällen bei Vorliegen triftiger Gründe den Aufenthalt des Familienangehörigen in ihrem Hoheitsgebiet zu beschränken, wenn dieser durch sein persönliches Verhalten die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit tatsächlich und schwerwiegend gefährdet. Zum anderen verliert der Familienangehörige seine Rechte aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80, wenn er den Aufnahmemitgliedstaat für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlässt (vgl. EuGH, Urteile vom 18. Dezember 2008, Rs. C-337/07 (Altun) und vom 4. Oktober 2007, Rs. C-349/06 (Polat), jeweils Juris m.w.N.; vgl.a. BVerwG, Urteil vom 30. April 2009 – 1 C 6.08 – Juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Mai 2010 – 12 B 26.09 – Juris). Hinsichtlich der Auslegung der Rechte aus Art. 6 und Art. 7 ARB 1/80 und ihrer Verlustgründe verweist der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung darauf, dass entsprechende Regelungen, die im Bereich der Freizügigkeit für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen gelten, soweit wie möglich auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige zu übertragen sind (vgl. EuGH, Urteile vom 11. November 2004, Rs. C-467/02 (Cetinkaya), und vom 10. Februar 2000, Rs. C-340/97 (Nazli), jeweils Juris; vgl.a. die Übersicht zur EuGH-Rechtsprechung bei Armbruster, HTK-AuslR, ARB 1/80, Stand: 7/2010, Art. 7). Nach Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 wird die Kontinuität des Aufenthalts von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen weder durch vorübergehende Abwesenheiten von bis zu insgesamt sechs Monaten im Jahr noch durch längere Abwesenheiten wegen der Erfüllung militärischer Pflichten oder durch eine einzige Abwesenheit von höchstens 12 aufeinanderfolgenden Monaten aus wichtigen Gründen berührt. Steht dem Unionsbürger oder seinen Familienangehörigen ein Recht auf Daueraufenthalt zu, führt nur die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat, die zwei aufeinanderfolgende Jahre überschreitet, zu einem Verlust der erworbenen Rechtsstellung (Art. 16 Abs. 4 der Richtlinie). Die Rechtsstellung der durch den Assoziationsratsbeschluss Begünstigten wird dabei im Hinblick auf den in Art. 16 Abs. 4 der Richtlinie festgelegten zeitlichen Rahmen durch das Besserstellungsverbot des Art. 59 ZP nach oben hin begrenzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. April 2009, a.a.O., Rdnr. 27). Diese Vorschrift bestimmt, dass der Türkei (hier: türkischen Arbeitnehmern und ihren Familienangehörigen) in den durch das Zusatzprotokoll erfassten Bereichen (hier: Freizügigkeit der Arbeitnehmer) keine günstigere Behandlung gewährt werden darf als diejenige, die sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft untereinander einräumen.

Dementsprechend hat das Bundesverwaltungsgericht zur Konkretisierung des Verlustgrundes die für Unionsbürger geltenden Bestimmungen der Richtlinie 2004/38/EG als "Orientierungsrahmen" herangezogen (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. April 2009, a.a.O.). In der Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte wird dabei teilweise vertreten, dass bei türkischen Daueraufenthaltsberechtigten ein Verlust nur bei einer Abwesenheit von zwei aufeinanderfolgenden Jahren eintreten soll (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Mai 2010, a.a.O., und VGH München, Beschluss vom 15. Oktober 2009 – 19 CS 09.2194 – Juris), teilweise dass regelmäßig bereits nach sechsmonatiger Abwesenheit ein erheblicher Zeitraum vorliegen soll, bei dem der Integrationszusammenhang verloren geht (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 30. März 2010 – 18 B 111/10 – Juris Rdnr. 16). Selbst wenn die Richtlinie 2004/38/EG "eins zu eins" übertragen wird, tritt ein Erlöschen jedenfalls stets ein, wenn eine Abwesenheit von zwei aufeinanderfolgenden Jahren vorliegt, unabhängig von dem Grund der Abwesenheit. Außerdem ergibt sich aus Sinn und Zweck des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80, dass kurzfristige Unterbrechungen der Abwesenheit das Erlöschen der Rechte aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 nicht hindern. Denn für die aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 abgeleiteten Rechte gilt, dass sie sich nach ihrer Entstehung aus der Abhängigkeit von der beschäftigungsbezogenen Rechtsstellung des Stammberechtigten lösen und der sukzessiven Integration der Familienangehörigen in den Mitgliedstaat dienen sollen. Daraus folgt, dass die aus dem ARB abgeleiteten Rechte letztlich immer in einer Wechselbeziehung zu einem auf Dauer beabsichtigten Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland stehen. Ist ein solcher nicht mehr gewollt und manifestiert sich dieser Wille in einer mehr als 6 Monate bzw. mehr als 2 Jahre dauernden Abwesenheit vom Bundesgebiet, erlöschen die Zielsetzung des ARB und der daraus abgeleiteten Rechtspositionen. Für die Frage der Erforderlichkeit einer ununterbrochenen Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat bedeutet dies aber umgekehrt, dass eine kurzfristige Rückkehr des assoziationsberechtigten türkischen Arbeitnehmers in den Aufnahmemitgliedstaat dann ein Erlöschen seiner aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 abgeleiteten Aufenthaltsrechte nicht verhindern kann, wenn durch die Rückkehr ein zuvor bekundeter Wille, die Bundesrepublik Deutschland auf Dauer zu verlassen, nicht in Frage gestellt wird (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28. September 2010 – 11 B 14.10 – Juris Rdnr. 22 zu § 51 I Nr. 7 AufenthG).

An diesen Vorgaben gemessen ist das Recht des Klägers sowie seiner Familie aus Nr. 7 Satz 1 ARB 1/80 erloschen. Denn der Kläger wie auch seine Familie sind zur Überzeugung des Gerichts mehr als sechs Jahre und damit mehr als zwei Jahre vom Bundesgebiet abwesend gewesen. Die behaupteten, aber durch nichts belegten zwischenzeitlichen Besuchsaufenthalte würden – selbst wenn sie erfolgt sein sollten – dem Erlöschen der Rechte aus Nr. 7 Satz 1 ARB 1/80 nicht entgegenstehen.

Die Feststellung, dass der Kläger und seine Familie mehr als zwei (bzw. sechs) Jahre vom Bundesgebiet abwesend gewesen sind, ergibt sich schon aus der eigenen Einlassung des Klägers und seiner Familie. Der Kläger – der bereits mit dem Antrag bei der Härtefallkommission und beim Petitionsausschuss erklärt hatte, die Familie habe "einige Jahre" in der Türkei gelebt – hat mit der Klagebegründung eingeräumt, von 2002 bis 2008 für "längere Zeiträume" in der Türkei gelebt zu haben. Bei seiner Vorsprache bei der Ausländerbehörde im März 2009 hatte er zudem auf die Frage, wo die Familie sich seit Oktober 2001 bzw. Mai 2002 aufgehalten habe, angegeben, sie seien in der Türkei gewesen. Dies bestätigen die Meldeverhältnisse, da der Kläger und seine Familie seit Oktober 2001 bzw. Mai 2002 nicht mehr in Berlin gemeldet waren und sich erst im August 2008 – also nach mehr als 6 Jahren – wieder angemeldet haben. Ein weiterer Beleg hierfür sind die Grenzübertrittsstempel im Pass der Ehefrau der Klägerin, weil danach eine Ausreise aus der Türkei zuletzt im Jahr 2000 und dann erst wieder im Jahr 2008 erfolgt ist. [...]

Im Übrigen sind zwischenzeitliche Aufenthalte im Bundesgebiet auch deswegen nicht anzunehmen, weil der Kläger und seine Familie für das Weiterbestehen bzw. Nichterlöschens des Rechts aus Nr. 7 Satz 1 ARB Nr. 1/80 die Beweislast tragen (vgl. EuGH, Urteil vom 16. März 2000, Rs. C-329/07 (Ergat) Juris; Armbruster, a.a.O.; hierfür sprechen auch die vergleichbaren Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichts mit Urteil vom 29. September 2010 – 5 C 20.09 – Seite 12 des Urteilsabdruckes, zum Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit) und dieser mangels Vorlage von Nachweisen nicht genügt haben.

Selbst wenn zwischenzeitliche Besuchsaufenthalte unterstellt werden, stünde diese dem Erlöschen des Rechts aus Nr. 7 Satz 1 ARB 1/80 nicht entgegen (vgl. hierzu auch OVG Lüneburg, Beschluss vom 11. Januar 2008 – 11 ME 418/07 – Juris Rdnr. 7; OVG Saarlouis, Beschluss vom 9. November 2009 – 2 B 449/09 – Juris Rdnr. 15; OVG Koblenz, Beschluss vom 29. Juni 2009 – 7 B 10454/09 – Juris Rdnr. 9; Gutmann, GK-AufenthaltG, Stand: Oktober 2010, IX-2 § 4 a Rdnr. 57 f. zu § 4 a VII FreizügG/EU). Denn mit diesen Aufenthalten im Bundesgebiet hätten der Kläger und seine Familie den zuvor durch ihr Verhalten bekundeten Willen, die Bundesrepublik Deutschland auf Dauer verlassen zu wollen, nicht objektiv erkennbar revidiert. Die Abwesenheitszeit von zwei aufeinanderfolgenden Jahren kann dementsprechend nicht dadurch unterbrochen werden, dass Ausländer kurzfristig in das Bundesgebiet zurückkehrt und danach zur Verfolgung desselben Zwecks wie zuvor wieder ausreist (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28. September 2010, a.a.O.). Dies gilt umso mehr, als der Kläger mit den – unterstellten – Aufenthalten allein die Verhinderung des Erlöschens seines Aufenthaltsrechts bezweckt hätte, wie sich aus seinen Angaben gegenüber der Ausländerbehörde bei der Vorsprache am 12. März 2009 ergibt, wonach sie immer vor Ablauf der sechs Monate – diese Frist knüpft an die entsprechende Erlöschensfrist des Ausländergesetzes bzw. Aufenthaltsgesetzes an – für zwei bis drei Wochen nach Deutschland gekommen seien.

Auf die vom Kläger und seiner Familie geltend gemachten Gründe für ihre Abwesenheit vom Bundesgebiet kommt es nicht an. Wie oben ausgeführt, tritt nach Nr. 16 Nr. 4 der Richtlinie ein Erlöschen unabhängig von den Gründen für die mehr als zwei Jahre dauernde Abwesenheit ein, und dürfen türkische Staatsangehörige wegen des Besserstellungsverbots des Nr. 59 des Zusatzprotokolls zum Assoziationsratsabkommens EWG/Türkei nicht günstiger gestellt werden.

Im Übrigen war die langjährige (und nicht unerhebliche) Abwesenheit des Klägers (und seiner Familie) vom Bundesgebiet nicht von "berechtigten Gründen" im o.g. Sinne getragen. Wie das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 30. April 2009 (a.a.O.) unter Darlegung der Rechtsprechung des EuGH ausgeführt hat, ist selbst ein (in jenem Fall) sechsjähriger Auslandsaufenthalt aufgrund einer letztlich nicht mehr vom eigenen Willen abhängigen langjährigen Inhaftierung, die Folge einer zur Verbrechensbegehung erfolgten Ausreise war, geeignet, die Integration eines Familienangehörigen grundlegend in Frage zu stellen und führt auch zum Verlust des bisherigen Aufenthaltsrechts. Die diesem Urteil zugrunde liegende Entscheidung des OVG Münster vom 27. März 2008 – 11 LB 203.06 – (Juris) führt zutreffend ferner aus, neben den in der Entscheidung des EuGH in der Sache "Kadiman", auf die alle späteren Urteile verweisen, zitierten Beispielen (auf eine angemessene Zeitspanne angelegte Urlaubsaufenthalte oder Besuche der Familie im Heimatland) seien auch in der Literatur als Fälle "berechtigter Gründe" nur solche aufgeführt, wo der weitere Aufenthalt im Ausland "nicht vom eigenen Willen abhängig war (z.B. Erkrankung, Unfall, Naturereignisse)". Um einen solchen Fall handelt es sich hier jedoch nicht (vgl. ebenso zu einer fünfjährigen Abwesenheit wegen Schulbesuchs in der Türkei OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. Juni 2010 – OVG 11 S 28.10 – Juris Rdnr. 7). Der Kläger und seine Familie haben sich nach ihren eigenen Angaben – spätestens 2002 – wieder in ihrem Heimatland niedergelassen, weil sie zur Loslösung vom kriminellen Umfeld, in dem der Kläger sich bewegt hatte, "Abstand" gewinnen wollten. Damit kann von einem "erzwungenen" bzw. vom eigenen Willen unabhängigen Wegzug in die oder Verbleib in der Türkei keine Rede sein. Vielmehr wollten sich der Kläger und seine Familie bewusst von Deutschland fernhalten. Auch der mit dem – von Rechtsanwalt C.F. vom Migrationsrat und zugleich Mitglied der Härtefallkommission gestellten – Antrag beim Petitionsausschuss vom 14. Dezember 2009 erstmals nachgeschobene Grund für die Rückkehr in die Türkei – weil er in Berlin über Jahre hinweg immer stärker in Alkohol- und Drogenabhängigkeit geraten sei und drei erfolglose Entziehungsanläufe gemacht habe– würde keinen "erzwungenen" bzw. von eigenem Willen unabhängigen Grund darstellen; abgesehen davon fehlt für das Vorbringen jegliche Substanziierung. Gleiches gilt auch für das weitere Vorbringen, während ihres Aufenthaltes in der Türkei sei die Mutter der Ehefrau des Klägers erkrankt und habe bis zu ihrem Tod ihrer Pflege bedurft. [...]