Kein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung. Wegen Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Reformen kann einem politisch Vorverfolgten, der im Westen der Türkei in den konkreten Verdacht der Unterstützung der PKK geraten ist, nicht angsonnen werden, den Schutz des türkischen Staates in Anspruch zu nehmen, selbst wenn nach den eingeholten Auskünften keine Festnahme mit Misshandlungen unmittelbar bei der Einreise droht. Unabhängig davon ist dem Kläger eine Rückkehr in die Türkei unzumutbar, da er aufgrund der 1999 in der Türkei erlittenen Misshandlungen bis heute psychische Beschwerden hat.
---
Anmerkung der Redaktion: Die Entscheidung ist nach Auskunft des Einsenders RA Günter Fuchs rechtskräftig.
---
[...]
Im vorliegenden Fall liegen die Voraussetzungen für einen Widerruf der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG nicht vor (1). Darüber hinaus ist dem Kläger auch die Rückkehr in die Türkei unzumutbar i.S.d. § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG (2). [...]
Im vorliegenden Fall ist der Kläger vorverfolgt ausgereist. Es ist rechtskräftig und somit für das Gericht bindend festgestellt, dass er im Jahr 1999 in Istanbul in den Verdacht geraten ist, Personen für die PKK rekrutiert zu haben, und dass er deswegen Verhaftung und Anklage wegen Unterstützung der PKK befürchten musste. Des Weiteren steht fest, dass der Kläger im Frühjahr 1999 anlässlich einer Demonstration ebenfalls in Istanbul festgenommen und misshandelt wurde. Vor diesem Hintergrund kann derzeit noch nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz der Türkei in Anspruch zu nehmen.
Dabei ist zum einen die allgemeine Situation in der Türkei zu berücksichtigen, bei der die Menschenrechtslage sich seit dem hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung im Verfahren A 5 K 11418/02, dem 16.04.2002, zwar verbessert hat, ohne dass jedoch die Gefahr von Verfolgungshandlungen i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 9, 10 Qualifikationsrichtlinie in jedem Einzelfall weggefallen ist. So ist es in der Türkei seit 2002 zwar zu weitreichenden gesetzgeberischen Neuerungen gekommen, die zu einer deutlichen Verbesserung der Rechtslage geführt haben. In diesem Zusammenhang kann auf das Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 09.02.2006 - A 12 S 1505/04 - verwiesen werden (vgl. auch AA, Lagebericht vom 11.04.2010). Diese Reformen sind allerdings nicht in vollem Umfang in die Praxis umgesetzt worden.. So kommt es immer noch zur Folter durch Sicherheitskräfte. Dementsprechend führt das Auswärtige Amt aus, es sei bislang nicht gelungen, Folter und Misshandlungen vollständig zu unterbinden (AA, Lagebericht vom 11.04.2010). Auch anderen Quellen kann entnommen werden, dass die Folter nach wie vor ein Problem darstellt (Europäische Kommission, Fortschrittsbericht 2009, zitiert nach UK Border Agency, Country of Origin Report, Turkey, 09.08.2010, Rnr. 8.23; US State Department, Human Rights Report, Turkey, 2009; Section 1c unter Berufung auf verschiedene Menschenrechtsorganisationen; ai an VG Arnsberg v. 09.03.2010 und Amnesty Report Türkei 2010; Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Türkei, Risiken bei der Rückkehr eines verurteilten PKK-Mitglieds, 26.03.2010; Human Rights Watch [HRW], Universal Periodic Review: Turkey, 15.11.2009). Auch wenn die Praxis der Folter gegenüber den 1990er Jahren deutlich zurückgegangen ist (ai an VG Arnsberg v. 09.03.2010), werden von verschiedenen Menschenrechtsorganisationen immer noch Fälle der Folter registriert, wobei die Zahlen schwanken (252 im Jahr 2009 bis Ende November [AA, Lagebericht unter Berufung auf die Menschenrechtsstiftung der Türkei TIHV]; 655 Fälle von Januar bis September 2009 [Menschenrechtsverein IHD zitiert nach US State Dept., Human Rights Report, Turkey 2009]). Zwar erhalten die Polizei, die Jandarma und Militärpersonen mittlerweile auch ein Training zum Thema "Menschenrechte" (US State Dept., a.a.O., Section 1d). Das stellt zwar eine sinnvolle Maßnahme bei der Bekämpfung der Folter dar, hat aber bislang angesichts der weiterhin registrierten Fälle der Folter noch nicht den erwünschten Erfolg erzielt. [...]
Auch in anderer Hinsicht sind die Reformen noch nicht hinreichend umgesetzt. So wurde mittlerweile das Recht auf sofortigen Zugang zu einem Rechtsanwalt innerhalb von 24 Stunden nach einer Festnahme gewährleistet. Das Antiterrorgesetz (ATG) sieht eine Ausweitung dieser Frist auf bis zu 48 Stunden vor und senkt die Verfahrensgarantien für Personen ab, die terroristischer Straftaten beschuldigt werden. insbesondere im Südosten der Türkei werden Fälle mit Bezug zur angeblichen Mitgliedschaft in der PKK oder deren zivilen Arm zunehmend als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Anwälte werden vereinzelt daran gehindert, bei Befragungen des Klienten anwesend zu sein. Das gilt insbesondere in Fällen mit dem Verdacht auf terroristische Aktivitäten (AA, Lagebericht v. 11.04.2010; US State Department, a.a.O., Section 1d "Arrest and Attention"). Auch die Fristen, innerhalb derer Inhaftierte dem Haftrichter vorgeführt werden müssen, werden in der Praxis wohl häufig überschritten (AA, Lagebericht vom 11.04.2010).
Hinsichtlich der Meinungsfreiheit wurden Fortschritte erreicht (US State Dept. a.a.O., Einführung), so ist die Debatte zunehmend offen und kritisch (HRW, Universal Periodic Review, Turkey, 15.11.2009). Dennoch wird die Meinungsfreiheit immer noch durch verschiedene Gesetze eingeschränkt (AA, Lagebericht vom 11.04.2010). Zwar können nach der Reform des umstrittenen Art. 301 tStGB (früher: "Beleidigung des Türkentums") entsprechende Ermittlungen nur noch mit Zustimmung des Justizministers aufgenommen werden (AA, Lagebericht vom 11.04.2010; US State Dept. a.a.O., Section 2a); diese wurde im Jahr 2009 in den meisten Fällen verweigert (AA, Lagebericht vom 11.04.2010; Amnesty Report 2010). Andere strafrechtliche und zivilrechtliche Bestimmungen werden jedoch in die Meinungsfreiheit beschränkender Weise ausgelegt (AA, Lagebericht vom 11.04.2010). So wurde der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD in Adana zu drei Jahren Haft verurteilt, weil er unter der Bevölkerung Feindseligkeit und Hass geschürt habe. Er hatte die Behörden kritisiert, weil sie 2008 mehr als 100 Kinder wegen ihrer Teilnahme an einer Demonstration inhaftiert und ihren Familien Sozialleistungen im Bereich Gesundheit gestrichen hatten. Das Berufungsverfahren ist noch anhängig (Amnesty Report Türkei 2010). Anders als vom Kläger vorgetragen, ist die Presse frei von staatlicher Kontrolle und es gibt hunderte privater Zeitungen über das ganze politische Spektrum (US State Dept., a.a.O., Section 2a). Insgesamt berichtet die Presse freier und kritischer als in der Zeit vor 2005 (AA, Lagebericht vom 11.04.2010). Andererseits werden unter Verweis auf die "Bedrohung der nationalen Sicherheit" und die "Gefährdung der nationalen Einheit" - teilweise wiederholt - vor allem kurdische Zeitungen phasenweise oder vollständig verboten (Lagebericht AA vom 11.04.2010).
Es sind weiterhin noch Spannungen in den kurdisch geprägten Regionen im Südosten zu verzeichnen (AA, Lagebericht vom 11.04.2010). Zwar verliefen die Newrozveranstaltungen im Jahr 2009 mit wenigen Ausnahmen friedlich (AA, Lagebericht vom 11.04.2010). Auch gibt es nunmehr kurdischsprachiges Fernsehen (AA, Lagebericht vom 11.04.2010; US State Dept., a.a.O., Section 2a). Andererseits verhindert die verfassungsrechtliche Festschreibung von Türkisch als einziger Nationalsprache und das damit einhergehende Verbot für Parteien und Behörden, eine andere Sprache als Türkisch zu verwenden, die politische Betätigung von Kurden und die Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen (AA, Lagebericht vom 11.04.2010). Die von der Regierung im Sommer 2009 verkündete Politik der "Demokratischen Öffnung" könnte zwar die Situation entscheidend verbessern (HRW, Universal Periodic Review: Turkey 2009 vom 15.11.2009), stellt derzeit jedoch lediglich eine mittelfristige Perspektive dar, da sie noch davon abhängt, dass die "mächtigen Beharrungskräfte" im Oppositionslager sowie in Militär, Justiz und Polizei mitziehen (AA, Lagebericht vom 11.04.2010).
In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass die PKK bis in die jüngste Vergangenheit hinein Anschläge ausgeführt hat und es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit den türkischen Sicherheitskräften gekommen ist. [...]
Vor diesem Hintergrund kann einem politisch Vorverfolgten, der im Westen der Türkei in den konkreten Verdacht der Unterstützung der - nach wie vor aktiven - PKK geraten ist, nicht angesonnen werden, den Schutz der Türkei in Anspruch zu nehmen. Auch wenn ausweislich der eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amts davon auszugehen ist, dass derzeit kein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren und kein Strafverfahren gegen den Kläger anhängig ist, ist davon auszugehen, dass er jedenfalls den Polizeibehörden in Istanbul bekannt ist. Selbst wenn nach den eingeholten Auskünften bei seiner Einreise selbst keine Festnahme mit Misshandlungen droht (vgl. auch AA, Lagebericht vom 11.04.2010 dazu, dass keine Fälle von Misshandlungen von Rückkehrern bekannt sind), so genügt das angesichts der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 11 Qualifikationsrichtlinie nicht. Vielmehr müssen die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können. Bei einer Person, die sich einer Verhaftung wegen des Verdachts einer Unterstützung der PKK nur durch Flucht entziehen konnte, kann das derzeit noch nicht angenommen werden. Dabei fällt insbesondere ins Gewicht, dass die Türkei zwar - wie oben dargelegt - durchaus rechtliche Schritte unternommen hat, um der Gefahr der Folter zu begegnen, diese aber noch nicht hinreichend erfolgreich sind. Des Weiteren fällt ins Gewicht, dass die PKK von den Sicherheitskräften aufgrund ihrer oben dargelegten Aktivitäten nach wie vor als (einer der maßgeblichen) Staatsfeind(e) angesehen wird und dass der Kläger nicht lediglich in einen nicht weiter konkretisierten, pauschalen Verdacht geraten war, in den typischerweise nahezu sämtliche kurdischen Bewohner der Dörfer im kurdischen Siedlungsgebiet während der Zeit der intensiven Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den Sicherheitskräften geraten sind. Im Übrigen hat auch Kaya in einer Auskunft an das OVG Mecklenburg-Vorpommern vom 14.06.2010 ausgeführt, es gehöre zur Methodik der Sicherheitskräfte in der Türkei, dass Personen bei Verhören physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt sind und schlecht behandelt werden und dass der im Strafrecht im allgemeinen gültige Grundsatz der Unschuldsvermutung bei der türkischen Polizei und Jandarma keine Beachtung findet.
(2) Unabhängig davon ist im vorliegenden Fall der Widerruf auch im Hinblick auf § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG rechtswidrig. § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG enthält eine einzelfallbezogene Ausnahme von der Beendigung der Flüchtlingseigenschaft, die unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen von Satz 1 der Vorschrift gilt. Danach ist von einem Widerruf dann abzusehen, wenn sich aus dem konkreten Flüchtlingsschicksal besondere Gründe ergeben, die eine Rückkehr unzumutbar erscheinen lassen. Maßgeblich sind somit Nachwirkungen früherer Verfolgungsmaßnahmen, ungeachtet dessen, ob diese abgeschlossen sind und sich aus ihnen für die Zukunft keine Verfolgungsgefahr mehr ergibt. Der Rückkehr in den Heimatstaat müssen (gegenwärtige) zwingende Gründe entgegenstehen (d.h. eine Rückkehr muss unzumutbar sein). Diese Gründe müssen außerdem auf einer früheren Verfolgung beruhen. Zwischen der früheren Verfolgung und der Unzumutbarkeit der Rückkehr muss daher bereits nach dem Wortlaut der Bestimmung ein kausaler Zusammenhang bestehen (BVerwG, Urt. v. 01.11.2005, a.a.O.; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 04.05.2006 = A 2 S 1122/05 - Juris). § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG trägt der psychischen Sondersituation solcher Personen Rechnung, die ein besonders schweres, nachhaltig wirkendes Verfolgungsschicksal erlitten haben und denen es deshalb selbst eine Zeit danach, auch ungeachtet veränderter Verhältnisse, nicht zumutbar ist, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 21.06.2006 - A 2 S 571/05 - Juris und Urt. v. 04.05.2006, a.a.O.).
Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Der Kläger hatte im Asylerstverfahren geschildert, anlässlich einer Demonstration an Newroz 1999 festgenommen und - bevor er zur Wache verbracht wurde - von Polizeibeamten vom Ort der Demonstration weggeschleift und abseits geschlagen worden zu sein "als ob sie mich töten wollten". Des Weiteren habe man versucht, ihm Drogen bzw. eine "Bombe" in die Tasche zu stecken, wogegen er sich heftig gewehrt habe, weil er Angst gehabt habe, dann unter dem Vorwand einer ihm zu Unrecht unterstellten Straftat umgebracht zu werden. Dieser Vortrag wurde im Urteil des VG Freiburg vom 16.04.2002 als glaubhaft angesehen und rechtskräftig festgestellt. Die Verfolgungsmaßnahme erschöpfte sich nicht in Schlägen, wobei auch solche je nach ihrer Intensität schwerste Verletzungen verursachen können, sondern ging angesichts der vom Kläger geschilderten besonderen Umstände mit einer - jedenfalls subjektiv empfundenen - Todesgefahr einher. Des Weiteren hat der Kläger bereits nach seiner Ankunft in Deutschland unter psychischen Beschwerden gelitten, die seinerzeit als eine posttraumatische Belastungsstörung und eine längere depressive Reaktion auf eine Belastungssituation diagnostiziert wurden (vgl. Attest von ... vom 25.02.2002; VAS 89). Er leidet auch derzeit unter psychischen Beschwerden, die durch ärztliche Atteste (von Dr. med. ... v. 11.06.2010 und von Dr. ... vom 10.07.2010) belegt werden. Die Kammer hat keinen Zweifel, dass das Verfolgungsgeschehen zumindest mitursächlich für diese Beschwerden ist. Lediglich ergänzend ist darauf zu verweisen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG sich wesentlich von der Frage des Vorliegens von krankheitsbedingten Abschiebungsverboten im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AsylVfG unterscheiden (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 05.11.2007 - A 6 S 1097/05 - Juris). [...]